GIFT: Kriminalgeschichte der Germanistik im Nationalsozialismus
- Joachim Lerchenmüller/Gerd Simon u.a.: Im Vorfeld
des Massenmordes. Germanistik und Nachbarfächer im 2. Weltkrieg. Eine
Übersicht. Tübingen: Verlag der Gesellschaft für interdisziplinäre
Forschung Tübingen e.V., 1997³.102 S. Kart. DM 45.- ISBN 3-932613-00-7
- Gerd Simon: Germanistik in den Planspielen des Sicherheitsdienstes
der SS. Erster Teil. Tübingen: Verlag der Gesellschaft für
interdisziplinäre Forschung Tübingen e.V.,1998. 119 S. Kart. DM 59,- ISBN 3-932613-06-6
- Gerd Simon: Die hochfliegenden Pläne eines »nichtamtlichen
Kulturministers«. Erich Gierachs ›Sachwörterbuch der Germanenkunde‹.
(Wörterbücher im 3. Reich 1) Tübingen: Verlag der Gesellschaft
für interdisziplinäre Forschung Tübingen e.V., 1998. 51 S. Kart. DM 30,- ISBN 3-932613-03-1
- Gerd Simon: Blut- und Boden-Dialektologie. Eine NS-Linguistin
zwischen Wissenschaft und Politik. (Wörterbücher im 3. Reich 2)
Tübingen: Verlag der Gesellschaft für interdisziplinäre Forschung
Tübingen e.V., 1998. 132 S. Kart. DM 45,- ISBN 3-932613-03-2
»Alle Dinge sind Gift, und nichts ist
ohne Gift. Die Menge allein macht, daß ein Ding
kein Gift ist.«
Paracelsus
GIFT und die bisherige Wissenschaftshistoriographie der Germanistik
Fachgeschichte hat bisher keinen festen Platz gefunden im Lehrplan
germanistischer Seminare. Gerade einem Fach, das fortwährend
Rechtfertigungszwängen unterworfen ist, steht dies schlecht zu Gesicht. Vielleicht ist es bezeichnend für den Stellenwert der
Wissenschaftsgeschichte an deutschen Hochschulen, daß eine
außeruniversitäre, dafür ordnungsgemäß in das
Vereinsregister eingetragene Gruppierung eine Bündelung der Kräfte anstrebt,
um auf ihre Weise für »praxisoffene, bedeutungskritische und interdisziplinäre
Forschung im Bereich der Geschichte der Geistes- und Sozialwissenschaften und der
interkulturellen Kommunikation« einzutreten.1
1996 wurde die
»Gesellschaft für interdisziplinäre Forschung Tübingen e.V.«,
einprägsam-vielsagend GIFT abgekürzt, gegründet. Auf der Homepage -
Stand: 25.06.1999, mehrfach aufgesucht im ersten Halbjahr 2000, mittlerweile
(vorübergehend?) nicht mehr aufrufbar - findet sich das Programm der GIFT in nuce:
die Gesellschaft will auf der Basis einer kritischen Reflexion
darüber, was Wissenschaft war, ist und sein könnte, Vernachlässigtem Geltung
verschaffen, Finger auf Wunden legen, Wissenschaftsfeindliches beim Namen nennen und
Einsprüche gegen alles Irrationale und Ungerechte im Forschungsbereich wirksam
bündeln.2
Zudem müsse Wissenschaft ihre Emanzipation den »sie tragenden
Mächten [...] ständig neu abtrotzen«. Ein Weg der Emanzipation, den GIFT
einschlug, war die Gründung eines eigenen Verlages, doch dazu weiter unten mehr.
Die Resonanz der disziplinären Gemeinschaft auf GIFT
Man wundert sich zunächst. Außerhalb der Institution
Universität schaffen sich Vertreter einer Disziplin einen wissenschaftlichen Raum, um
fachinterne Fragestellungen zu verhandeln. Die GIFT-Diaspora ist dazu eine
selbstgewählte, zumindest ist sie für den Außenstehenden so
wahrnehmbar. Darin unterscheidet sie sich von früheren, autoritär verordneten
Externalisierungen etwa aufgrund von Geschlecht oder Religionszugehörigkeit.
Was die Verzeichnung des Forschungsstandes aktueller Fachgeschichtsschreibung betrifft, so
registriert man im Anhang der GIFT-Bücher manche Lücken. Andererseits:
Innerhalb der gelehrten Gemeinschaft erfahren die Aktivitäten der GIFT bislang nicht
allzu große Resonanz. Ob dies an der gepflegten Außenseiter-Position liegt?
Oder an der geringen Wissenschaftswirksamkeit (i.S. intradisziplinär anerkannter
Leistung) derjenigen Gelehrten, auf die der Fokus gerichtet wird? Oder an manch anderen
Eigenheiten?
bisherige Wissenschaftshistoriographie in der Germanistik
Zunächst ein Schritt zurück, kurzes Resümee
des Bekannten: Maßgeblicher Anstoß für eine Auseinandersetzung mit der
NS-Vergangenheit des Faches gab der Münchner Germanistentag 1966. Die
Vorträge von Eberhard Lämmert (Germanistik - eine deutsche Wissenschaft)
und Karl Otto Conrady (Deutsche Literaturwissenschaft und Drittes Reich)
präsentierten dort unrühmliche Kontinuitäten und boten über
längere Zeit hinweg die methodische Vorgabe für die Art und Weise,
Fachgeschichte zu schreiben.
Das damit etablierte Paradigma der personenzentrierten,
zugleich ideologiekritischen Vorgehensweise führte in den folgenden Jahren dazu, die
durchweg konservative, antidemokratische Grundhaltung und die Affinität vieler
Ordinarien zu völkischer Anschauung anhand einschlägiger Textauszüge
und Zitate immer wieder zu reproduzieren. Anstatt kompilatorischer Produkte wäre
eine Überprüfung der Befunde auf breiterer Quellenbasis lohnenswerter und
von innovativer Wirkung gewesen.
