Mentzel-Reuters über Rieger: Phantasmagorie der Bibliotheken

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Arno Mentzel-Reuters

Phantasmagorie der Bibliotheken

  • Dietmar Rieger: Imaginäre Bibliotheken. Bücherwelten in der Literatur. München: Fink 2002. 389 S. Kart. EUR (D) 46,90.
    ISBN 3-7705-3679-7.


Diese im Rahmen des Gießener Sonderforschungsbereiches "Erinnerungskulturen" entstandene Studie ist zwar schwerpunktmäßig literarischen Werken der Romanistik gewidmet, geht aber an vielen Stellen über die engeren Fachgrenzen hinaus und verdient zweifelsfrei größere Beachtung auch in anderen Neuphilologien und in ihrem ersten Drittel auch in der Mediävistik. Rieger möchte die literarische "Imagination der Bibliothek" (S. 31) seit dem Spätmittelalter bis hart an die Gegenwart – er endet bei Anatole France (1844–1924) und Carlo Cassola (1917–1987) 1 – untersuchen. Er ist sich durchaus bewußt, daß diese "der Realität des Wissens, zum großen Teil aber auch der Realität der Bibliothek hinterherhinkt" (S. 31). Dieses Phänomen sucht Rieger mit dem Begriff der >Subversion< zu erfassen, wobei aber der Zusammenhang: was oder wer was oder wen "subvertiert"? während der gesamten Darstellung diffus bleibt.

Das Werk ist voller hochinteressanter Hinweise und Gegenüberstellungen, die vielleicht sogar gerade dem Nicht-Romanisten neue Bezüge eröffnen können. Es mangelt ihm jedoch an einer gedanklichen Systematik, insbesondere an einer Definition des eigentlichen Gegenstandes der Untersuchung; allzu oft werden pauschale Begriffe verwendet, die Ungleiches gleichartig erscheinen lassen. So trennt Rieger nicht zwischen Nachlaß, Bibliothek und Bibliographie. 2
>Die Bibliothek< bleibt ein gelegentlich fast mythisch anmutendes diffuses Synonym für >Sammlung von Büchern<: teils sind die Bücher darin, teils die in den Büchern enthaltenen Texte gemeint, nie aber die Organisationseinheit, nicht das Haus, nicht der Wirkungs- oder Arbeitsplatz von Sammlern, Lesern, Forschern oder Bibliothekaren. Etat- und Katalogfragen kennt >die Bibliothek< ebensowenig wie sie eine Geschichte zu haben scheint; ganz zu schweigen davon, daß Verleger und Buchhändler die europäischen >Bücherwelten< oft stärker geprägt haben (sie fehlen in der Monographie ganz).

So läßt sich der hoch ambitionierte Autor die Gelegenheit entgehen, ein bedeutendes literarisches Motiv in seiner Entwicklung durch die Jahrhunderte konzis abzuhandeln.

Kein guter Meister

Eine Einleitung (S. 11–30) erweist schon in ihrem Titel "La nostra biblioteca non è come le altre" Umberto Eco ihre Reverenz; unter den häufigen Bezügen auf die Kulturgeschichte schimmert unverkennbar der postmoderne Bibliotheksmythos durch, auch wenn auf die Behandlung der >Bibliothek von Babel< von Jorge Luis Borges bzw. Ecos so gänzlich ahistorischem >Aedificium< verzichtet wird. 3 Wenn auch die Darstellung nicht so mit Allmachtsphantasien durchsetzt ist wie bei Borges und anderen Bibliotheksphantasmagoren, 4 treten real existierende Bibliotheken selten ins Gesichtsfeld: "Fiktionale Bibliotheken sind in der Regel auch dann, wenn es sich um Fiktionalisierungen von realen Bibliotheken (...) handelt (...), auf die jeweilige zeitgenössische Bibliotheksrealität bezogen >subversive< und dabei häufig zugleich antizipatorische Bibliotheken" (S. 23). Möglicherweise handelt es sich hier um sprachliche Relikte der >Frankfurter Schule< bzw. von Herbert Marcuse. Doch vermeidet Rieger jeden direkten Hinweis und umgeht auch gänzlich die Frage der Verbindungen zwischen Herrschaft, Wirtschaftsmacht und Literatur bzw. Bibliothek. So liefert er – ungewollt – nachgerade eine Manifestation der Entfremdung und des "eindimensionalen Menschen".

