H.-H. Müller über Judersleben: Philologie als Nationalpädagogik

Hans-Harald Müller

"Scherer-Schule" oder "Berliner Schule"?
Eine Monographie über Gustav Roethe


Kurzrezension zu
  • Jörg Judersleben: Philologie als Nationalpädagogik. Gustav Roethe zwischen Wissenschaft und Politik (Berliner Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte, Band 3) Frankfurt am Main u.a.: Peter Lang 2000. 342 S. Kart. DM 89,-
    ISBN 3-631-36787-2

1. Zurück zu Lachmann

Über Gustav Roethe (1859-1926) eine Monographie zu schreiben, scheint eine undankbare Aufgabe, denn das Urteil über ihn stand – nimmt man die verschworene Gemeinschaft seiner Schüler und deren germanistische Lehrstuhl-Gefolgschaft einmal aus – schon zu Lebzeiten fest. Er war, so konstatieren die Nachrufe einhellig, der "geborene Redner", sein begeistertes Deutschtum sprang auf die entlegensten germanistischen Lehrgegenstände und seine Hörer über.

"Aber er trieb es bis zur Deutschtümelei und Kraftmeierei und war sich nicht zu gut dazu, mit klirrenden Worten in Versammlungen und auf Kommersen billige Triumphe zu feiern. [... ] Die Fähigkeit, abzuwägen und zu verstehen, die ihn zum Historiker machte, versagte dem Leben und der Gegenwart gegenüber. Der Krieg riß ihn hin, wie so viele andere, mehr als viele andere. Er zog die Offiziersuniform an; eine Zeitlang konnte man ihn am Potsdamer Bahnhof in Berlin als Kommandant wirken sehen. Der Zusammenbruch raubte ihm alle Fassung und trieb ihn vollends in ein politisches Demagogentum hinein. [...] Seine geistige Führerschaft aber entspricht weder seiner Machtstellung noch der Öffentlichkeit seines Namens. Von ihm gibt es gediegene Textausgaben und Fachuntersuchungen; aber Werke hat er nicht geschaffen, und manch ein Literarhistoriker, der auf weniger ehrenvollem oder exponiertem Posten steht, bedeutet unvergleichlich mehr als Wegbahner und Vorbereiter der Zukunft. Roethe gibt sich aus in der lebendigen Rede vor Zuhörern, und dabei schöpft er das Wertvollste nicht aus eigenem Denken und Forschen, sondern aus treuer Benutzung und Vermittlung der gelehrten Arbeit anderer. Er ist ein idealer Schüler, der die Ergebnisse seiner Wissenschaft in unvergleichlicher Weise lebendig zu machen und weiterzuleiten versteht. Und er ist darum einer der besten Unterrichter, die je vom Katheder her zur studierenden Jugend gesprochen haben." 1

Dieses 1922 formulierte und von der republikanischen Presse weithin geteilte Urteil über Roethe stammt aus der Feder des gewandten Publizisten und Erich-Schmidt-Schülers 2 Moritz Goldstein. Jörg Judersleben kommt am Ende seiner Untersuchung zu einem ähnlichen Ergebnis, er formuliert es ein wenig anders.

Für ihn ist Gustav Roethe "ein innovationsfeindlicher Spezialist, autoritär, borniert und laut, umständehalber gewiß auch einmal diplomatisch konziliant, aggressiv aus Ideenarmut und Untergangsangst, verschanzt hinter dem Ethos einer Schule, deren Profil er in zweifelhafter Treue eher einengte als bereicherte, bis zur Selbstisolation eingebunden in den Soziotop dieser Schule und doch besessen von dem Gedanken, darüber hinaus kündend wirken zu müssen, daß Gustav Roethe in jener Glanzperiode das wichtigste aller germanistischen Ordinariate erhielt, von wo aus er seinen Einfluß auf die Entwicklung des Faches zielstrebig und erfolgreich erweiterte." 3

Vor diesem Urteil steht bei Judersleben eine 300 Seiten lange gut unterrichtete und quellengestützte Untersuchung von ausgezeichneter Lesbarkeit. Der Gegenstand seiner Untersuchung aber scheint Judersleben ein wenig peinlich, er umkreist ihn lieber als daß er ihn unmittelbar anpacken würde – eine Rekonstruktion des wissenschaftlichen Oeuvres von Roethe, das nicht umfangreich ist, aber die ältere und neuere Germanistik umfaßt, wird man bei Judersleben vergeblich suchen. Dafür findet man vielerlei anderes.