Eine Stagnation innerhalb der Wissenschaftshistoriographie war
die Folge, die sich erst Mitte der 80er Jahre allmählich löste. Sozialhistorisch
orientierte Ansätze gingen parallel mit einer neuen Wertschätzung einer
Wissenschaft aus erster Hand. Quellen und Dokumente - Nachlässe, unedierte
Briefwechsel, Instituts- und Personalakten u.ä. -, die oft nach mühsamer
Recherchearbeit in (Universitäts)archiven aufgespürt wurden, lieferten
Aufschlüsse über die institutionelle und konzeptionelle Konstitution des Faches
seit seiner Begründung zu Anfang des 19. Jahrhunderts.
neue Wege in der Wissenschaftshistoriographie bei GIFT
Der Möglichkeiten, Fachgeschichte(n) zu schreiben, gibt es
also viele. Betont »dokumentennah«3 und
faktenorientiert wird auch in den vorliegenden Bänden Wissenschaftshistoriographie
betrieben. Im folgenden gilt es das Augenmerk auf den eigenen, durchaus als
nonkonformistisch zu bezeichnenden Weg zu richten, den der Erste Vorsitzende der GIFT,
der Tübinger Linguist Gerd Simon, und die ihm zuarbeitende, vornehmlich aus
Studenten bestehende Forschergruppe einschlägt. Aber auch hier zunächst ein
Blick zurück.
Überdruß gegen die oben beschriebene Wiederkehr
des Immergleichen, gegen den bequemen Wiederabdruck hinlänglich bekannter Texte
und Dokumente in Anthologien mag die fachgeschichtliche Initiation Gerd Simons
mitbewirkt haben. Stattdessen zog er für seine Untersuchungen bis dahin nur selten
genutztes hochschuladministratives Schriftgut (u.a. Protokolle, Stellungnahmen, Gutachten)
wie auch schwer zu ortende Ministerial- und Parteiakten aus den Beständen des
Bundesarchivs heran, lohnenswertes Quellenmaterial, wie sich bald zeigte, um aus
erweiterter Perspektive Licht auf die dunklen Stellen der Germanistik zu werfen.
Synthese aus personen- und institutionengeschichtlicher Darstellungen
Im
Zentrum seines Interesses stand von 1979 an zunächst Georg Schmidt-Rohr, ein
bis dato weitgehend in Vergessenheit geratener Sprachwissenschaftler. Schmidt-Rohr leitete die ›Lehr- und Forschungsstätte für
angewandte Sprachsoziologie‹ (so der akademische Tarnname), die der direkt Himmler
unterstellten Forschungsgemeinschaft ›Ahnenerbe‹ zugeordnet war.4
Die mit dem Prädikat ›kriegswichtig‹ versehenen Aktionspläne dieser
»Lehrstätte« galten der »geistigen Zersetzung« des Gegners und sahen hierfür
Sprachverbote, Begriffstabuisierungen oder Geschichtsklitterungen vor. Der mit Akribie
erarbeitete ›Sprachkampf‹ wurde seitens der NS-Ideologen als subtilere Variante des
militärischen Kampfes verstanden und dementsprechend gefördert.
Der Hinweis auf die Anfänge der Simonschen
Fachgeschichtsschreibung erfolgt nicht ohne Grund. Schon Anfang der 80er Jahre
führte seine Vorgehensweise, eine Synthese aus personen- und
institutionengeschichtlicher Darstellung, mikrobiographisch recherchierte Lebenswege vor
Augen. Mitgeliefert wurde weiterhin eine Rekonstruktion der Netzwerke, in denen sich die
jeweiligen Protagonisten bewegten, in die sie zwangsläufig hineingerieten, dort aber
ihrerseits versuchten, Einfluß zu nehmen.
Der gewählte
Untersuchungsgegenstand Schmidt-Rohr belegt zudem das Interesse an den wenig
bekannten Vertretern der Disziplin, die allerdings - anders als viele lippenbekenntnisfreudige
Ordinarien - in weit wirkungsvollerem, damit unheilbringendem Maße in die
Machenschaften des NS-Regimes verstrickt waren.
Germanistik und Nachbarfächer im 2. Weltkrieg
»Es gibt kein wirksameres Mittel zur Belebung und Vertiefung des
Studiums einer Wissenschaft als das Eindringen in ihr geschichtliches Werden«. Mit diesen
Worten des Chemikers Wilhelm Ostwald, 1909 Träger des Nobelpreises, leiten die
Herausgeber den bebilderten Katalog Germanistik und Nachbarfächer im 2.
Weltkrieg ein.
Die Exponate waren 1997 in Tübingen zu sehen. Entgegen der
Verlagsankündung ist diese Publikation kein »Überblickswerk über die
Fachgeschichte der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts« - dazu ist der
übergreifende Bezugsrahmen zu einseitig im Hinblick auf die ideologische
Ausrichtung der präsentierten Gelehrten gesteckt worden.
Konzeptionell bietet man eine Leistungsgeschichte ex negativo.
Die Frage nach ihrem Sinn, die den Geisteswissenschaften immer wieder
aufgedrängt wird, wird mit dem Bild einer auf Praxis und Einsatz bezogenen
Disziplin konfrontiert. »Das Eindringen« in das »geschichtliche Werden« der Wissenschaft
von deutscher Sprache und Dichtung erfolgt in Sprüngen. Erich Schmidt, Gustav
Roethe und Friedrich Panzer stehen stellvertretend für die nationalverbrämte
Philologie der Kaiserzeit, die Weimarer Republik erhält kein eigenes Kapitel.
Mit schnellen Schritten durcheilt man die Jahrzehnte, für
Differenzierungen bleibt keine Zeit.5 Die bekannt-berüchtigten
Repressalien des Jahres 1933 (Bücherverbrennung, Entlassungen aufgrund des
›Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums‹) als Schritte auf dem Weg zu
einer (freilich nie lückenlos realisierten) doktrinären Wissensvermittlung auf
rassistischen Fundamenten finden Erwähnung, doch der Fokus der Ausstellung
fällt auf anderes.
Kriegseinsatz der Geisteswisschenschaften
Wenn heute vom Kriegseinsatz der Wissenschaften die Rede ist,
richtet sich die Erwartungshaltung auf den technischen und medizinischen Bereich. Daß auch die Geisteswissenschaften ihren Beitrag leisten
wollten (auch um etwaigen Zweifeln an ihrer Existenzberechtigung entgegenzuwirken), ist
zwar naheliegend, aber kaum dokumentiert.6 Diesem
Versäumnis begegnet der Katalog ausführlich. Als Motto kann der Ausspruch
des Indogermanisten und Leiter des ›Kriegseinsatzes der Wissenschaft im Ostland‹, Kurt
Stegmann, gelten: »Die stille Studierstube des Gelehrten, fern ab vom Appell der Zwecke,
bleibt weiterhin Vorhof der Waffenschmiede« (S. 52).
