Müller/Nottscheid über Autor: Regesten Roethe/Schröder

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Hans-Harald Müller / Mirko Nottscheid

Die bedeutende Edition eines Briefwechsels ...

  • Regesten zum Briefwechsel zwischen Gustav Roethe und Edward Schröder. (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Phil.-hist. Klasse, Dritte Folge, 237) Bearb. von Dorothea Ruprecht und Karl Stackmann. 2 Bde. Göttingen 2000 1. Tlbd.: 988 S. 6 Abb. Taf. 2. Tlbd: 1065 S. Geb. DM 498,-.
    ISBN 3-525-82509-9.


Der Briefwechsel zwischen den beiden Germanisten Gustav Roethe (1859-1926) und Edward Schröder (1858-1942) ist seinem Charakter nach das Dokument einer engen wissenschaftlichen und privaten Beziehung, die bis in das Jahr 1880 zurückreicht, als Roethe in Berlin zum engeren Schülerkreis um Karl Müllenhoff und Wilhelm Scherer stieß, dem Schröder zu diesem Zeitpunkt schon einige Zeit angehörte. 1 Ihre 1881 einsetzende, zunächst noch unregelmäßige Korrespondenz intensivierte sich in den kommenden Jahren zunehmend, insbesondere nachdem Schröder und Roethe 1890 die Herausgeberschaft der Zeitschrift für deutsches Altertum samt deren Anzeiger übernommen hatten, was einen ständigen Austausch über die Einzelheiten des Redaktionsalltags erforderte. Die persönliche Verbindung wurde 1887 durch Schröders Heirat mit Roethes Schwester Dorothea gefestigt, das vertrauliche "Du" taucht schon 1885 im Brief(regest) Nr. 56 auf. In den Hochzeiten schrieben sich die Briefsteller über Monate hinweg beinahe täglich, so daß manche Jahrgänge mehr als 200 Korrespondenzstellen enthalten. In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg ging die Frequenz allmählich zurück. Insgesamt weist die Überlieferung bis zu Roethes Tod 1926 nicht weniger als 4956 Stücke auf.

Den Briefregesten und Kommentaren gehen biographische Daten zu den Briefstellern, einige Abbildungen und Brief-Faksimiles, eine ausführliche Einleitung von Karl Stackmann, ein editorischer Bericht sowie ein Konkordanzverzeichnis der Korrespondenz voran. Als Anhang werden 21 Dokumente aus dem weiteren Kontext der Korrespondenz wiedergegeben (u.a. zu Berufungsangelegenheiten und großen Forschungsprojekten der Akademien wie dem Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm). Da diese Stücke aus verschiedenen archivarischen Überlieferungen stammen, ist die in der Ausgabe benutzte Bezeichnung Beilage, die auf Briefbeilagen schließen läßt, unpräzise. Den Abschluß bildet ein umfangreiches kommentiertes Namensregister.

Die Ausgabe beeindruckt durch eine sorgfältige editorische Aufbereitung des Materials, die zweifellos das Ergebnis langjähriger Archiv- und Recherchearbeit ist. Wohl hauptsächlich aus ökonomischen Gründen haben die Herausgeber sich für eine Regestausgabe entschieden und damit ein Verfahren gewählt, das in der Germanistik systematisch bislang nur bei einigen editorischen Großunternehmen angewandt wurde, ohne bei der Fachkritik auf allzu viel Gegenliebe zu stoßen. 2 Gegen die Regestierung wurde dabei u.a. eingewandt, daß der für sie erforderliche Zeitaufwand dem einer Volltranskription kaum nachstehe; vor allem wurde jedoch auf die Gefahr hingewiesen, daß durch die zwangsläufig subjektive Auswahl des Mitgeteilten ein Informationsverlust für die Leser kaum zu vermeiden sei. 3 Die Herausgeber der vorliegenden Ausgabe versuchen diese Gefahr zu vermeiden, indem sie den Zusammenfassungen des Briefinhalts einen "weiten Begriff von Wissenschaftsgeschichte" als Schwerpunkt zu Grunde legen, der sich "nicht auf die Geschichte der Germanistik oder der Philologien beschränkt, sondern auch die allgemeine Universitätsgeschichte (mit Einschluß der auf die Universitäten bezogenen Mentalitätsgeschichte) sowie Angaben zur Hochschulpolitik"(Bd. 1, S. 48) einbezieht.