Bibliothek und Wissenschaft, die doch eigentlich zusammengehören, passen nicht zueinander: Der Literaturwissenschaftler steht vor der Bibliothek (also außen), der Bibliothekar befindet sich darin. Der erstere spricht von Büchern und Bibliothek, wo er Texte meint, der zweite spricht von Büchern und Bibliothek, wo er Verwaltung meint. Buch und Bibliothek sind aber beides: Geist und Materie. Und beide organisieren sich dementsprechend nicht in abstrakten Ideen, sondern nach den jeweiligen Gegebenheiten: sei es als Kloster-, Fürsten-, Universitäts-, Gelehrten-, National- oder Fachbibliotheken.

>Die Bibliothek< gab es nie und kann es nicht geben. Dieser Mystifizierung nachzugehen und sie als Abbild zeitgebundener oder persönlicher Wunschträume zu entlarven, wäre Aufgabe einer kritischen Literaturforschung, nicht aber, sie fortzuschreiben.

Ein falsches Mittelalter

Dem (Spät-)Mittelalter und der Renaissance widmet Rieger sein erstes Kapitel: "Claustrum sine armario, quasi castrum sine armamentario. Fiktion und Idee der Bibliothek im Mittelalter" (S. 31–100). Der Titel ist – nicht nur infolge des unsinnigen Komma vor "quasi" – unglücklich gestaltet, gleichsam typisch für den Blick des Literaturwissenschaftlers auf >die Bibliothek<: eine epochale "Idee der Bibliothek" hat es im Mittelalter nicht gegeben (kann es auch zu keiner anderen Zeit geben). So kommt Riegers Einschränkung gerade noch rechtzeitig, es könne "nicht um die relativ gut erforschte Realgeschichte der mittelalterlichen Bibliothek(en) gehen", sondern es werde "versucht, vor allem von der französischen Literatur des Mittelalters ausgehend einige Streiflichter auf die als literarische Fiktion bzw. als Idee und Ideal imaginierte Bibliothek des Mittelalters zu werfen" (S. 31). Auch sie muß natürlich noch eingeschränkt werden: "Daß dabei im wesentlichen nur dominante Vorstellungen herausgearbeitet werden können, versteht sich (...) von selbst". Rieger behandelt im folgenden, und zwar mit Geschick, literarische Fiktionen. Sie sind weder ihrem Inhalt noch ihrer Intention nach vergleichbar oder auf eine abstrakte >Idee< hin zu vereinen. Bemerkenswert auch, daß die eigentliche Bibliothekswelt des Mittelalters – nämlich die lateinische Literatur – kaum zu Wort kommt. Rieger beschäftigt sich mit Fiktionen der volkssprachlichen Literatur, also mit Imaginationen von Personen, die möglicherweise keinen oder kaum Zugang zu Bibliotheken hatten.

So nimmt es denn nicht Wunder, daß Rieger seinen Gang durch die Geschichte der imaginierten Bibliotheken mit einer Bücherverbrennung beginnt, die in der Vie de saint Grégoire le Grand des Frère Angier von 1214 geschildert wird.

Hier häufen sich indes leider die Fehler. Das frühe 13. Jahrhundert war längst nicht mehr auf das "einzigartige Buch" konzentriert, auf das Rieger abhebt (S. 39). Es bezog sich auf die Exploration menschlicher Fähigkeiten und menschlichen Wissens in Gottes Welt (also der Scholastik), es ist längst nicht mehr eine "Zeit der Klosterbibliotheken, der Kodex-Bibliotheken" (S. 39), sondern der Kathedralbibliotheken, ja der ersten Fürstenbibliotheken, in denen auch Weltliches gesammelt wird. Und selbst für das Frühmittelalter sind die "singulär-kostbaren" Codices die Ausnahme – ganz zu schweigen davon, daß >Codex< nichts Heiliges bezeichnet, sondern ganz banal eine Einbandform (im Gegensatz zu >rotulus<). 5