Von besonderem Interesse sind die
unter der Führung von Sprach- und Literaturwissenschaftlern, Volkskundlern und
Historikern im verborgenen entwickelten Strategien, mit denen versucht wurde, das
kollektive Unterbewußtsein des militärisch besiegten Gegners zu ›nazifizieren‹.
Immer wieder waren es ehrgeizige, fachlich keineswegs hochqualifizierte Dozenten, die sich
in hochschulfernen Einrichtungen (wie den einzelnen Ämtern des ›Ahnenerbe‹)
engagierten.
Verbirgt sich im Namen der Disziplin ›Philologie‹ die Liebe zu
den Wörtern, so zeigt die sogenannte ›Entwelschungskampagne‹ im Elsaß, wie
die Etymologie ins Gegenteil verkehrt wurde. Worte hinterlassen Wunden, wenn es
verboten wird, sie zu gebrauchen. Erschreckende Beispiele aus den Jahren 1940/41: Vor-
und Nachnamen der elsässischen Bevölkerung deutschte man ein, ebenso die
französischen Straßen-, Orts- und Geschäftsnamen. Darüber,
daß ›chaud‹ und ›froid‹ auf den Wasserhähnen verschwand, wachte das
›Entwelschungsamt‹ in Straßburg.
Daß die vorgestellten wissenschaftlichen Ansätze
ebenso wie die beschrittenen Vermittlungswege auf der Höhe der Zeit waren (etwa
die aggressive antifranzösische Propaganda in der Bretagne unter Einsatz des
Mediums Radio) ist auffällig. Andererseits wartet der Katalog auf mit der
Präsentation ungewöhnlicher Kompilationen (Lautdenkmal reichsdeutscher
Mundarten, bestehend aus 360 Schallplatten, die Hitler zum Geburtstag bekam),
akademischen Bluffs (die gefälschte Ura Linde-Chronik) und Kuriositäten (eine
in zimbrischer Sprache verfaßte Grammatik, die trotz Papierrationierung 1944
erscheinen konnte).
Konformität und Widerstand
Von aufstrebenden Nichtordinarien, die sich vom Geist der neuen Zeit
an der Universität einen Karrieresprung erhofften - im Jargon des Buches
»Konjunkturritter« oder auch »Wendehälse« (S. 21) genannt - ist leider nur kurz die
Rede. Ein Exkurs auf die treibenden Kräfte nationalsozialistischer Hochschulpolitik
und die damit verbundenen hochschulpolitischen Ziele des NS-Regimes wäre nicht
fehl am Platze gewesen. Ebenso kommt das Verhalten der Studentenschaft nur im Abschnitt
über die Bücherverbrennung zur Sprache.
Mitzutun war nicht jedermann gewillt. Auf
»alternative Lebenswege« von Emigranten, ausländischen Germanisten,
Widerstandskämpfern, macht das gleichnamige Schlußkapitel aufmerksam.7 Was man vermißt, ist ein Blick auf den »großen Haufen der
Gleichgültigen« (1936 zitierte Jonas Fränkel dieses Gottfried Keller-Wort), die
›Durchschnitts‹-Germanisten, die nach 1933 in Deutschland blieben, weiterhin ihrem
philologischen Ethos folgten, sprich apolitisch Lehre betrieben, manche davon mit
pronazistischen Lippenbekenntnissen, andere zumindest mit partieller Widerstandshaltung.
Walter Rehms Weigerung, am Gemeinschaftswerk Von deutscher Art in Sprache und Dichtung mitzuwirken, wird immerhin erwähnt. Eines der größten
Versäumnisse der Germanistik, gegen die brutalen (hochschul)politischen
Konsequenzen, die Hitlers Aufstieg nach sich zog, die Stimme zu erheben, läßt
sich schwerlich ausstellen, beschreiben hingegen schon.
Wenn auch im Rahmen einer Bestandsaufnahme einer teleologischen
Ausrichtung stets mit Vorsicht zu begegnen ist - von »Des Kaisers Germanisten«
verläuft keine durchgehende Linie zum »Germanischen Wissenschaftseinsatz der SS«
- so dokumentiert der Katalog den Verdienst der Tübinger Ausstellung:
nämlich öffentlichkeitswirksam die Mär von der wirklichkeitsfernen
Wissenschaft Germanistik destruiert zu haben, einer, wie gezeigt wurde,
geltungswütigen Disziplin, die sich selbst allzu bereitwillig dem Unrecht auslieferte.
stilistische Mängel
Unangenehm fallen hingegen manche sprachliche Entgleisungen
auf, wie insgesamt die Titel des Verlages eine erhebliche (giftige?) Lautstärke auszeichnet.8 Da ist von der
»berüchtigten Feigheit« Alfred Baeumlers die Rede (S. 32) und davon, daß der
Neurologe und Linguist Zwirner »mit einem dezimierten Moralquotienten« versehen war
(S. 72), es wimmelt von »Himmler-«, »Rosenberg-« und »Goebbels-Leuten« oder man
nennt Germanisten, die Kollegen »verpfeifen« (S. 38).
Mit Superlativen geht man
großzügig um: Adolf Reichwein war gleich »einer der vielseitigsten Menschen
dieses Jahrhunderts« (S. 90) wie auch Eberhard Zwirner von den Autoren als »vermutlich
der begabteste deutsche Sprachwissenschaftler in diesem Jahrhundert« eingeschätzt
wird. Als der »mächtigste Sprachwissenschaftler, den es je gab« (S. 51) firmiert
Walther Wüst, Verfasser eines Alt-Indoarischen Wörterbuchs, zeitweilig
(1937) Präsident des ›Ahnenerbe‹ und Rektor der Universität München.
Befremdend hierbei der Zusatz, daß man während der Nürnberger
Prozesse im Falle Wüsts »unglaubliche Milde« (S. 63) walten ließ, indem man
nicht ihn hinrichtete, sondern den Reichsgeschäftsführer des ›Ahnenerbe‹,
Wolfram Sievers. Wenn schon Köpfe rollen sollen, dann auch die richtigen? Wie sehr
man auch einen wohltuenden Verzicht auf sprachliche Geschraubtheit registriert, so wirkt
doch der angeschlagene saloppe Tonfall gelegentlich übertrieben.
Germanistik in den Planspielen des Sicherheitsdienstes der SS
Im Mittelpunkt des Bandes Germanistik in den Planspielen des
Sicherheitsdienstes der SS steht die Edition einer Denkschrift, die aus einem ehemaligen
stasieigenen Archiv mit Dokumenten aus dem Dritten Reich zutage gefördert wurde.