Der erste, "Engführung" überschriebene, Teil informiert einmal mehr über den Auflösungsprozeß des Bildungsbürgertums zwischen Kaiserreich und Republik. Den Begriff der wissenschaftlichen "Schule" definiert Judersleben mit Ludwik Fleck und behauptet sodann, "daß die Lehrer-Schüler-Beziehungen in Disziplinen mit eher weichen Standards nicht nur aus rein sozialen, sondern auch aus fachimmanenten Gründen enger ist als anderswo. Der Lehrer muß die Schüler hier stärker nach seinem Bilde formen, er muß sie mit einem Ethos ausrüsten, das die logischen Lücken in der Konzeption überbaut und den vernichtenden Satz, man könne mit gleichem Recht auch alles ganz anders sehen, von vornherein ausschließt" (S.67). Diese Behauptung enthält mehrere Probleme:

  1. Für welchen Zeitraum soll sie gelten?
  2. Wie ist bei derart betonierten Lehrer-Schüler-Verhältnissen disziplinäre Innovation denkbar?
  3. Auf Roethe angewendet: Weshalb hat der Scherer-Schüler Roethe so wenig von seinem Lehrer gelernt?

Denn daß Roethe, "der als Philologe zu Lachmann zurückwollte und Scherers Systematisierungsversuchen ähnlich verständnislos gegenüberstand wie denen der späteren Geistesgeschichte" (S.122), kaum als Schüler der Schererschen Wissenschaftskonzeption betrachtet werden kann – das ist eines der wichtigen Forschungsergebnisse von Juderslebens Untersuchung, das am Beispiel von Scherers Poetik überzeugend untermauert wird. Beruft sich also Roethe zu Unrecht auf Scherer, ist die "Scherer-Schule" ein Wunschbild der "Berliner Schule" von Gustav Roethe, Arthur Hübner, Ulrich Pretzel – und zugleich ein kommunes Feindbild der geistesgeschichtlichen Literaturwissenschaft? Judersleben verfolgt diese Fragestellung nicht, bietet aber gutes Material zu ihrer weiteren Untersuchung.

Neben Roethes Reinmar-Edition hält Judersleben einzig dessen Untersuchung über Goethes Campagne in Frankreich 1792 (1919) für eine wissenschaftliche Leistung von Rang. Um sie entsprechend zu positionieren, läßt Judersleben die >antibiographischen< Goethe-Biographien (Chamberlain, Simmel, Gundolf) Revue passieren und stellt dabei fest, daß sie von ihren positivistischen Vorgängern weniger trennt als sie proklamieren. Freilich geht er ein wenig weit, wenn er die Unterschiede zwischen dem literaturwissenschaftlichen Positivismus und der Geistesgeschichte mit dem flotten Satz einebnet:

"Bei (allzu) böswilliger Betrachtung mißlingt hier ein Dialog zwischen abstoßend autoritären Besitzstandwahrern und wundersam ältlichen Jünglingen, ein Dialog, der sicher gelingen könnte, wüßte man im verstimmenden Pathos des jeweils anderen die gemeinsame Wurzel freizulegen (S.150)."

2. Antimoderner Ideologe
und/oder moderner Wissenschaftsmanager?

In einem "Referenzräume" überschriebenen zweiten Hauptteil untersucht Judersleben Persönlichkeitstruktur und Weltbild Roethes anhand von Schlüsselbegriffen wie "Bildung", "Tugenden", "Idee", "Tradition", "Einheit", "Wort und Schrift". Auf der Basis seiner Schriften aus den letzten acht Lebensjahren wird Roethe hier als altkonservativer Ideologe des 19. Jahrhunderts vorgeführt, dessen "antifunktional-zweckfeindlicher Tugendkanon" die "Treue" als "vormoderne Wesensqualität oder antimodernes Bekenntnis" (S.187) idealisiert.

Wer Judersleben bis hierher gefolgt ist, wird durch den dritten Hauptteil der Arbeit, der Roethes "Wirkungsfelder" untersucht, nicht wenig überrascht. Denn in mindestens zweien von ihnen, dem der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften und dem der Goethe-Gesellschaft erweist Roethe sich nicht als ideologischer Querkopf, sondern als moderner Organisator wissenschaftlicher Großbetriebe und Verbandsfunktionär, der zielorientiertem Effektivitätsdenken verpflichtet ist und seine ideologische Bedürfnisse zurückstellt.

