Michel über Simon/Lerchenmüller: Geschichte der Germanistik im Nationalsozialismus

Volker Michel

GIFT: Kriminalgeschichte der Germanistik im Nationalsozialismus

  • Joachim Lerchenmüller/Gerd Simon u.a.: Im Vorfeld des Massenmordes. Germanistik und Nachbarfächer im 2. Weltkrieg. Eine Übersicht. Tübingen: Verlag der Gesellschaft für interdisziplinäre Forschung Tübingen e.V., 1997³.102 S. Kart. DM 45.- ISBN 3-932613-00-7
  • Gerd Simon: Germanistik in den Planspielen des Sicherheitsdienstes der SS. Erster Teil. Tübingen: Verlag der Gesellschaft für interdisziplinäre Forschung Tübingen e.V.,1998. 119 S. Kart. DM 59,- ISBN 3-932613-06-6
  • Gerd Simon: Die hochfliegenden Pläne eines »nichtamtlichen Kulturministers«. Erich Gierachs ›Sachwörterbuch der Germanenkunde‹. (Wörterbücher im 3. Reich 1) Tübingen: Verlag der Gesellschaft für interdisziplinäre Forschung Tübingen e.V., 1998. 51 S. Kart. DM 30,- ISBN 3-932613-03-1
  • Gerd Simon: Blut- und Boden-Dialektologie. Eine NS-Linguistin zwischen Wissenschaft und Politik. (Wörterbücher im 3. Reich 2) Tübingen: Verlag der Gesellschaft für interdisziplinäre Forschung Tübingen e.V., 1998. 132 S. Kart. DM 45,- ISBN 3-932613-03-2


»Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift. Die Menge allein macht, daß ein Ding kein Gift ist.«
Paracelsus

GIFT und die bisherige Wissenschaftshistoriographie der Germanistik

Fachgeschichte hat bisher keinen festen Platz gefunden im Lehrplan germanistischer Seminare. Gerade einem Fach, das fortwährend Rechtfertigungszwängen unterworfen ist, steht dies schlecht zu Gesicht. Vielleicht ist es bezeichnend für den Stellenwert der Wissenschaftsgeschichte an deutschen Hochschulen, daß eine außeruniversitäre, dafür ordnungsgemäß in das Vereinsregister eingetragene Gruppierung eine Bündelung der Kräfte anstrebt, um auf ihre Weise für »praxisoffene, bedeutungskritische und interdisziplinäre Forschung im Bereich der Geschichte der Geistes- und Sozialwissenschaften und der interkulturellen Kommunikation« einzutreten.1

1996 wurde die »Gesellschaft für interdisziplinäre Forschung Tübingen e.V.«, einprägsam-vielsagend GIFT abgekürzt, gegründet. Auf der Homepage - Stand: 25.06.1999, mehrfach aufgesucht im ersten Halbjahr 2000, mittlerweile (vorübergehend?) nicht mehr aufrufbar - findet sich das Programm der GIFT in nuce: die Gesellschaft will auf der Basis einer kritischen Reflexion darüber, was Wissenschaft war, ist und sein könnte, Vernachlässigtem Geltung verschaffen, Finger auf Wunden legen, Wissenschaftsfeindliches beim Namen nennen und Einsprüche gegen alles Irrationale und Ungerechte im Forschungsbereich wirksam bündeln.2

Zudem müsse Wissenschaft ihre Emanzipation den »sie tragenden Mächten [...] ständig neu abtrotzen«. Ein Weg der Emanzipation, den GIFT einschlug, war die Gründung eines eigenen Verlages, doch dazu weiter unten mehr.

Die Resonanz der disziplinären Gemeinschaft auf GIFT

Man wundert sich zunächst. Außerhalb der Institution Universität schaffen sich Vertreter einer Disziplin einen wissenschaftlichen Raum, um fachinterne Fragestellungen zu verhandeln. Die GIFT-Diaspora ist dazu eine selbstgewählte, zumindest ist sie für den Außenstehenden so wahrnehmbar. Darin unterscheidet sie sich von früheren, autoritär verordneten Externalisierungen etwa aufgrund von Geschlecht oder Religionszugehörigkeit.

Was die Verzeichnung des Forschungsstandes aktueller Fachgeschichtsschreibung betrifft, so registriert man im Anhang der GIFT-Bücher manche Lücken. Andererseits: Innerhalb der gelehrten Gemeinschaft erfahren die Aktivitäten der GIFT bislang nicht allzu große Resonanz. Ob dies an der gepflegten Außenseiter-Position liegt? Oder an der geringen Wissenschaftswirksamkeit (i.S. intradisziplinär anerkannter Leistung) derjenigen Gelehrten, auf die der Fokus gerichtet wird? Oder an manch anderen Eigenheiten?

bisherige Wissenschaftshistoriographie in der Germanistik

Zunächst ein Schritt zurück, kurzes Resümee des Bekannten: Maßgeblicher Anstoß für eine Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit des Faches gab der Münchner Germanistentag 1966. Die Vorträge von Eberhard Lämmert (Germanistik - eine deutsche Wissenschaft) und Karl Otto Conrady (Deutsche Literaturwissenschaft und Drittes Reich) präsentierten dort unrühmliche Kontinuitäten und boten über längere Zeit hinweg die methodische Vorgabe für die Art und Weise, Fachgeschichte zu schreiben.

Das damit etablierte Paradigma der personenzentrierten, zugleich ideologiekritischen Vorgehensweise führte in den folgenden Jahren dazu, die durchweg konservative, antidemokratische Grundhaltung und die Affinität vieler Ordinarien zu völkischer Anschauung anhand einschlägiger Textauszüge und Zitate immer wieder zu reproduzieren. Anstatt kompilatorischer Produkte wäre eine Überprüfung der Befunde auf breiterer Quellenbasis lohnenswerter und von innovativer Wirkung gewesen.