Über die dabei aufgefundene Rarität kursierten bislang nur Vermutungen. Der
Provenienz nach gehört das Dossier zu den geheimen Lageberichten, die der
Sicherheitsdienst der SS u.a. auch für den Bereich ›Wissenschaft‹ anfertigen
ließ.
Die knapp fünfzigseitige Einleitung enthält bereits
Bekanntes: die Lebensläufe maßgebender Protagonisten aus dem Umfeld des
Sicherheitsdienstes wie Franz Alfred Six, Ernst Turowski u.a. werden knapp rekapituliert
und bieten dem, der schon den Tübinger Katalog gelesen hat, keine neuen
Informationen. Anders dagegen das vom Herausgeber im Vorwort angepriesene »in
mehrfacher Hinsicht unvergleichliche Elaborat«, das in der Tat von herausragender
Bedeutung ist.
Edition einer Denkschrift im Mittelpunkt
Lage und Aufgaben der Germanistik und deutschen
Literaturwissenschaft, verfasst 1938 aller Voraussicht nach von Hans Rössner,
seinerzeit Dozent an der Universität Bonn, ist eine Bestandsaufnahme des
Wissenschaftsbetriebes fünf Jahre nach der Machtergreifung. Publikationsorgane,
Institutionen und repräsentative Vertreter des Faches werden nach ihrer politischen
Einstellung hin aufgelistet und bewertet, gewissermaßen eine Evaluation der
Gelehrtenschaft unter nationalsozialistischen Prämissen.
Die Riege der positiv
bewerteten Wissenschaftler ist dünn besetzt, die Namen (u.a. H. Burger, O.
Höfler, H. Kindermann, F. Koch, K. Obenauer) überraschen kaum.
Rössner rubriziert die »Gegner« in die Kategorien »Freimaurer / Rotarier«, »Juden«,
»Katholiken«, »Liberale und Reaktionäre«. Einige Namen (z.B. Ernst Beutler) finden
sich gleich in zwei Kategorien wieder, manche Zuordnungen dürften schlichtweg
unkorrekt sein.
Rössners Werturteile berühren auf merkwürdige Weise,
müssen doch die positiven Notierungen aus heutiger Sicht zu Lasten der
beschriebenen Wissenschaftler gehen. Kurios auch die Sorge des NS-Ideologen um den
negativen »Einfluss auf den Nachwuchs«, den die Verfemten (u.a. L. Magon, A. Soergel, P.
Witkop) ausüben, da sie »zumeist über gute wissenschaftliche
Fähigkeiten verfügen« (S. 12).
Die »neuen Aufgaben« der Germanistik werden erläutert,
Pläne zur inhaltlichen und personalen Umgestaltung vorgestellt, die Details (z.B.
Motivation von Erstsemestern) nicht aussparen. Die im Anhang vom Herausgeber
präsentierten Satellitendokumente verdeutlichen weitere intellektuelle Anstrengungen
zur Etablierung der Germanistik - im damaligen Verständnis ein Amalgam aus
Volkskunde, Ur- und Frühgeschichte sowie Sprach- und Literaturwissenschaft - als
Quasi-Wissenschaftsreligion.
Damit einer zukünftigen Einlösung harrend,
blieben allerdings die tatsächlich eingelösten Bemühungen zur
»Mobilisierung der seelischen und geistigen Kräfte des Volkes«
glücklicherweise gering. Die Edition dieses Dokumentes dürfte einen Gewinn
für weitere Forschungen zur Rolle der Germanistik in der nationalsozialistischen
Hochschulpolitik darstellen.
Wörterbücher im 3. Reich (I)
Die hochfliegenden Pläne eines »nichtamtlichen Kulturministers« betreffen die Kompilation und Edition eines auf 15 bis 20 Bände angelegten
Sachwörterbuchs der Germanenkunde. Erich Gierach, ordentlicher Professor
für Deutsche Philologie an der Universität München, dessen Bild auf dem
Umschlag plaziert ist, ist aber nur der Mitverfasser dieses Planes. Sein Co-Autor wird nur
mit Nachnamen (»Brecht«) genannt, wobei es sich um den Münchner Ordinarius
für Neuere deutsche Literaturgeschichte, Walther Brecht, handeln dürfte.
Wahrscheinlich ist dessen Leben nicht »so spannend und ereignisreich« (S. 1) wie das
Gierachs, das auf den Seiten 1 bis 4 geschildert wird (und damit 1/5 des gesamten
Begleittextes ausmacht). Erwünscht war seinerzeit ein Handbuch, das es mit der
Realencyclopädie des klassischen Altertums von Pauly/Wissowa aufnehmen, wenn diese
nicht sogar übertreffen sollte. Der Vorrangstellung des Deutschtums sollten auf
universitärem Gebiet Taten folgen, »ein Gebot der Zeit« (Brecht/Gierach),
darüber hinaus ein Desiderat der Forschung.
Ein Sachwörterbuch der Germanenkunde als Prestigeobjekt
Nicht übersehen werden darf, daß Gierach sich wohl
zweifach vergeblich mühte, nach Berlin, an das damals renommierteste germanistische
Seminar Deutschlands, berufen zu werden. Hervorgehoben werden muß auch,
daß das Wörterbuchprojekt 1936 schriftlich erstmalig in einem Antrag an das
Wissenschaftsministerium formuliert wurde, der vorrangig eine verbesserte materielle
Ausstattung des Münchner Seminars für deutsche Philologie zum Gegenstand
hatte.
Quasi als Ausgleich für die entfallenden letzten höheren Weihen sollte an
der zweitangesehensten Universität des Reiches ein Prestigeprojekt entstehen,
vielleicht auch um den Berlinern zu beweisen, was sie an Gierach verloren hatten. Dennoch
gelangte das Wörterbuch-Unternehmen nicht über das Planungsstadium hinaus.
Was waren nun die Gründe, die es zu Fall brachten?
Fachinterne Intrigen
Gierach hatte das Pech, daß zu den ersten Lesern des
Antrages der bereits oben vorgestellte Walther Wüst gehörte. Zum zweiten
Male Pech hatte Gierach, daß ein ehrgeiziger Oberstudiendirektor aus Heidelberg
sozusagen im Alleingang ein Sachwörterbuch der deutschen Vorzeit fertigte und
dieses einem mit dem ›Ahnenerbe‹ kooperierenden Verlag anbot. Schließlich kam
Gierach noch ein Projekt mit dem Titel Erschließung des germanischen Erbes ins
Gehege, wiederum dem ›Ahnenerbe‹ zur Stellungnahme unterbreitet. Kurz: je mehr
offizielle Hände im Spiel waren, desto geringer wurden Gierachs Chancen zur
Realisierung des Sachwörterbuchs.