Als Motor der "Deutschen Kommission" in der Akademie konsolidierte er mittelfristig das – auf die Gebrüder Grimm zurückgehende – Unternehmen des Deutschen Wörterbuchs und die von ihm begründete Editionsreihe der Deutschen Texte, und als (seit 1911) Vorsitzender Sekretär der Akademie steuerte er diese durch mancherlei organisatorische und politische Klippen – so z.B. als er auf dem ersten Höhepunkt der Anti-Einstein-Kampagne im Sommer 1920 nicht seinen bornierten antisemitischen Instinkten nachgab, sondern mit Max Planck loyal zusammenarbeitete, um die Akademie aus dem Streit herauszuhalten.

Judersleben registriert, daß Roethe in diesen Ämtern ein "raffinierter Taktiker" (S.254) war und daß es in ihnen "eines tatkräftigen, mit Realitätssinn begabten Koordinators" bedurfte, "der zugleich die Kunst der akademischen Repräsentation und die des souveränen Umgangs mit staatlichen Behörden beherrschte" (S.225), aber er integriert diese >modernen< Züge nicht in sein Bild des vormodernen Gustav Roethe. Vielleicht beruhte die eigemtümliche Faszination, die von Roethe ausging, gerade auf diesem Widerspruch von ideologischer Borniertheit und modernem Wissenschaftsmanagement.

In seinem eigenen Hause, der Philosophischen Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität, die er mit seinem Gönner Ulrich von Wilamowitz-Möllendorff und weiteren Mitverschworenen aus der Göttinger Zeit autokratisch lenkte, disziplinierte Roethe seine ideologischen Bedürfnisse allerdings kaum. Judersleben zeigt, wie dieser u.a. die Berufungen von Ernst Troeltsch, Friedrich Gundolf und Konrad Burdach 4 nach Berlin vereitelte, und er kommt so zu einem überscharfen, wenngleich nicht ganz unberechtigten Urteil über Roethe, der "die einstmals führende Philosophische Fakultät des Reiches zu einem für die Wissenschaftsentwicklung irrelevanten Klüngel herunterwirtschaftete, in dem schulgerecht operierende einwandfreie Mediokritäten die Mehrheiten stellten" (S.267).

Juderslebens Untersuchung ist glänzend geschrieben, gelegentlich ein wenig voreilig und nicht immer gleich präzis im kognitiven Zugriff, dafür stets anregend und auf solide Quellenarbeit gestützt. Sorgfältig berücksichtigt sind die Archivalien der Humboldt-Universität und der Akademie sowie die zeitgenössische Berliner Presse. Besonders hervorgehoben sei die Berücksichtigung des Briefwechsels von Roethe mit Karl von Kraus, der – zumindest in Regesten-Form – unbedingt gedruckt zu werden verdiente als Seitenstück zum jüngst erschienenen Briefwechsel Schröder-Roethe. 5


Prof. Dr. Hans-Harald Müller
Universität Hamburg
Institut für Germanistik II
Von-Melle Park 6, IV
D-20146 Hamburg

Ins Netz gestellt am 08.01.2001

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Anmerkungen

1 Moritz Goldstein: Berliner Hochschullehrer: Gustav Roethe. In: Vossische Zeitung vom 2.6.1922.  zurück

2 Die bei Erich Schmidt angefertigte Dissertation von Moritz Goldstein: Die Technik der zyklischen Rahmenerzählungen Deutschlands. Von Goethe bis Hoffmann. Diss. phil. Berlin 1906.  zurück

3 Judersleben: Philologie als Nationalpädagogik, S. 307. Seitenangaben aus der Arbeit werden im folgenden in Klammern in den Text eingerückt.  zurück

4 Judersleben bezeichnet den – zweifellos nicht unkomplizierten – Konrad Burdach S.287 u.ö. reichlich jovial als "Hypochonder" – so hat ihn die obsiegende "Berliner Schule" auch gern dargestellt. Auf diese Weise konnte es bis heute weithin verborgen bleiben, daß Burdachs wissenschaftliches Werk das sämtlicher Mitglieder der "Berliner Schule" turmhoch überragt.  zurück

5 Vgl. Regesten zum Briefwechsel zwischen Gustav Roethe und Edward Schröder. Bearbeitet von Dorothea Ruprecht u. Karl Stackmann. 2 Bde. Göttingen 2000 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Phil.-hist. Klasse, Dritte Folge, Nr.237)  zurück