Eine Stagnation innerhalb der Wissenschaftshistoriographie war die Folge, die sich erst Mitte der 80er Jahre allmählich löste. Sozialhistorisch orientierte Ansätze gingen parallel mit einer neuen Wertschätzung einer Wissenschaft aus erster Hand. Quellen und Dokumente - Nachlässe, unedierte Briefwechsel, Instituts- und Personalakten u.ä. -, die oft nach mühsamer Recherchearbeit in (Universitäts)archiven aufgespürt wurden, lieferten Aufschlüsse über die institutionelle und konzeptionelle Konstitution des Faches seit seiner Begründung zu Anfang des 19. Jahrhunderts.

neue Wege in der Wissenschaftshistoriographie bei GIFT

Der Möglichkeiten, Fachgeschichte(n) zu schreiben, gibt es also viele. Betont »dokumentennah«3 und faktenorientiert wird auch in den vorliegenden Bänden Wissenschaftshistoriographie betrieben. Im folgenden gilt es das Augenmerk auf den eigenen, durchaus als nonkonformistisch zu bezeichnenden Weg zu richten, den der Erste Vorsitzende der GIFT, der Tübinger Linguist Gerd Simon, und die ihm zuarbeitende, vornehmlich aus Studenten bestehende Forschergruppe einschlägt. Aber auch hier zunächst ein Blick zurück.

Überdruß gegen die oben beschriebene Wiederkehr des Immergleichen, gegen den bequemen Wiederabdruck hinlänglich bekannter Texte und Dokumente in Anthologien mag die fachgeschichtliche Initiation Gerd Simons mitbewirkt haben. Stattdessen zog er für seine Untersuchungen bis dahin nur selten genutztes hochschuladministratives Schriftgut (u.a. Protokolle, Stellungnahmen, Gutachten) wie auch schwer zu ortende Ministerial- und Parteiakten aus den Beständen des Bundesarchivs heran, lohnenswertes Quellenmaterial, wie sich bald zeigte, um aus erweiterter Perspektive Licht auf die dunklen Stellen der Germanistik zu werfen.

Synthese aus personen- und institutionengeschichtlicher Darstellungen

Im Zentrum seines Interesses stand von 1979 an zunächst Georg Schmidt-Rohr, ein bis dato weitgehend in Vergessenheit geratener Sprachwissenschaftler. Schmidt-Rohr leitete die ›Lehr- und Forschungsstätte für angewandte Sprachsoziologie‹ (so der akademische Tarnname), die der direkt Himmler unterstellten Forschungsgemeinschaft ›Ahnenerbe‹ zugeordnet war.4

Die mit dem Prädikat ›kriegswichtig‹ versehenen Aktionspläne dieser »Lehrstätte« galten der »geistigen Zersetzung« des Gegners und sahen hierfür Sprachverbote, Begriffstabuisierungen oder Geschichtsklitterungen vor. Der mit Akribie erarbeitete ›Sprachkampf‹ wurde seitens der NS-Ideologen als subtilere Variante des militärischen Kampfes verstanden und dementsprechend gefördert.

Der Hinweis auf die Anfänge der Simonschen Fachgeschichtsschreibung erfolgt nicht ohne Grund. Schon Anfang der 80er Jahre führte seine Vorgehensweise, eine Synthese aus personen- und institutionengeschichtlicher Darstellung, mikrobiographisch recherchierte Lebenswege vor Augen. Mitgeliefert wurde weiterhin eine Rekonstruktion der Netzwerke, in denen sich die jeweiligen Protagonisten bewegten, in die sie zwangsläufig hineingerieten, dort aber ihrerseits versuchten, Einfluß zu nehmen.

Der gewählte Untersuchungsgegenstand Schmidt-Rohr belegt zudem das Interesse an den wenig bekannten Vertretern der Disziplin, die allerdings - anders als viele lippenbekenntnisfreudige Ordinarien - in weit wirkungsvollerem, damit unheilbringendem Maße in die Machenschaften des NS-Regimes verstrickt waren.

Germanistik und Nachbarfächer im 2. Weltkrieg

»Es gibt kein wirksameres Mittel zur Belebung und Vertiefung des Studiums einer Wissenschaft als das Eindringen in ihr geschichtliches Werden«. Mit diesen Worten des Chemikers Wilhelm Ostwald, 1909 Träger des Nobelpreises, leiten die Herausgeber den bebilderten Katalog Germanistik und Nachbarfächer im 2. Weltkrieg ein.

Die Exponate waren 1997 in Tübingen zu sehen. Entgegen der Verlagsankündung ist diese Publikation kein »Überblickswerk über die Fachgeschichte der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts« - dazu ist der übergreifende Bezugsrahmen zu einseitig im Hinblick auf die ideologische Ausrichtung der präsentierten Gelehrten gesteckt worden.

Konzeptionell bietet man eine Leistungsgeschichte ex negativo. Die Frage nach ihrem Sinn, die den Geisteswissenschaften immer wieder aufgedrängt wird, wird mit dem Bild einer auf Praxis und Einsatz bezogenen Disziplin konfrontiert. »Das Eindringen« in das »geschichtliche Werden« der Wissenschaft von deutscher Sprache und Dichtung erfolgt in Sprüngen. Erich Schmidt, Gustav Roethe und Friedrich Panzer stehen stellvertretend für die nationalverbrämte Philologie der Kaiserzeit, die Weimarer Republik erhält kein eigenes Kapitel.

Mit schnellen Schritten durcheilt man die Jahrzehnte, für Differenzierungen bleibt keine Zeit.5 Die bekannt-berüchtigten Repressalien des Jahres 1933 (Bücherverbrennung, Entlassungen aufgrund des ›Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums‹) als Schritte auf dem Weg zu einer (freilich nie lückenlos realisierten) doktrinären Wissensvermittlung auf rassistischen Fundamenten finden Erwähnung, doch der Fokus der Ausstellung fällt auf anderes.

Kriegseinsatz der Geisteswisschenschaften

Wenn heute vom Kriegseinsatz der Wissenschaften die Rede ist, richtet sich die Erwartungshaltung auf den technischen und medizinischen Bereich. Daß auch die Geisteswissenschaften ihren Beitrag leisten wollten (auch um etwaigen Zweifeln an ihrer Existenzberechtigung entgegenzuwirken), ist zwar naheliegend, aber kaum dokumentiert.6 Diesem Versäumnis begegnet der Katalog ausführlich. Als Motto kann der Ausspruch des Indogermanisten und Leiter des ›Kriegseinsatzes der Wissenschaft im Ostland‹, Kurt Stegmann, gelten: »Die stille Studierstube des Gelehrten, fern ab vom Appell der Zwecke, bleibt weiterhin Vorhof der Waffenschmiede« (S. 52).