Dem expansiven Macht- und
Geltungsbewußtsein von Wissenschaftspolitikern vom Format eines Walther
Wüst hatte Gierach wenig entgegenzusetzen. Revierkämpfe und geheime
Absprachen taten das ihrige zur Schwächung seiner Position, vollends aufgedeckt
werden die Mechanismen des Mißlingens jedoch nicht. Mit einem kurzen Hinweis
wird die verworrene Situation aufgelöst: Man habe »einen Webfehler in Gierachs
Leben« gefunden, dessen »angebliche Beziehungen zu einem ungenannten Prälaten,
vermutlich durch den Sicherheitsdienst entdeckt«, was »dem Forschungsrat anscheinend«
genügte, »um ihn [= Gierach] aus dem Rampenlicht zu nehmen« (S. 11). Daß
das Scheitern der hochfliegenden Pläne eines ›nichtamtlichen Kulturministers‹
entgegen der sonstigen Kommentierungsintensität mit einer Art Deus ex machina-
Pointe begründet wird, ist letztlich ein wenig unbefriedigend.
Wörterbücher im 3. Reich (II)
Was GIFT bzw. ihr Erster Vorsitzender mit der jeweiligen Publikation
beabsichtigen, erfährt der Leser in unterschiedlicher Dichte per Vorrede und/oder
Einleitung. Das Vorwort des Bandes Blut & Boden-Dialektologie. Eine NS-Linguistin
zwischen Wissenschaft und Politik bietet wesentliche Orientierung über
Ansprüche der Reihe Wörterbücher im Dritten Reich.
»Hauptziel« seiner wissenschaftsgeschichtlichen Forschungen sieht
Simon in der »Ermittlung des Zusammenwirkens von Wissenschaft und Praxis«.9 Im Zentrum stehe für ihn die Frage, wie Wissenschaft »von
Politik, Wirtschaft, Militär oder anderen Mächten (Religionsgemeinschaften,
Rechtsinstanzen usw.)« vereinnahmt werde.10 Leider fehlt dem Buch die klare Linie, die die programmatische
Einführung entwirft.
Anneliese Bretschneider als engagierte Nationalsozialistin
Was die fachgeschichtliche Bedeutung von Anneliese
Bretschneider, der Protagonistin dieser Studie, ausmacht und welchen politischen Nutzen
man aus ihren dialektologischen Studien ziehen konnte, läßt sich auf den
beschrittenen Haupt- und Nebenwegen leider nur häppchenweise auflesen.
Anneliese Bretschneider promoviert 1923 in Marburg und ist an
gleicher Stelle ab Juni 1924 als wissenschaftliche Assistentin am Deutschen Sprachatlas
beschäftigt. Ihre Nähe zu völkischen Positionen tritt früh zutage,
wenngleich sie erst 1932 Parteimitglied wird. Eifrig und offensiv gegenüber Kollegen
und Funktionären auftretend, versucht sie, die Ergebnisse ihrer Untersuchungen
für die Außenpolitik Nazi-Deutschlands, namentlich in den Ostgebieten,
fruchtbar zu machen. Den bedrängten deutschen Volksgenossen im Ausland solle man
in ihrem »Willen zur Heimatsprache« (Bretschneider) entgegenkommen, was nur über
entsprechende finanzielle und institutionelle Unterstützung zu erreichen sei.
Ein Wörterbuch als geistige Angriffswaffe
Einmal mehr werden von Gerd Simon wissenschaftspolitische
Ränkespiele um Fördergelder und um die Gunst von maßgebenden
Personen in extenso vorgeführt. Zugleich möchte er aber am Beispiel des von
Bretschneider begründeten Brandenburg-Berlinischen Wörterbuchs
verdeutlichen, daß »ein noch heute als harmlos eingestuftes wissenschaftliches Projekt
wie ein Wörterbuch« (S. 68) in Kriegzeiten als geistige Angriffswaffe eingesetzt
werden könne.
Parallel zum deutschen Einmarsch in Polen wiederholt
Bretschneider in einer Schrift ans Auswärtige Amt den Vorschlag, die
dialektologische Forschung »für den Kampf des Führers nutzbar zu machen«
(S. 66). Sie erklärt sich bereit, »[...] zuverlässige Karten oder andere
Übersichten herzustellen, die als Nachweis für das Deutschtum in den
Provinzen Posen und Westpreußen dienen können« (S. 67). Angesichts des
Angriffes auf Polen sei dies insbesondere als Rechtfertigung gegenüber den zu
erwarteten Protesten des Auslands nützlich. Dem Sprachgebrauch der
Bevölkerung innerhalb einer Region wird größere Aussagekraft
zugeschrieben als etwa schriftlichen Quellen. Der Konnex »Blut-und-Boden« ist - so
Bretschneiders Überzeugung - um das Wort »Sprache« zu erweitern.
Wie gefährlich wurde das Brandenburg-Berlinische Wörterbuch? War sie
nun mit ihren Avancen erfolgreich? Offensichtlich nicht, denn
hierüber wird nichts weiter berichtet.11
Bretschneiders wissenschaftliche und stasiinterne DDR-Karriere
Von Bretschneiders Existenz nach 1945 erfährt der Leser
wenig, dafür umso Überraschenderes. Keineswegs ist ihre wissenschaftliche
Karriere zu Ende, vielmehr erhält sie eine Professur an der PH Potsdam und wird
Mitglied in der Berliner Akademie der Wissenschaften. Die fortgesetzte Laufbahn in der
DDR mag erstaunen, da der Staatssicherheit ihre NS-Vergangenheit bekannt gewesen sein
dürfte. Möglicherweise hat sie von Bretschneiders Insider-Wissen profitiert,
wie Simon mutmaßt. Aber die Auswertung der Unterlagen der Gauck-Behörde
bleibt weiterhin ein weites Feld. Denkbar ist es allemal, daß es ebenfalls von der
GIFT-Gruppe beackert wird.
1981 erscheint noch einmal eine größere Arbeit
von Bretschneider, Die brandenburgische Sprachlandschaft, »ein sehr faktenreiches, rein
deskriptives Opus« (S. 73), dessen Drucklegung, wie Simon hervorhebt, von der DFG
gefördert wurde. Inwieweit man darin dieselben Wortkarten aus dem Brandenburg-
Berlinischen Wörterbuch der frühen 40er Jahre, nun wieder mit
wissenschaftlich ›korrekten‹ Eintragungen finden kann, hätte man gerne
gewußt.