Die Situation, die wir in der Vie de saint Grégoire antreffen, ist also für das Frühmittelalter (das für Rieger offenbar "das Mittelalter" darstellt) untypisch und zeigt etwas vom geistigen Aufbruch der Zeit um 1200. Hier ist ein Gelehrtenwerk in Gefahr, und wenn der Erzähler der Vie de saint Grégoire le Grand bedauert, daß etliche Bücher Gregors dann doch den Flammen übergeben werden (S. 42), so haben wir keineswegs eine Klage um eine verlorene Bibliothek, sondern um ein verlorenes Lebenswerk, um verlorene Texte einer >Auctoritas<. Dass so etwas in Gottes Welt möglich war, belegen die Schicksale eines Abaelard oder Arnaldus de Brescia: auch hier also mehr zeitgenössische Erfahrung als Rieger erkennen mochte. D.h.: hier, und nicht im Humanismus, beginnt die Wandlung >der Bibliothek< von der Dokumentation einer theologischen Weltsicht auf eine Sammmlung von >Wissensbeständen<.

Dies ist der Hintergrund der von Rieger zu Recht konstatierten literarischen Öffnung (S. 52–89). Rieger zeigt im vielleicht gelungensten Teil seiner Untersuchungen, wie die Gelehrtendarstellung vom Typus >Hieronymus im Gehäus<, der inmitten seiner Bücher sitzt, sich gegenüber der Natur öffnet, bis schließlich die Natur als Garten oder Landschaft die Buchsammlung als Hintergrundmotiv ersetzt (S. 88–92). Damit hat, wie Rieger konstatiert, die Bibliothek den "Nimbus der Endgültigkeit verloren"; sie "wird nicht nur geschichtlich im dargelegten Sinn, sondern dies intensiviert auch grundlegend das Bewußtsein ihrer Geschichtlichkeit" (S. 99).

Fraglich bleibt allerdings – weil nicht methodisch untermauert – ob diese Verengung eines allgemeinen kunsthistorischen Phänomens auf die Darstellung von Gelehrten wirklich von solcher Aussagekraft ist. Neu – und insofern als >Öffnung< des bisher schwer Zugänglichen beschreibbar – sind in der Renaissance die Verbreitungsmöglichkeiten, die Papierhandschrift und Buchdruck schufen. Hierzu aber vermisst man bei Rieger jegliche Stellungnahme. Statt dessen verfängt sich der Autor in nahezu metaphysischen Distinktionen:

Die Statik der unitarischen, zeitlos um ein ewiges Zentrum angeordneten Bibliothek des Mittelalters (...) macht im Verlauf des Humanismus einer zeitbezogenen chronologischen Ordnung Platz, auch wenn diese äußerlich in der bibliothekarischen Anordnung unsichtbar bleibt. (S. 96)

Dialektik der Aufklärung?

Das zweite Kapitel: "Que de connaissances inutiles aux hommes. Die utopische Bibliothek und die Bibliothek in der Utopie" (S. 101–163) schlägt eine Brücke von Thomas Morus bis hin zu Jules Verne und Aldous Huxley. Auf eine Definition des Utopischen oder wenigstens der utopischen Bibliothek wird verzichtet. Es geht generell um Bücher und Bibliotheken in literarischen Werken, die – warum auch immer – als Utopie gelten. Die Wissensfeindlichkeit utopischer Staatsentwürfe seit Platon wurde bereits oft herausgestellt (z.B. von Ludwig Marcuse), daß davon auch die Bibliotheken Utopiens betroffen werden, wird niemanden überraschen und wir können die Beispiele, die Rieger dem hinzufügt, übergehen – auch wenn sie im Detail durchaus lesenswert sind. Bemerkenswerter ist die Selbstverständlichkeit, mit welcher er die Bibliotheksphantasmagorien von Leibniz (Bibliothek als >apokatastesis panton<) bis Borges (>Bibliothek von Babel<) unter diese Utopien einreiht und schließlich sogar ganz beiläufig das Bibliotheksideal der Aufklärung hinzunimmt – die Universalbibliothek: "Nirgends ist vor allem die utopische, zukunftsgerichtete Komponente der Bibliothek so fehl am Platz – entbehrlicher, ja störender – wie in der utopischen Gesellschaft" (S. 114).