Von besonderem Interesse sind die unter der Führung von Sprach- und Literaturwissenschaftlern, Volkskundlern und Historikern im verborgenen entwickelten Strategien, mit denen versucht wurde, das kollektive Unterbewußtsein des militärisch besiegten Gegners zu ›nazifizieren‹. Immer wieder waren es ehrgeizige, fachlich keineswegs hochqualifizierte Dozenten, die sich in hochschulfernen Einrichtungen (wie den einzelnen Ämtern des ›Ahnenerbe‹) engagierten.

Verbirgt sich im Namen der Disziplin ›Philologie‹ die Liebe zu den Wörtern, so zeigt die sogenannte ›Entwelschungskampagne‹ im Elsaß, wie die Etymologie ins Gegenteil verkehrt wurde. Worte hinterlassen Wunden, wenn es verboten wird, sie zu gebrauchen. Erschreckende Beispiele aus den Jahren 1940/41: Vor- und Nachnamen der elsässischen Bevölkerung deutschte man ein, ebenso die französischen Straßen-, Orts- und Geschäftsnamen. Darüber, daß ›chaud‹ und ›froid‹ auf den Wasserhähnen verschwand, wachte das ›Entwelschungsamt‹ in Straßburg.

Daß die vorgestellten wissenschaftlichen Ansätze ebenso wie die beschrittenen Vermittlungswege auf der Höhe der Zeit waren (etwa die aggressive antifranzösische Propaganda in der Bretagne unter Einsatz des Mediums Radio) ist auffällig. Andererseits wartet der Katalog auf mit der Präsentation ungewöhnlicher Kompilationen (Lautdenkmal reichsdeutscher Mundarten, bestehend aus 360 Schallplatten, die Hitler zum Geburtstag bekam), akademischen Bluffs (die gefälschte Ura Linde-Chronik) und Kuriositäten (eine in zimbrischer Sprache verfaßte Grammatik, die trotz Papierrationierung 1944 erscheinen konnte).

Konformität und Widerstand

Von aufstrebenden Nichtordinarien, die sich vom Geist der neuen Zeit an der Universität einen Karrieresprung erhofften - im Jargon des Buches »Konjunkturritter« oder auch »Wendehälse« (S. 21) genannt - ist leider nur kurz die Rede. Ein Exkurs auf die treibenden Kräfte nationalsozialistischer Hochschulpolitik und die damit verbundenen hochschulpolitischen Ziele des NS-Regimes wäre nicht fehl am Platze gewesen. Ebenso kommt das Verhalten der Studentenschaft nur im Abschnitt über die Bücherverbrennung zur Sprache.

Mitzutun war nicht jedermann gewillt. Auf »alternative Lebenswege« von Emigranten, ausländischen Germanisten, Widerstandskämpfern, macht das gleichnamige Schlußkapitel aufmerksam.7 Was man vermißt, ist ein Blick auf den »großen Haufen der Gleichgültigen« (1936 zitierte Jonas Fränkel dieses Gottfried Keller-Wort), die ›Durchschnitts‹-Germanisten, die nach 1933 in Deutschland blieben, weiterhin ihrem philologischen Ethos folgten, sprich apolitisch Lehre betrieben, manche davon mit pronazistischen Lippenbekenntnissen, andere zumindest mit partieller Widerstandshaltung.

Walter Rehms Weigerung, am Gemeinschaftswerk Von deutscher Art in Sprache und Dichtung mitzuwirken, wird immerhin erwähnt. Eines der größten Versäumnisse der Germanistik, gegen die brutalen (hochschul)politischen Konsequenzen, die Hitlers Aufstieg nach sich zog, die Stimme zu erheben, läßt sich schwerlich ausstellen, beschreiben hingegen schon.

Wenn auch im Rahmen einer Bestandsaufnahme einer teleologischen Ausrichtung stets mit Vorsicht zu begegnen ist - von »Des Kaisers Germanisten« verläuft keine durchgehende Linie zum »Germanischen Wissenschaftseinsatz der SS« - so dokumentiert der Katalog den Verdienst der Tübinger Ausstellung: nämlich öffentlichkeitswirksam die Mär von der wirklichkeitsfernen Wissenschaft Germanistik destruiert zu haben, einer, wie gezeigt wurde, geltungswütigen Disziplin, die sich selbst allzu bereitwillig dem Unrecht auslieferte.

stilistische Mängel

Unangenehm fallen hingegen manche sprachliche Entgleisungen auf, wie insgesamt die Titel des Verlages eine erhebliche (giftige?) Lautstärke auszeichnet.8 Da ist von der »berüchtigten Feigheit« Alfred Baeumlers die Rede (S. 32) und davon, daß der Neurologe und Linguist Zwirner »mit einem dezimierten Moralquotienten« versehen war (S. 72), es wimmelt von »Himmler-«, »Rosenberg-« und »Goebbels-Leuten« oder man nennt Germanisten, die Kollegen »verpfeifen« (S. 38).

Mit Superlativen geht man großzügig um: Adolf Reichwein war gleich »einer der vielseitigsten Menschen dieses Jahrhunderts« (S. 90) wie auch Eberhard Zwirner von den Autoren als »vermutlich der begabteste deutsche Sprachwissenschaftler in diesem Jahrhundert« eingeschätzt wird. Als der »mächtigste Sprachwissenschaftler, den es je gab« (S. 51) firmiert Walther Wüst, Verfasser eines Alt-Indoarischen Wörterbuchs, zeitweilig (1937) Präsident des ›Ahnenerbe‹ und Rektor der Universität München.

Befremdend hierbei der Zusatz, daß man während der Nürnberger Prozesse im Falle Wüsts »unglaubliche Milde« (S. 63) walten ließ, indem man nicht ihn hinrichtete, sondern den Reichsgeschäftsführer des ›Ahnenerbe‹, Wolfram Sievers. Wenn schon Köpfe rollen sollen, dann auch die richtigen? Wie sehr man auch einen wohltuenden Verzicht auf sprachliche Geschraubtheit registriert, so wirkt doch der angeschlagene saloppe Tonfall gelegentlich übertrieben.

Germanistik in den Planspielen des Sicherheitsdienstes der SS

Im Mittelpunkt des Bandes Germanistik in den Planspielen des Sicherheitsdienstes der SS steht die Edition einer Denkschrift, die aus einem ehemaligen stasieigenen Archiv mit Dokumenten aus dem Dritten Reich zutage gefördert wurde. Über die dabei aufgefundene Rarität kursierten bislang nur Vermutungen. Der Provenienz nach gehört das Dossier zu den geheimen Lageberichten, die der Sicherheitsdienst der SS u.a. auch für den Bereich ›Wissenschaft‹ anfertigen ließ.