Nicht vorenthalten wird dem Leser dagegen, daß
Bretschneider ab 1940 für den Sicherheitsdienst arbeitet, und - mit vergleichbaren
Aufgaben bedacht - im ›Kulturpolitischen Archiv‹ des Amtes Rosenberg tätig ist, wo
sie als Leiterin der Auskunftsstelle die weltanschauliche Verläßlichkeit nicht nur
von Wissenschaftlern resümiert. Kurios das wiederabgedruckte Gutachten über
Luis Trenker, folgenreicher dagegen die negative Beurteilung Georg Schmidt-Rohrs, dessen
Rehabilitierungsbemühungen Bretschneider tatkräftig zu verhindern sucht.
Resümée der Bretschneider-Biographie und Kritik an der Argumentationsweise Simons
Ob das Leben Anneliese Bretschneider »an und für sich
erzählenswert« (S. 76) ist, sei dahingestellt. In disziplin- und personengeschichtlichen
Nachschlagewerken sucht man ihren Namen vergeblich - mit der immerhin signifikanten
Ausnahme des Gelehrten-Kürschners von 1940/41. Ihr Ehrgeiz und ihre forsche Art,
mit denen sie versuchte, in der Männer-Domäne Wissenschaft eigene Projekte
zu realisieren, fallen auf. Mit den Resultaten der vorliegenden Untersuchung kann sie nicht
mehr konfrontiert werden, da sie in den 90er Jahren verstorben ist.
Mittels der Vielzahl an
ausgewerteten Archivalien entsteht die Biographie eines Menschen, dessen Handlungen
durch eine fest verankerte nationalistische und antisemitische Geisteshaltung bestimmt
wurden. Zweifel oder Skrupel blieben bei Bretschneider außen vor, soweit die
benutzten Quellen (darunter weder Briefe noch autobiographische Äußerungen)
diese Einschätzung erlauben. Versuche, weiteres Material aufzuspüren, um
»Bretschneider insgesamt in einem menschlicheren Licht erscheinen [zu] lassen«, enden -
mit einer Ausnahme (vgl. S. 50) - erfolglos.
Diese ein wenig überraschend vorgebrachte pro rea-
Anstrengung leitet über zu den Vorbehalten, die man gegenüber der
angewandten Argumentationsweise haben muß. Denn wenn auch das unverstellt
subjektive Herangehen des Autors anerkennenswert ist, so weckt es auch Bedenken,
insbesondere dann, wenn Gerd Simon in seine ganz eigene Begrifflichkeit verfällt
(vgl. etwa die Differenzierungen zwischen »Bekenntnis-«, »Bio-«, »Kultur-«, und
»Offensivrassistin«) oder wenn er sich tatsächlich in die justitiable Sphäre
begibt: so falle es ihm »ausgesprochen schwer, ihr [= Bretschneider] präzise
nachzuweisen, daß ihr Rassismus auch nur in einem einzelnen Fall lebensbedrohliche
Konsequenzen hatte« (S. 55). Das wäre - wenn nicht ob der Verjährung sinnlos
- die Aufgabe der Staatsanwaltschaft, nicht die eines Fachhistorikers.
Indizienwissenschaft
Was GIFT präsentiert, liest sich als Kriminalgeschichte des Faches.
Forschung und Fahndung passen durchaus zusammen. Von jeher
verlangt Hermeneutik nach einem hermetischen Tun, waren Wissenschaftler Jäger,
Sammler, Spurensucher.12 Spuren tragen dabei die Aura des
Authentischen, obwohl es bis auf wenige Ausnahmen (Fingerabdruck, genetischer Code)
keine fälschungssicheren Spuren gibt.
Gerade weil man der Spur Authentizität
zubilligt, ist der hier und auch in den anderen GIFT-Publikationen angeschlagene Ton der
Mutmaßung bedenklich. Wendungen wie »[xy] dürfte erfahren haben«, »der
Verdacht liegt nahe, daß [...]«, »Es ist auch nicht ausgeschlossen, daß [...]«,
»unter Umständen«, Wörter wie »vermutlich«, »anscheinend«, »offenbar«,
»wahrscheinlich«, »sicher« suggerieren, wenn sie gehäuft auftreten, Verstrickungen,
deren Beweisbarkeit aussteht.
Fraglich ist, ob das kritische Leserbewußtsein diesem
untergründigen Sog auf Dauer standhalten kann. Von der vermuteten Tat zur
Tatsache ist es ein weiterer Weg, als es die Art und Weise nahelegt, wie hier manches
augenscheinlich gemacht wird, zumal man sich dem Ethos der All-Belegbarkeit verschrieben
hat.
Wenn Simon schreibt, »leider schweigen sich
an dieser Stelle die mir bekannten Archivalien aus, so daß ich die folgenden nicht
belegten Aussagen bislang nicht in den Bereich zuverlässiger Informationen treiben
konnte«13, so weist er damit selbst sehr direkt auf die Problematik
seiner Methode hin. Wohlgemerkt: gerade Gerd Simon behandelt den Themenbereich der
Fälschung und Manipulationen mit gebotener Vorsicht; dennoch liegt die Gefahr in
der Herstellung von Tendenzen mittels Arrangieren von Zitaten, Fakten und
Mutmaßungen, die sich im Gedächtnis des Lesers nach und nach zu Indizien
subsumieren können. Zwar beabsichtige man (gemäß Punkt 3 des GIFT-
»Grobplans«), gezielt »erste Vorannahmen und vorläufige Ergebnisse« zu
präsentieren, was nicht grundsätzlich abzulehnen ist, doch scheint auf diesem
hochsensiblen Terrain Zurückhaltung angebrachter zu sein.
Unzureichend kommentierte Quellen
Auch wecken gelegentlich ausführliche Quellenzitate
Erwartungen, deren Einlösung einem unbestimmten Später vorbehalten bleibt.
So wird Bretschneiders Versuch, 1933 stärkeren Einfluß auf die Geschicke des
Deutschen Sprachatlas zu nehmen, durch eine vollständig abgedruckte Denkschrift
aus ihrer Feder (Errichtung eines Volkstumsforschungsinstituts in Berlin) dokumentiert. Darin finden sich konkrete Vorschläge zu Projektgestaltung, Personalfragen
und Mittelerwerbung versammelt.