Der Aufklärung begegnen wir bei Rieger im Kapitel über die Utopien in Gestalt des Exzentrikers Louis-Sébastian Mercier (1740–1814), im Kapitel über den literarischen Kanon in Gestalt von Montesquieu (1689–1755) und Voltaire (1694–1778).

Montesquieu verwendet in den Lettres persanes (1721) die Form eines Reiseberichts, der auch die Bibliothek der Abtei St. Victor in Paris einschließt. Ein im Sinne des Autors argumentierender Frater Bibliothecarius führt durch diese Bibliothek und nimmt den dort repräsentierten Kanon kritisch, ja ablehnend, unter die Lupe. Rieger bezeichnet dies als "Subvertierung der Bibliothek und des durch sie repräsentierten Weltbilds einer >göttlichen< Wissensordnung" (S. 228 f.). Doch haben wir es nicht mit einer grundsätzlichen Kritik am Bücherwissen und nicht bloß an den Kanoninhalten zu tun, ja: ist "Subversion" hier (und gar im Falle Voltaires) der richtige Ausdruck, wo es sich doch unverhohlen um Satire handelt? Und was hat man darunter zu verstehen, wenn Rieger S. 229 gar "eine Art von subvertierter Subversion" vermutet?

Bei der Behandlung von Mercier wird die gleichgeschaltete >Bibliothèque nationale< in seinem L'An 2440 in den Vordergrund gerückt. Dieser Abschnitt ist – vor allem im Sinne von Horkheimer und Adorno – lesenswert, und er hätte neben den anderen quellenbezogenen Hinweisen auf die Nähe der Utopie zum Totalitarismus ihren Platz in einem Aufsatz mit begrenzter Themenstellung. Von einer Monographie über das Verhältnis von Literatur und Bibliothek jedoch wären weiterführende Ansätze zu erwarten. So hätte z.B. unbedingt der nur anklingende Gedanke weitergeführt werden müssen, daß die Versuche der Utopisten, ihre imaginierten Bibliotheken auf wenige normative Werke zu beschränken, als Reaktion auf die unbeherrschbare Bücherflut des 18. Jahrhunderts zu werten sind:

Denn die kulturelle Identität eines Individuums oder Kollektivs hat eine spezifische Delimitation zur Voraussetzung, deren jeweiliges Ausmaß den Zuschnitt und die Dynamik dieser Identität bestimmt und die eine Art Schutz bietet vor dem angstvollen, identitätsvernichtenden Eintauchen in die labyrinthische Universalbibliothek. Der Alptraum der verbrannten Bibliothek ist nur die Kehrseite des ambivalenten Wunschtraums von der Universalbibliothek, die indessen desgleichen zum Alptraum zu geraten vermag. (S. 103).

Ekpyrosis

Derart eingestimmt schlägt man das folgende Kapitel auf: "Tu viens d'incendier la Bibliothèque? Bibliotheken – Macht und Zerstörung" (S. 165–220). Rieger befaßt sich hier mit der absonderlichsten Erscheinung menschlichen Phantasierens über Bibliotheken: der >Ekpyrosis<, wie Eco es feierlich-ironisch im Finale seines Namen der Rose betitelt.

Rieger verzichtet auf eine historische Sichtweise, die ihn einen anderen Umgang mit seinem Material gelehrt hätte. Denn real-historisch sehen wir, daß Bibliotheken meist nicht durch Feuer zugrundegehen, sondern durch Verkauf, Raub und Plünderung oder durch miserables Papier. Dies gilt bereits für die Bibliothek von Alexandria (deren Brand eine unausrottbare Legende darstellt 6) wie für jene von Königsberg. Wer überdies Bände der in den Bombennächten des Zweiten Weltkrieges getroffenen Bibliotheken begutachtet, wird sehen, wie unerhört schwer es ist, ein fest gebundenes Buch in Brand zu setzen. Der Buchblock wird selbst bei hohen Temperaturen in aller Regel nur an den Rändern zusammenbacken; das Innere des Buches kann oft noch durch Restaurierung wieder zugänglich gemacht werden. So besehen ist Wasser in Kombination mit Mikroben weit gefährlicher, doch hat dieses Untergangsszenario öffentlich nicht die Breitenwirkung der Ekpyrosis.