Die knapp fünfzigseitige Einleitung enthält bereits Bekanntes: die Lebensläufe maßgebender Protagonisten aus dem Umfeld des Sicherheitsdienstes wie Franz Alfred Six, Ernst Turowski u.a. werden knapp rekapituliert und bieten dem, der schon den Tübinger Katalog gelesen hat, keine neuen Informationen. Anders dagegen das vom Herausgeber im Vorwort angepriesene »in mehrfacher Hinsicht unvergleichliche Elaborat«, das in der Tat von herausragender Bedeutung ist.

Edition einer Denkschrift im Mittelpunkt

Lage und Aufgaben der Germanistik und deutschen Literaturwissenschaft, verfasst 1938 aller Voraussicht nach von Hans Rössner, seinerzeit Dozent an der Universität Bonn, ist eine Bestandsaufnahme des Wissenschaftsbetriebes fünf Jahre nach der Machtergreifung. Publikationsorgane, Institutionen und repräsentative Vertreter des Faches werden nach ihrer politischen Einstellung hin aufgelistet und bewertet, gewissermaßen eine Evaluation der Gelehrtenschaft unter nationalsozialistischen Prämissen.

Die Riege der positiv bewerteten Wissenschaftler ist dünn besetzt, die Namen (u.a. H. Burger, O. Höfler, H. Kindermann, F. Koch, K. Obenauer) überraschen kaum. Rössner rubriziert die »Gegner« in die Kategorien »Freimaurer / Rotarier«, »Juden«, »Katholiken«, »Liberale und Reaktionäre«. Einige Namen (z.B. Ernst Beutler) finden sich gleich in zwei Kategorien wieder, manche Zuordnungen dürften schlichtweg unkorrekt sein.

Rössners Werturteile berühren auf merkwürdige Weise, müssen doch die positiven Notierungen aus heutiger Sicht zu Lasten der beschriebenen Wissenschaftler gehen. Kurios auch die Sorge des NS-Ideologen um den negativen »Einfluss auf den Nachwuchs«, den die Verfemten (u.a. L. Magon, A. Soergel, P. Witkop) ausüben, da sie »zumeist über gute wissenschaftliche Fähigkeiten verfügen« (S. 12).

Die »neuen Aufgaben« der Germanistik werden erläutert, Pläne zur inhaltlichen und personalen Umgestaltung vorgestellt, die Details (z.B. Motivation von Erstsemestern) nicht aussparen. Die im Anhang vom Herausgeber präsentierten Satellitendokumente verdeutlichen weitere intellektuelle Anstrengungen zur Etablierung der Germanistik - im damaligen Verständnis ein Amalgam aus Volkskunde, Ur- und Frühgeschichte sowie Sprach- und Literaturwissenschaft - als Quasi-Wissenschaftsreligion.

Damit einer zukünftigen Einlösung harrend, blieben allerdings die tatsächlich eingelösten Bemühungen zur »Mobilisierung der seelischen und geistigen Kräfte des Volkes« glücklicherweise gering. Die Edition dieses Dokumentes dürfte einen Gewinn für weitere Forschungen zur Rolle der Germanistik in der nationalsozialistischen Hochschulpolitik darstellen.

Wörterbücher im 3. Reich (I)

Die hochfliegenden Pläne eines »nichtamtlichen Kulturministers« betreffen die Kompilation und Edition eines auf 15 bis 20 Bände angelegten Sachwörterbuchs der Germanenkunde. Erich Gierach, ordentlicher Professor für Deutsche Philologie an der Universität München, dessen Bild auf dem Umschlag plaziert ist, ist aber nur der Mitverfasser dieses Planes. Sein Co-Autor wird nur mit Nachnamen (»Brecht«) genannt, wobei es sich um den Münchner Ordinarius für Neuere deutsche Literaturgeschichte, Walther Brecht, handeln dürfte.

Wahrscheinlich ist dessen Leben nicht »so spannend und ereignisreich« (S. 1) wie das Gierachs, das auf den Seiten 1 bis 4 geschildert wird (und damit 1/5 des gesamten Begleittextes ausmacht). Erwünscht war seinerzeit ein Handbuch, das es mit der Realencyclopädie des klassischen Altertums von Pauly/Wissowa aufnehmen, wenn diese nicht sogar übertreffen sollte. Der Vorrangstellung des Deutschtums sollten auf universitärem Gebiet Taten folgen, »ein Gebot der Zeit« (Brecht/Gierach), darüber hinaus ein Desiderat der Forschung.

Ein Sachwörterbuch der Germanenkunde als Prestigeobjekt

Nicht übersehen werden darf, daß Gierach sich wohl zweifach vergeblich mühte, nach Berlin, an das damals renommierteste germanistische Seminar Deutschlands, berufen zu werden. Hervorgehoben werden muß auch, daß das Wörterbuchprojekt 1936 schriftlich erstmalig in einem Antrag an das Wissenschaftsministerium formuliert wurde, der vorrangig eine verbesserte materielle Ausstattung des Münchner Seminars für deutsche Philologie zum Gegenstand hatte.

Quasi als Ausgleich für die entfallenden letzten höheren Weihen sollte an der zweitangesehensten Universität des Reiches ein Prestigeprojekt entstehen, vielleicht auch um den Berlinern zu beweisen, was sie an Gierach verloren hatten. Dennoch gelangte das Wörterbuch-Unternehmen nicht über das Planungsstadium hinaus. Was waren nun die Gründe, die es zu Fall brachten?

Fachinterne Intrigen

Gierach hatte das Pech, daß zu den ersten Lesern des Antrages der bereits oben vorgestellte Walther Wüst gehörte. Zum zweiten Male Pech hatte Gierach, daß ein ehrgeiziger Oberstudiendirektor aus Heidelberg sozusagen im Alleingang ein Sachwörterbuch der deutschen Vorzeit fertigte und dieses einem mit dem ›Ahnenerbe‹ kooperierenden Verlag anbot. Schließlich kam Gierach noch ein Projekt mit dem Titel Erschließung des germanischen Erbes ins Gehege, wiederum dem ›Ahnenerbe‹ zur Stellungnahme unterbreitet. Kurz: je mehr offizielle Hände im Spiel waren, desto geringer wurden Gierachs Chancen zur Realisierung des Sachwörterbuchs.