Simons knappe Kommentierung dieses, dem ›Kampfbund
für deutsche Kultur‹ (KfdK) vorgelegten Dokuments, endet mit dem lapidaren Satz
»Welche Auswirkungen die Denkschrift hatte, habe ich bisher nicht ermitteln können«
(S.16). Der enttäuschte Leser mag sich damit trösten, daß der Autor
immerhin seine unvernähten Fäden, an denen weitere Forschungen
anknüpfen können, absichtsvoll im Text belassen hat.
Aufmachung der GIFT-Publikationen
Dem Primat der Vorläufigkeit zollt auch das materielle
Erscheinungsbild der GIFT-Publikationen Tribut. Hochkopierte,
unscharfe Photos auf den Titelblättern, wenig widerstandsfähige
Kartoneinbände - Papier scheint den Verantwortlichen vergänglich wie der
Stand der Forschung, so daß man andere Wege der medialen Distribution
einschlug.14
Jeder GIFT-Titel benennt den konkreten Tag seiner
Veröffentlichung, sprich das Datum seines Ausdruckes. Das hat Vorteile: dauert es
im regulären Wissenschaftsbetrieb und im Verlagsgeschäft eine oft
ärgerlich lange Zeit, bis Irrtümer berichtigt oder aktuelle Aufsätze
nachgetragen werden, so bietet das GIFT-Modell die Möglichkeit, innerhalb
kürzester Zeit zu reagieren und zu korrigieren. Die Verbesserung
wissenschaftsinterner Kommunikation ist ein stetiges Desiderat und so ist es
begrüßenswert, daß die Ergebnisse schneller an Interessenten gelangen.
Aktualität der GIFT-Publikationen
Dieses Verfahren tangiert andererseits die Halbwertszeit der Publikationen, die
gegenwärtig im Umlauf sind, und stellt ihre Benutzer vor das Problem, sich
möglicherweise einer Untersuchung zu bedienen, in der Details oder vielleicht auch
ganze Kapitel zum Zeitpunkt der Lektüre bereits Makulatur sind. Eine
Rückversicherung beim Verlag ist notwendig, um zu klären, ob der vorliegende
›state of print‹ dem ›state of mind‹ des Autors noch entspricht oder bereits überholte
Informationen enthält.
Ebenso problematisch bleiben die
vielen Hinweise auf bislang noch im Entstehen begriffene GIFT-Werke (»in Arbeit«),
inklusive der dort dann nachzuliefernden Belege.15 Hier
gerät das betont nachweisfreudige Verfahren ins Wanken.
Regression durch Entropie
Beispiele wie die Curricula vitae Bretschneiders und Gierachs zeigen:
weder rückhaltlose Anpassung an politisch opportunes Verhalten noch
wissenschaftliche Reputation (›richtiges‹ Parteibuch inklusive) führten zu
dem gewünschten Erfolg. Die Genese der vorgestellten Wörterbuch-Projekte
belegen die häufig als zu gering eingeschätzte Abhängigkeit
wissenschaftlicher Karrieren von externen Faktoren.
Die Konstanz dieser Faktoren liegt,
auch das wird deutlich, gerade in ihrer Unwägbarkeit: Zufälle, Launen,
egoistische Bestrebungen um Ansehen innerhalb der gelehrten Gemeinschaft und in der
Öffentlichkeit. Versuche, daraus stringente Kriterien hinsichtlich Karriere- bzw.
Förderungssteuerung zu extrahieren, müssen letztlich scheitern.
Materialfülle als Chance und Hindernis
Mit der gleichen Gründlichkeit, mit der die
nationalsozialistischen Verstrickungen der Germanistik dem Vergessen anheim fielen, macht
sich die GIFT auf ihre Weise an die Arbeit, das Verdrängte wieder auszugraben.
Eingelöst wird dadurch die in den letzten Jahren oft erhobene Forderung,
wissenschaftsorganisatorische, hochschuladministrative und politische Vorgaben des Faches
in den Blick zu nehmen. Verdienstvoll sind die Recherchemühen der Tübinger
Forscher deshalb, weil sie bislang kaum bekanntes Material an die Oberfläche
fördern. Die Funddichte wird allerdings auf ihre Weise zum Problem.
Die seit mehr als zwei Jahrzehnte fortwährende
Kärrnerarbeit, die in den Publikationen steckt, unternahm Gerd Simon mehr oder
weniger auf eigene Kosten. Das erklärt vielleicht die Belegfreudigkeit, zumal wenn,
wie der Autor erklärt, »zum Themenbereich ›Sprachwissenschaft im 3. Reich‹
niemand auch nur annähernd über so viele nicht veröffentlichte [...] Informationen«16 verfüge als er
selbst. Hierzu ist das GIFT-Team »in mehr als 70 Archiven ca. 5 Millionen
Schriftstücke durchgegangen«, von denen über 40.000 Kopien und Exzerpte
angefertigt wurden, die »nach mehreren Gesichtspunkten« geordnet und
»karteimäßig erschlossen« sind.
Anhand der gigantischen Materialfülle verlangt es strikte
Disziplin, verlockende Seitenwege zu meiden. Leider ist es den GIFT-Mitarbeitern nicht
gelungen, im Hinblick auf ihre Editionen ein geeignetes Verfahren zur Reduktion der
Aktenmassen zu entwickeln. Simon erweist sich als Meister der Digression. So öffnet
er bereitwillig seinen Thesaurus, führt die immensen Schätze vor, belegt wie ein
penibler Archäologe seine Fundstellen genau und kommt dabei immer wieder vom
Weg, sprich der bündigen wissenschaftlichen Erzählung und
überzeugenden Deutung ab.
Zwar war es geradezu Kennzeichen der NS-Hochschulpolitik,
daß sie aus einer Mischung von relativ spontan einsetzendem Aktionismus bei
gleichzeitiger Organisationsbesessenheit geprägt wurde und aus einem insgesamt
schwer durchschaubaren, intrigenreichen Kampf um Kompetenzen und Macht bestand. Der
Versuch, dieses Geflecht erschöpfend aufzudröseln, erweist sich selten als
hilfreich.
Ermüdender Detailreichtum
Auszüge aus Anträgen, Denkschriften, Briefen und Gegen-Briefen
etc. werden oft aneinandergereiht mit der Absicht, auch die verwickeltsten Operationen vor
den Augen des Lesers durchzuexerzieren. Als Fallstudien gedacht, zerfallen die Studien in
eine mikroskopische Beschreibung von Beziehungen und Intrigen, realisierten und
verworfenen Plänen, in eine Präsentation von interessantem, neuem Material
neben solchem, das nicht am Platze ist.