Diese Irrealität des populären Themas Bibliotheksbrand wäre ein wichtiger Schlüssel zur Hinterfragung seiner literarischen Verarbeitung gewesen, zum Beispiel um die Frage aufzuwerfen, warum diese Phantasie allem Wandel der Zeiten zum Trotz fast untrennbar mit der populären Vorstellung >der Bibliothek< verbunden ist. Riegers bereits zitierter eigener Ansatz, es handle sich um eine aggressive Umkehr der Allmachtsträume über Universalbibliotheken, widerlegt er selbst ungewollt mit mehreren Beispielen: die Verbrennung der Bücher Gregors des Großen kann ebensowenig als Angriff auf eine als Alptraum empfundene Universalbibliothek verstanden werden wie das Schicksal der Zauberbücher in Shakespeares The Tempest, auf die Rieger S. 167 zu sprechen kommt. So versteht man, daß Rieger in einem neuen Anlauf die >Dialektik der Aufklärung< durch eine einfachere Herrschaftskritik ersetzt:

Viele Bibliothekszerstörungen in der fiktionalen Literatur meinen indessen – zumindest auch – gerade die Subversion von Machtstrukturen, und zwar zur Stabilisierung oder Implementierung differenter Strukturen. (S. 183).

Hierzu sei etwa die Vernichtung der Ritterromane des Don Quijote zu rechnen, die Cervantes als Heilmittel betrachte (S. 183–190). 7 Dabei handelt es sich doch wohl um ein Symbol der durch Bücher beschränkten Lebendigkeit, ähnlich der Situation von Goethes Faust in der Studierstube, der zwar seine Bücher nicht zerstört, aber ganz einfach verläßt. 8

Es handelt sich in solchen Fällen darum, eine persönliche Trennung vorzunehmen von etwas, das in den Büchern (tatsächlich oder vermeintlich) verankert ist. Es entgeht Rieger, daß dies ein alltäglicher privater (Befreiungs-)Akt ist, der nur literarisch stilisiert wird. In jedem Fall ist er anders einzustufen als die öffentliche Vernichtung politisch oder ideologisch unerwünschten Schrifttums (und zwar primär des Buchhandels, erst sekundär und weit weniger vollständig, auch der Öffentlichen Bibliotheken 9).

Zu diesem zweiten Typus gehören die weiteren, von Rieger betrachteten literarischen Behandlungen von zerstörten Bibliotheken. "Hier geht es um eine besondere Form der revolutionären Entmachtung des Ancien Régime." (S. 196). Rieger arbeitet etwa bei Victor Hugos Quatrevingt-treize zuverlässig "historische und literarische Kontexte" heraus und beruft sich auf Hugos Proteste gegen den Brand der Bibliothek des Louvre während der Commune (23.05.1871). Ganz zutreffend bemerkt er, daß Hugos Bibliotheksdarstellungen "trotz oder gerade wegen ihrer großen reflexiven Basis besonders deutlich [machen], wie manipulierbar das Motiv der Bibliotheksvernichtung / -verbrennung ist" (S. 219). Doch hat er dem nichts anderes gegenüberzustellen als den doch allmählich überstrapazierten Satz von Heinrich Heine, nach welchem das Verbrennen von Büchern nur ein Vorspiel des Verbrennens von Menschen ist.

Der Leser bleibt ratlos: Aufstand gegen übermächtige, alptraumartige Bibliotheken oder Totalitarismus – wenn das Verbrennen von Büchern das eine wie das andere sein kann, was sagt es uns dann als literarisches Motiv? Und wenn es so manipulierbar ist, ist es dann nicht Aufgabe der Forschung, die Manipulationen zu bestimmen und zu systematisieren anstatt staunend davor zu kapitulieren?

Panta rhei

Die zweite Hälfte der Untersuchung variiert in drei Kapiteln im Grunde ein und dasselbe Thema, nämlich die Undefinierbarkeit dessen, was Rieger dennoch beharrlich >die Bibliothek< nennt, wo es sich doch im Detail eher herausstellt, daß literarische Entwürfe von Buchsammlungen ebenso wie private Bibliotheken vor allem Spiegel der Seele und der Bildung ihrers Schöpfers sind (infolgedessen spielt >die Universalbibliothek< hier keine Rolle mehr).