Dem expansiven Macht- und Geltungsbewußtsein von Wissenschaftspolitikern vom Format eines Walther Wüst hatte Gierach wenig entgegenzusetzen. Revierkämpfe und geheime Absprachen taten das ihrige zur Schwächung seiner Position, vollends aufgedeckt werden die Mechanismen des Mißlingens jedoch nicht. Mit einem kurzen Hinweis wird die verworrene Situation aufgelöst: Man habe »einen Webfehler in Gierachs Leben« gefunden, dessen »angebliche Beziehungen zu einem ungenannten Prälaten, vermutlich durch den Sicherheitsdienst entdeckt«, was »dem Forschungsrat anscheinend« genügte, »um ihn [= Gierach] aus dem Rampenlicht zu nehmen« (S. 11). Daß das Scheitern der hochfliegenden Pläne eines ›nichtamtlichen Kulturministers‹ entgegen der sonstigen Kommentierungsintensität mit einer Art Deus ex machina- Pointe begründet wird, ist letztlich ein wenig unbefriedigend.

Wörterbücher im 3. Reich (II)

Was GIFT bzw. ihr Erster Vorsitzender mit der jeweiligen Publikation beabsichtigen, erfährt der Leser in unterschiedlicher Dichte per Vorrede und/oder Einleitung. Das Vorwort des Bandes Blut & Boden-Dialektologie. Eine NS-Linguistin zwischen Wissenschaft und Politik bietet wesentliche Orientierung über Ansprüche der Reihe Wörterbücher im Dritten Reich.

»Hauptziel« seiner wissenschaftsgeschichtlichen Forschungen sieht Simon in der »Ermittlung des Zusammenwirkens von Wissenschaft und Praxis«.9 Im Zentrum stehe für ihn die Frage, wie Wissenschaft »von Politik, Wirtschaft, Militär oder anderen Mächten (Religionsgemeinschaften, Rechtsinstanzen usw.)« vereinnahmt werde.10 Leider fehlt dem Buch die klare Linie, die die programmatische Einführung entwirft.

Anneliese Bretschneider als engagierte Nationalsozialistin

Was die fachgeschichtliche Bedeutung von Anneliese Bretschneider, der Protagonistin dieser Studie, ausmacht und welchen politischen Nutzen man aus ihren dialektologischen Studien ziehen konnte, läßt sich auf den beschrittenen Haupt- und Nebenwegen leider nur häppchenweise auflesen.

Anneliese Bretschneider promoviert 1923 in Marburg und ist an gleicher Stelle ab Juni 1924 als wissenschaftliche Assistentin am Deutschen Sprachatlas beschäftigt. Ihre Nähe zu völkischen Positionen tritt früh zutage, wenngleich sie erst 1932 Parteimitglied wird. Eifrig und offensiv gegenüber Kollegen und Funktionären auftretend, versucht sie, die Ergebnisse ihrer Untersuchungen für die Außenpolitik Nazi-Deutschlands, namentlich in den Ostgebieten, fruchtbar zu machen. Den bedrängten deutschen Volksgenossen im Ausland solle man in ihrem »Willen zur Heimatsprache« (Bretschneider) entgegenkommen, was nur über entsprechende finanzielle und institutionelle Unterstützung zu erreichen sei.

Ein Wörterbuch als geistige Angriffswaffe

Einmal mehr werden von Gerd Simon wissenschaftspolitische Ränkespiele um Fördergelder und um die Gunst von maßgebenden Personen in extenso vorgeführt. Zugleich möchte er aber am Beispiel des von Bretschneider begründeten Brandenburg-Berlinischen Wörterbuchs verdeutlichen, daß »ein noch heute als harmlos eingestuftes wissenschaftliches Projekt wie ein Wörterbuch« (S. 68) in Kriegzeiten als geistige Angriffswaffe eingesetzt werden könne.

Parallel zum deutschen Einmarsch in Polen wiederholt Bretschneider in einer Schrift ans Auswärtige Amt den Vorschlag, die dialektologische Forschung »für den Kampf des Führers nutzbar zu machen« (S. 66). Sie erklärt sich bereit, »[...] zuverlässige Karten oder andere Übersichten herzustellen, die als Nachweis für das Deutschtum in den Provinzen Posen und Westpreußen dienen können« (S. 67). Angesichts des Angriffes auf Polen sei dies insbesondere als Rechtfertigung gegenüber den zu erwarteten Protesten des Auslands nützlich. Dem Sprachgebrauch der Bevölkerung innerhalb einer Region wird größere Aussagekraft zugeschrieben als etwa schriftlichen Quellen. Der Konnex »Blut-und-Boden« ist - so Bretschneiders Überzeugung - um das Wort »Sprache« zu erweitern.

Wie gefährlich wurde das Brandenburg-Berlinische Wörterbuch? War sie nun mit ihren Avancen erfolgreich? Offensichtlich nicht, denn hierüber wird nichts weiter berichtet.11

Bretschneiders wissenschaftliche und stasiinterne DDR-Karriere

Von Bretschneiders Existenz nach 1945 erfährt der Leser wenig, dafür umso Überraschenderes. Keineswegs ist ihre wissenschaftliche Karriere zu Ende, vielmehr erhält sie eine Professur an der PH Potsdam und wird Mitglied in der Berliner Akademie der Wissenschaften. Die fortgesetzte Laufbahn in der DDR mag erstaunen, da der Staatssicherheit ihre NS-Vergangenheit bekannt gewesen sein dürfte. Möglicherweise hat sie von Bretschneiders Insider-Wissen profitiert, wie Simon mutmaßt. Aber die Auswertung der Unterlagen der Gauck-Behörde bleibt weiterhin ein weites Feld. Denkbar ist es allemal, daß es ebenfalls von der GIFT-Gruppe beackert wird.

1981 erscheint noch einmal eine größere Arbeit von Bretschneider, Die brandenburgische Sprachlandschaft, »ein sehr faktenreiches, rein deskriptives Opus« (S. 73), dessen Drucklegung, wie Simon hervorhebt, von der DFG gefördert wurde. Inwieweit man darin dieselben Wortkarten aus dem Brandenburg- Berlinischen Wörterbuch der frühen 40er Jahre, nun wieder mit wissenschaftlich ›korrekten‹ Eintragungen finden kann, hätte man gerne gewußt.