Im Gewirr wechselseitiger Rankünen bleibt man oft nur mit
Mühe dem jeweiligen »Fall« auf der Spur und registriert nur noch die Dominanz
persönlicher Animositäten, Entfremdungen und Fehden, die das
wissenschaftliche Leben scheinbar vornehmlich bestimmten. Eine
fachliche Auseinandersetzung, die es durchaus auch gab - in der Literaturwissenschaft
etwa die Kontroverse zwischen Hermann Pongs und Gerhard Fricke17 -, findet nur am Rande Erwähnung (Ausnahme:
Bretschneiders Querschüsse in Richtung Georg Schmidt-Rohr).
Fazit: Die
Wissbegierde des Lesers schwindet mit fortschreitender Lektüredauer, die
Akkumulation von Vorannahmen und Fakten, Namen, Daten und Dokumenten verursacht
stattdessen eine Paralyse des Bewußtseins. Zuviele Beigaben verwässern das
Gift.
Dr. Volker Michel
Deutsches Literaturarchiv
Schillerhöhe 8-10
D-71672 Marbach
Ins Netz gestellt am 11.12.2000
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4.1.2001 Eine Entgegnung auf diese Rezension stellt Gerd Simon, Vorsitzender der "Gesellschaft für interdisziplinäere Forschung" auf seiner homepage bereit. Für den Inhalt der verlinkten Seite übernimmt IASLonline keine Verantwortung.
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Anmerkungen
1 Nachzulesen in der Satzung, die sich auf der GIFT-homepage
(www.uni-tuebingen.de/Deutsches-Seminar/gift/index.html) befand. zurück
2 Informationen zur Gesellschaft für
interdisziplinäre Forschung Tübingen e.V., ebd.. zurück
3 Gerd Simon: Blut & Boden-Dialektologie, S. VI.
zurück
4 U.a. Gerd Simon: Materialien über den Widerstand in der
deutschen Sprachwissenschaft des Dritten Reiches. In: Gerd Simon (Hg.): Sprachwissenschaft und
politisches Engagement. Zur Problem- und Sozialgeschichte einiger sprachtheoretischer, sprachdidaktischer
und sprachpflegerischer Ansätze in der Germanistik des 19. und 20. Jahrhunderts. (Pragmalinguistik
18) Weinheim: Beltz 1979, S. 153-206. Gerd Simon: Die sprachsoziologische Abteilung der SS. In:
Wilfried Kürschner u.a. (Hg.): Sprachtheorie, Pragmatik, Interdisziplinäres. Akten des 19.
Linguistischen Kolloquium Vechta 1984. Tübingen: Niemeyer 1985, S. 375-396. zurück
5 Christian Jansen zeigt beispielsweise, daß der Befund
einer »geschlossen völkisch-konservativen Germanistik« so nicht haltbar ist. Christian Jansen: Im
Kampf um die geistig-ideologische Führungsrolle in Universität und Gesellschaft. Die
zwischen 1910 und 1925 in Deutschland lehrenden germanistischen Hochschullehrer im politisch-
wissenschaftlichen Spektrum. In: Christoph König, Eberhard Lämmert (Hg.):
Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1910-1925. Frankfurt/Main: Fischer 1993, S. 385-399, hier S.
395. zurück
6 Vgl. jetzt hierzu Frank-Rutger Hausmann: »Deutsche
Geisteswissenschaft« im Zweiten Weltkrieg. Die »Aktion Ritterbusch« (1940-1945). (Schriften zur
Wissenschafts- und Universitätsgeschichte 1) Dresden, München: Dresden University Press
1998. zurück
7 Unter »alternative Lebenswege« auch »KZ-Opfer« zu
subsumieren wie Elise Richter, die Möglichkeiten zur Emigration ausschlug, scheint mir sehr
verfehlt. zurück
8 Vgl. etwa zwei weitere, von Gerd Simon angekündigten
Bände Manfred Pechau. Linguist zwischen Saalschlachten und Massenmord und Buchfieber
inklusive eines Kapitels »Tödlicher Bücherwahn«. zurück
9 Gerd Simon: Blut & Boden-Dialektologie, S. VI.
Untergründiges Movens der Untersuchung scheint auch die Empörung darüber zu sein,
daß Bretschneider »es fertig brachte, über 50 Jahre von der Weimarer Republik über das
3. Reich, die sowjetisch besetzte Zone, die DDR und die BRD von der Deutschen Forschungsgemeinschaft
gefördert zu werden«, ebd. zurück
10 Ebd., S. VI. zurück
11 Nicht unwichtig hingegen ist der Hinweis darauf,
daß hinter Bretschneiders Vorpreschen "egoistische Motive" (S. 67) stehen können, konkret die
Sorge um die finanzielle Unterstützung des Wörterbuch-Projektes. zurück
12 Mit Blick auf Bretschneiders SD-Tätigkeit betont
Simon die Verwandtschaft zwischen dialektologischer Forschung und geheimdienstlicher
Personenrecherche, die in der »gleichen Methode der Informationsermittlung« liege. Vgl. Gerd Simon, Blut
& Boden-Dialektologie, S. 10. Überhaupt begegnet man dem Verb »ermitteln« an zahlreichen Stellen
des Textes. zurück
13 Ebd., S. 53. zurück
14 Deshalb soll die dritte Auflage des Katalogs die letzte
in Papierform sein (stattdessen CD-ROM), print on demand stellt der GIFT-Verlag ebenfalls in Aussicht.
Weiterhin wird die Absicht geäußert, die insgesamt auf fünf Bände hin angelegte
Reihe »Wörterbücher im 3. Reich« auf einer Diskette zu vereinen. zurück
15 Etwa Gerd Simon, Die hochfliegenden Pläne,
S.11, Anm. 9: »Schweizer ist ein Kapitel gewidmet in: Gerd Simon: Was ist deutsch? (in Arbeit). Dort auch
die Belege.« Oder ebd., S.12, Anm. 6: »Ich hoffe, in absehbarer Zeit einen diesbezüglichen Vortrag
Höflers einzuleiten und zu veröffentlichen.« zurück
16 Gerd Simon: Blut & Boden-Dialektologie, S. 4.
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17 Holger Dainat: Voraussetzungsreiche
Wissenschaft. Anatomie eines Konflikts zweier NS-Literaturwissenschaftler im Jahre 1934.
In: Euphorion 88 (1994), S. 103-122.
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