Mit wiederum sehr interessanten Einzelbeobachtungen zu einer Vielzahl von Autoren der Neuzeit wird zunächst "Bibliothek und literarischer Kanon" abgehandelt (S. 221–286), alsdann "die poetologische Bibliothek" im Werk eines Baudelaire oder Nerval (S. 287–332) und schließlich "Ich, Bibliothek und Wirklichkeit" bei Anatole France, Balzac oder Gabriel Naudé (S. 333–380). Die Darstellung, die sich immer weniger an chronologischen bzw. historischen Zusammenhängen orientiert, verfolgt kein erkennbares Ziel mehr. Zwar wird in der Einleitung zur Behandlung literarischer Kanones das Gegenüber von bestehenden kulturellen Zuständen und als "Subversion" bezeichneter Kritik daran hervorgehoben (S. 221–225), doch steht dieser Begriff auch hier ohne theoretisches Konzept und der analytische Ansatz verschwimmt zu einer Aneinanderreihung von Einzelbeobachtungen. Rieger erfreut sich an Details, die zuweilen zu Paradoxa zugespitzt werden: so versuche Joris-Karl Huysmans, "die Agonie der Bibliothek fiktional zu Ende zu führen – in Opposition zur Vitalität der Bibliothek in der Realität: die Wucherung der literarischen Bibliotheksimagination des 20. Jahrhunderts blieb davon unbeeindruckt." (S. 379). Warum, erfahren wir nicht.

So ist der Erkenntnisgewinn am Ende, trotz der vielen interessanten Hinweise und Einsichten, bescheiden. Heraklit wußte es nämlich schon (auch ohne Bibliothek): Alles fließt.


PD Dr. Arno Mentzel-Reuters
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Anmerkungen

1 Der befremdlicherweise anschließend und abschließend behandelte Charles-Marie-Georges Huysmans starb bereits 1908.   zurück

2 Vgl. S. 33 f., ähnlich verwechselt er S. 36 Nachlaß und Bibliothek.   zurück

3 Im Falle von Ecos Bibliotheksphantasie geschieht dies mit Verweis auf einschlägige Literatur (S. 30 Anm. 37) doch "ohne daß sie hier einer (nochmaligen) gesonderten Analyse unterzogen würde".   zurück

4 Weniger frei in dieser Hinsicht erscheint z.B. die Kölner germanistische Habilitationsschrift von Nikolaus Wegmann: Bücherlabyrinthe: Suchen und Finden im alexandrinischen Zeitalter. Köln [u.a.]: Böhlau 2000.    zurück

5 Vgl. hierzu ausführlich Arno Mentzel-Reuters: Codex. In: Ursula Rautenberg (Hg.): Reclams Sachlexikon des Buches. Stuttgart: Reclam 2003, S. 134 f.   zurück

6 Über diese Bibliothek informiert legendenfrei Lionel Casson: Bibliotheken in der Antike. Düsseldorf : Artemis & Winkler 2002, S. 49–71, über die Entstehung der Legende vom Bibliotheksbrand S. 69 f.   zurück

7 Allerdings kommen Rieger selbst wieder Zweifel an dieser These, vgl. die Einwände S. 186 f.   zurück

8 Daraus resultieren jedenfalls die beliebten Darstellungen Alonso Quichanas in seiner Bibliothek im 19. Jahrhundert, über die sich Rieger S. 190 verwundert zeigt.   zurück

9 Auch im Nationalsozialismus wurde zum parteiinternen Gebrauch gezielt das parteifeindliche Auslandsschrifttum gesammelt, vgl. Ingo Touissant: Wissenschaftliche Bibliotheken und verbotene Literatur im "Dritten Reich". In: Stephan Kellner (Hrsg.): Der "Giftschrank". Erotik, Sexualwissenschaft, Politik und Literatur – "Remota", die weggesperrten Bücher der Bayerischen Staatsbibliothek. München : Bayerische Staatsbibliothek 2002, S. 83–92 und die zugehörigen Katalogteile Remota III (S. 149–169) bzw. VI. (S. 201–216).   zurück