Nicht vorenthalten wird dem Leser dagegen, daß Bretschneider ab 1940 für den Sicherheitsdienst arbeitet, und - mit vergleichbaren Aufgaben bedacht - im ›Kulturpolitischen Archiv‹ des Amtes Rosenberg tätig ist, wo sie als Leiterin der Auskunftsstelle die weltanschauliche Verläßlichkeit nicht nur von Wissenschaftlern resümiert. Kurios das wiederabgedruckte Gutachten über Luis Trenker, folgenreicher dagegen die negative Beurteilung Georg Schmidt-Rohrs, dessen Rehabilitierungsbemühungen Bretschneider tatkräftig zu verhindern sucht.

Resümée der Bretschneider-Biographie und Kritik an der Argumentationsweise Simons

Ob das Leben Anneliese Bretschneider »an und für sich erzählenswert« (S. 76) ist, sei dahingestellt. In disziplin- und personengeschichtlichen Nachschlagewerken sucht man ihren Namen vergeblich - mit der immerhin signifikanten Ausnahme des Gelehrten-Kürschners von 1940/41. Ihr Ehrgeiz und ihre forsche Art, mit denen sie versuchte, in der Männer-Domäne Wissenschaft eigene Projekte zu realisieren, fallen auf. Mit den Resultaten der vorliegenden Untersuchung kann sie nicht mehr konfrontiert werden, da sie in den 90er Jahren verstorben ist.

Mittels der Vielzahl an ausgewerteten Archivalien entsteht die Biographie eines Menschen, dessen Handlungen durch eine fest verankerte nationalistische und antisemitische Geisteshaltung bestimmt wurden. Zweifel oder Skrupel blieben bei Bretschneider außen vor, soweit die benutzten Quellen (darunter weder Briefe noch autobiographische Äußerungen) diese Einschätzung erlauben. Versuche, weiteres Material aufzuspüren, um »Bretschneider insgesamt in einem menschlicheren Licht erscheinen [zu] lassen«, enden - mit einer Ausnahme (vgl. S. 50) - erfolglos.

Diese ein wenig überraschend vorgebrachte pro rea- Anstrengung leitet über zu den Vorbehalten, die man gegenüber der angewandten Argumentationsweise haben muß. Denn wenn auch das unverstellt subjektive Herangehen des Autors anerkennenswert ist, so weckt es auch Bedenken, insbesondere dann, wenn Gerd Simon in seine ganz eigene Begrifflichkeit verfällt (vgl. etwa die Differenzierungen zwischen »Bekenntnis-«, »Bio-«, »Kultur-«, und »Offensivrassistin«) oder wenn er sich tatsächlich in die justitiable Sphäre begibt: so falle es ihm »ausgesprochen schwer, ihr [= Bretschneider] präzise nachzuweisen, daß ihr Rassismus auch nur in einem einzelnen Fall lebensbedrohliche Konsequenzen hatte« (S. 55). Das wäre - wenn nicht ob der Verjährung sinnlos - die Aufgabe der Staatsanwaltschaft, nicht die eines Fachhistorikers.

Indizienwissenschaft

Was GIFT präsentiert, liest sich als Kriminalgeschichte des Faches. Forschung und Fahndung passen durchaus zusammen. Von jeher verlangt Hermeneutik nach einem hermetischen Tun, waren Wissenschaftler Jäger, Sammler, Spurensucher.12 Spuren tragen dabei die Aura des Authentischen, obwohl es bis auf wenige Ausnahmen (Fingerabdruck, genetischer Code) keine fälschungssicheren Spuren gibt.

Gerade weil man der Spur Authentizität zubilligt, ist der hier und auch in den anderen GIFT-Publikationen angeschlagene Ton der Mutmaßung bedenklich. Wendungen wie »[xy] dürfte erfahren haben«, »der Verdacht liegt nahe, daß [...]«, »Es ist auch nicht ausgeschlossen, daß [...]«, »unter Umständen«, Wörter wie »vermutlich«, »anscheinend«, »offenbar«, »wahrscheinlich«, »sicher« suggerieren, wenn sie gehäuft auftreten, Verstrickungen, deren Beweisbarkeit aussteht.

Fraglich ist, ob das kritische Leserbewußtsein diesem untergründigen Sog auf Dauer standhalten kann. Von der vermuteten Tat zur Tatsache ist es ein weiterer Weg, als es die Art und Weise nahelegt, wie hier manches augenscheinlich gemacht wird, zumal man sich dem Ethos der All-Belegbarkeit verschrieben hat.

Wenn Simon schreibt, »leider schweigen sich an dieser Stelle die mir bekannten Archivalien aus, so daß ich die folgenden nicht belegten Aussagen bislang nicht in den Bereich zuverlässiger Informationen treiben konnte«13, so weist er damit selbst sehr direkt auf die Problematik seiner Methode hin. Wohlgemerkt: gerade Gerd Simon behandelt den Themenbereich der Fälschung und Manipulationen mit gebotener Vorsicht; dennoch liegt die Gefahr in der Herstellung von Tendenzen mittels Arrangieren von Zitaten, Fakten und Mutmaßungen, die sich im Gedächtnis des Lesers nach und nach zu Indizien subsumieren können. Zwar beabsichtige man (gemäß Punkt 3 des GIFT- »Grobplans«), gezielt »erste Vorannahmen und vorläufige Ergebnisse« zu präsentieren, was nicht grundsätzlich abzulehnen ist, doch scheint auf diesem hochsensiblen Terrain Zurückhaltung angebrachter zu sein.

Unzureichend kommentierte Quellen

Auch wecken gelegentlich ausführliche Quellenzitate Erwartungen, deren Einlösung einem unbestimmten Später vorbehalten bleibt. So wird Bretschneiders Versuch, 1933 stärkeren Einfluß auf die Geschicke des Deutschen Sprachatlas zu nehmen, durch eine vollständig abgedruckte Denkschrift aus ihrer Feder (Errichtung eines Volkstumsforschungsinstituts in Berlin) dokumentiert. Darin finden sich konkrete Vorschläge zu Projektgestaltung, Personalfragen und Mittelerwerbung versammelt.

Simons knappe Kommentierung dieses, dem ›Kampfbund für deutsche Kultur‹ (KfdK) vorgelegten Dokuments, endet mit dem lapidaren Satz »Welche Auswirkungen die Denkschrift hatte, habe ich bisher nicht ermitteln können« (S.16). Der enttäuschte Leser mag sich damit trösten, daß der Autor immerhin seine unvernähten Fäden, an denen weitere Forschungen anknüpfen können, absichtsvoll im Text belassen hat.

Aufmachung der GIFT-Publikationen

Dem Primat der Vorläufigkeit zollt auch das materielle Erscheinungsbild der GIFT-Publikationen Tribut. Hochkopierte, unscharfe Photos auf den Titelblättern, wenig widerstandsfähige Kartoneinbände - Papier scheint den Verantwortlichen vergänglich wie der Stand der Forschung, so daß man andere Wege der medialen Distribution einschlug.14

Jeder GIFT-Titel benennt den konkreten Tag seiner Veröffentlichung, sprich das Datum seines Ausdruckes. Das hat Vorteile: dauert es im regulären Wissenschaftsbetrieb und im Verlagsgeschäft eine oft ärgerlich lange Zeit, bis Irrtümer berichtigt oder aktuelle Aufsätze nachgetragen werden, so bietet das GIFT-Modell die Möglichkeit, innerhalb kürzester Zeit zu reagieren und zu korrigieren. Die Verbesserung wissenschaftsinterner Kommunikation ist ein stetiges Desiderat und so ist es begrüßenswert, daß die Ergebnisse schneller an Interessenten gelangen.

Aktualität der GIFT-Publikationen

Dieses Verfahren tangiert andererseits die Halbwertszeit der Publikationen, die gegenwärtig im Umlauf sind, und stellt ihre Benutzer vor das Problem, sich möglicherweise einer Untersuchung zu bedienen, in der Details oder vielleicht auch ganze Kapitel zum Zeitpunkt der Lektüre bereits Makulatur sind. Eine Rückversicherung beim Verlag ist notwendig, um zu klären, ob der vorliegende ›state of print‹ dem ›state of mind‹ des Autors noch entspricht oder bereits überholte Informationen enthält.

Ebenso problematisch bleiben die vielen Hinweise auf bislang noch im Entstehen begriffene GIFT-Werke (»in Arbeit«), inklusive der dort dann nachzuliefernden Belege.15 Hier gerät das betont nachweisfreudige Verfahren ins Wanken.

Regression durch Entropie

Beispiele wie die Curricula vitae Bretschneiders und Gierachs zeigen: weder rückhaltlose Anpassung an politisch opportunes Verhalten noch wissenschaftliche Reputation (›richtiges‹ Parteibuch inklusive) führten zu dem gewünschten Erfolg. Die Genese der vorgestellten Wörterbuch-Projekte belegen die häufig als zu gering eingeschätzte Abhängigkeit wissenschaftlicher Karrieren von externen Faktoren.

Die Konstanz dieser Faktoren liegt, auch das wird deutlich, gerade in ihrer Unwägbarkeit: Zufälle, Launen, egoistische Bestrebungen um Ansehen innerhalb der gelehrten Gemeinschaft und in der Öffentlichkeit. Versuche, daraus stringente Kriterien hinsichtlich Karriere- bzw. Förderungssteuerung zu extrahieren, müssen letztlich scheitern.

Materialfülle als Chance und Hindernis

Mit der gleichen Gründlichkeit, mit der die nationalsozialistischen Verstrickungen der Germanistik dem Vergessen anheim fielen, macht sich die GIFT auf ihre Weise an die Arbeit, das Verdrängte wieder auszugraben. Eingelöst wird dadurch die in den letzten Jahren oft erhobene Forderung, wissenschaftsorganisatorische, hochschuladministrative und politische Vorgaben des Faches in den Blick zu nehmen. Verdienstvoll sind die Recherchemühen der Tübinger Forscher deshalb, weil sie bislang kaum bekanntes Material an die Oberfläche fördern. Die Funddichte wird allerdings auf ihre Weise zum Problem.

Die seit mehr als zwei Jahrzehnte fortwährende Kärrnerarbeit, die in den Publikationen steckt, unternahm Gerd Simon mehr oder weniger auf eigene Kosten. Das erklärt vielleicht die Belegfreudigkeit, zumal wenn, wie der Autor erklärt, »zum Themenbereich ›Sprachwissenschaft im 3. Reich‹ niemand auch nur annähernd über so viele nicht veröffentlichte [...] Informationen«16 verfüge als er selbst. Hierzu ist das GIFT-Team »in mehr als 70 Archiven ca. 5 Millionen Schriftstücke durchgegangen«, von denen über 40.000 Kopien und Exzerpte angefertigt wurden, die »nach mehreren Gesichtspunkten« geordnet und »karteimäßig erschlossen« sind.

Anhand der gigantischen Materialfülle verlangt es strikte Disziplin, verlockende Seitenwege zu meiden. Leider ist es den GIFT-Mitarbeitern nicht gelungen, im Hinblick auf ihre Editionen ein geeignetes Verfahren zur Reduktion der Aktenmassen zu entwickeln. Simon erweist sich als Meister der Digression. So öffnet er bereitwillig seinen Thesaurus, führt die immensen Schätze vor, belegt wie ein penibler Archäologe seine Fundstellen genau und kommt dabei immer wieder vom Weg, sprich der bündigen wissenschaftlichen Erzählung und überzeugenden Deutung ab.

Zwar war es geradezu Kennzeichen der NS-Hochschulpolitik, daß sie aus einer Mischung von relativ spontan einsetzendem Aktionismus bei gleichzeitiger Organisationsbesessenheit geprägt wurde und aus einem insgesamt schwer durchschaubaren, intrigenreichen Kampf um Kompetenzen und Macht bestand. Der Versuch, dieses Geflecht erschöpfend aufzudröseln, erweist sich selten als hilfreich.

Ermüdender Detailreichtum

Auszüge aus Anträgen, Denkschriften, Briefen und Gegen-Briefen etc. werden oft aneinandergereiht mit der Absicht, auch die verwickeltsten Operationen vor den Augen des Lesers durchzuexerzieren. Als Fallstudien gedacht, zerfallen die Studien in eine mikroskopische Beschreibung von Beziehungen und Intrigen, realisierten und verworfenen Plänen, in eine Präsentation von interessantem, neuem Material neben solchem, das nicht am Platze ist.

Im Gewirr wechselseitiger Rankünen bleibt man oft nur mit Mühe dem jeweiligen »Fall« auf der Spur und registriert nur noch die Dominanz persönlicher Animositäten, Entfremdungen und Fehden, die das wissenschaftliche Leben scheinbar vornehmlich bestimmten. Eine fachliche Auseinandersetzung, die es durchaus auch gab - in der Literaturwissenschaft etwa die Kontroverse zwischen Hermann Pongs und Gerhard Fricke17 -, findet nur am Rande Erwähnung (Ausnahme: Bretschneiders Querschüsse in Richtung Georg Schmidt-Rohr).

Fazit: Die Wissbegierde des Lesers schwindet mit fortschreitender Lektüredauer, die Akkumulation von Vorannahmen und Fakten, Namen, Daten und Dokumenten verursacht stattdessen eine Paralyse des Bewußtseins. Zuviele Beigaben verwässern das Gift.


Dr. Volker Michel
Deutsches Literaturarchiv
Schillerhöhe 8-10
D-71672 Marbach

Ins Netz gestellt am 11.12.2000

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4.1.2001
Eine Entgegnung auf diese Rezension stellt Gerd Simon, Vorsitzender der "Gesellschaft für interdisziplinäere Forschung" auf seiner homepage bereit. Für den Inhalt der verlinkten Seite übernimmt IASLonline keine Verantwortung.


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Anmerkungen

1 Nachzulesen in der Satzung, die sich auf der GIFT-homepage (www.uni-tuebingen.de/Deutsches-Seminar/gift/index.html) befand.   zurück

2 Informationen zur Gesellschaft für interdisziplinäre Forschung Tübingen e.V., ebd..    zurück

3 Gerd Simon: Blut & Boden-Dialektologie, S. VI.   zurück

4 U.a. Gerd Simon: Materialien über den Widerstand in der deutschen Sprachwissenschaft des Dritten Reiches. In: Gerd Simon (Hg.): Sprachwissenschaft und politisches Engagement. Zur Problem- und Sozialgeschichte einiger sprachtheoretischer, sprachdidaktischer und sprachpflegerischer Ansätze in der Germanistik des 19. und 20. Jahrhunderts. (Pragmalinguistik 18) Weinheim: Beltz 1979, S. 153-206. Gerd Simon: Die sprachsoziologische Abteilung der SS. In: Wilfried Kürschner u.a. (Hg.): Sprachtheorie, Pragmatik, Interdisziplinäres. Akten des 19. Linguistischen Kolloquium Vechta 1984. Tübingen: Niemeyer 1985, S. 375-396.    zurück

5 Christian Jansen zeigt beispielsweise, daß der Befund einer »geschlossen völkisch-konservativen Germanistik« so nicht haltbar ist. Christian Jansen: Im Kampf um die geistig-ideologische Führungsrolle in Universität und Gesellschaft. Die zwischen 1910 und 1925 in Deutschland lehrenden germanistischen Hochschullehrer im politisch- wissenschaftlichen Spektrum. In: Christoph König, Eberhard Lämmert (Hg.): Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1910-1925. Frankfurt/Main: Fischer 1993, S. 385-399, hier S. 395.   zurück

6 Vgl. jetzt hierzu Frank-Rutger Hausmann: »Deutsche Geisteswissenschaft« im Zweiten Weltkrieg. Die »Aktion Ritterbusch« (1940-1945). (Schriften zur Wissenschafts- und Universitätsgeschichte 1) Dresden, München: Dresden University Press 1998.   zurück

7 Unter »alternative Lebenswege« auch »KZ-Opfer« zu subsumieren wie Elise Richter, die Möglichkeiten zur Emigration ausschlug, scheint mir sehr verfehlt.   zurück

8 Vgl. etwa zwei weitere, von Gerd Simon angekündigten Bände Manfred Pechau. Linguist zwischen Saalschlachten und Massenmord und Buchfieber inklusive eines Kapitels »Tödlicher Bücherwahn«.   zurück

9 Gerd Simon: Blut & Boden-Dialektologie, S. VI. Untergründiges Movens der Untersuchung scheint auch die Empörung darüber zu sein, daß Bretschneider »es fertig brachte, über 50 Jahre von der Weimarer Republik über das 3. Reich, die sowjetisch besetzte Zone, die DDR und die BRD von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert zu werden«, ebd.   zurück

10 Ebd., S. VI.    zurück

11 Nicht unwichtig hingegen ist der Hinweis darauf, daß hinter Bretschneiders Vorpreschen "egoistische Motive" (S. 67) stehen können, konkret die Sorge um die finanzielle Unterstützung des Wörterbuch-Projektes.   zurück

12 Mit Blick auf Bretschneiders SD-Tätigkeit betont Simon die Verwandtschaft zwischen dialektologischer Forschung und geheimdienstlicher Personenrecherche, die in der »gleichen Methode der Informationsermittlung« liege. Vgl. Gerd Simon, Blut & Boden-Dialektologie, S. 10. Überhaupt begegnet man dem Verb »ermitteln« an zahlreichen Stellen des Textes.   zurück

13 Ebd., S. 53.   zurück

14 Deshalb soll die dritte Auflage des Katalogs die letzte in Papierform sein (stattdessen CD-ROM), print on demand stellt der GIFT-Verlag ebenfalls in Aussicht. Weiterhin wird die Absicht geäußert, die insgesamt auf fünf Bände hin angelegte Reihe »Wörterbücher im 3. Reich« auf einer Diskette zu vereinen.   zurück

15 Etwa Gerd Simon, Die hochfliegenden Pläne, S.11, Anm. 9: »Schweizer ist ein Kapitel gewidmet in: Gerd Simon: Was ist deutsch? (in Arbeit). Dort auch die Belege.« Oder ebd., S.12, Anm. 6: »Ich hoffe, in absehbarer Zeit einen diesbezüglichen Vortrag Höflers einzuleiten und zu veröffentlichen.«    zurück

16 Gerd Simon: Blut & Boden-Dialektologie, S. 4.   zurück

17 Holger Dainat: Voraussetzungsreiche Wissenschaft. Anatomie eines Konflikts zweier NS-Literaturwissenschaftler im Jahre 1934. In: Euphorion 88 (1994), S. 103-122.    zurück