Soweit dies anhand der Regesten beurteilt werden kann, haben sich die Herausgeber an diese Kriterien mit weit reichender Konsequenz gehalten. Der zitierte Definitionsbereich umfaßt dabei ausdrücklich auch problematische Aspekte in der Persönlichkeit der Briefsteller wie, um hier nur ein Beispiel zu nennen, Roethes notorischen Antisemitismus, der an vielen Stellen der Korrespondenz zu Tage tritt. Dieses Faktum erscheint nicht unwichtig innerhalb einer Ausgabe, die aus ihrem Respekt vor den wissenschaftlichen Leistungen der Briefsteller kein Hehl macht. 4 Die Rückbindung an die archivarische Überlieferung wird durch eine genaue Fixierung der deiktischen Daten zu jedem Korrespondenzstück gewährleistet. In die diskursiven Zusammenfassungen des Briefinhalts werden immer wieder Zitate des Originaltextes eingeschaltet, von einzelnen Worten oder Satzteilen bis hin zu langen, über mehrere Seiten reichenden Passagen. Dem Leser wird es dadurch ermöglicht, sich einen Eindruck über den Stil der Korrespondenten zu verschaffen, der nicht nur viel über ihre persönliche Beziehung, sondern auch über die Qualität ihrer Urteile bezüglich Dritter aussagt.

Der Referenzbereich der Ausgabe im Hinblick auf etwaige weitere Nachforschungen wird durch die glückliche Entscheidung gefördert, im Register auch solche Namenserwähnungen nachzuweisen, die keinen Eingang in den Regesttext gefunden haben.

Die in der Regel knappen Erläuterungen zum Text streben keinen Vollkommentar an. Neben eher kursorischen Sacherläuterungen und bibliographischen Angaben (vor allem aus dem Kontext der Arbeit an Zeitschrift und Anzeiger) bedienen sich die Bearbeiter vor allem der Technik des Verweises, um thematische Zusammenhänge zu vernetzen und das Verständnis der Regesten durch die gegenseitige Kommentierung der Texte zu fördern. Wissenschaftliche Spezialliteratur wurde ebenso wie Referenzquellen aus den Nachlässen der Briefsteller bzw. Dritter nur dort herangezogen, wo sie den Bearbeitern leicht erreichbar war. Wenngleich diese Verfahrensweise dem Leser, der Zusammenhänge detailliert nachvollziehen möchte, nicht selten ein erhebliches Engagement abfordert, dürfte sie innerhalb einer Ausgabe, die sich weitgehend an ein Spezialpublikum richtet, auch gerechtfertigt erscheinen. Eine gewisse Ungleichmäßigkeit in der äußeren Form der Anmerkungen in verschiedenen Teilen der Regestausgabe, die offenbar auf technische Probleme während der abschließenden Satzarbeiten zurückgeht, fällt inhaltlich nicht weiter ins Gewicht.

Der Erschließung des Briefwechsels dient ein umfangreiches Namensregister, das neben kurzen biographischen Angaben in vielen Fällen auch knappe Erläuterungen zu den Beziehungen zwischen erwähnten Personen und den Briefstellern bietet. Nachweise zu Sachstichwörtern wurden nur in knapper Auswahl integriert, vor allem zu Verlagen, Gesellschaften und größeren Publikationsvorhaben, aber auch zu einigen mentalitätsgeschichtlich interessanten Aspekten wie "Frauenstudium" oder "Realschulbildung". Die sorgfältige Aufnahme und Kommentierung der Namen ist eine Leistung sui generis, zumal die Bearbeiter sich dabei in einem biographischen Feld bewegen mußten, das lexikographisch bislang nur unzureichend erschlossen ist. Dies gilt besonders für viele der unbekannteren Schüler Roethes und Schröders, die eine berufliche Laufbahn außerhalb der Hochschule eingeschlagen haben, etwa als Lehrer, Redakteure oder freie Schriftsteller. Entstanden ist ein weitestgehend zuverlässiges Instrumentarium für die Arbeit mit den Regesten, das zugleich auch für weitere wissenschaftsgeschichtliche Unternehmungen von Nutzen sein dürfte.

... zweier minder bedeutender Philologen ...

Für die Wissenschafts-, Universitäts- und Mentalitätsgeschichte des Zeitraums ist die Edition von einem für die Zukunft noch gar nicht abschätzbaren Quellenwert. Als Ordinarien in Göttingen, Marburg und Berlin besetzten Roethe und Schröder wichtige Schaltstellen im Machtzentrum der zeitgenössischen Germanistik und Wissenschaftspolitik. In ihren Briefen werden politische Tagesereignisse ebenso peinlich genau kommentiert wie die näheren Umstände von Stellenbesetzungen der Philosophischen Fakultäten in Deutschland und die germanistischen Neuerscheinungen samt deren Verfassern und Rezensenten. Künftige Darstellungen zur Geschichte der Universitäten Berlin und Göttingen und der dortigen wissenschaftlichen Akademien, der großen germanistischen Forschungsprojekte der Zeit sowie der publizistischen Fachorgane werden dankbar auf diese Ausgabe zurückgreifen. Sieht man von dem bereits vor einigen Jahren veröffentlichten Briefwechsel zwischen Andreas Heusler und Wilhelm Ranisch ab, dessen inhaltlicher Schwerpunkt die Nordistik ist, so liegen hier zudem erstmals Dokumente zur Geschichte der Germanistik in gedruckter Form vor, die über die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg hinausreichen. 5

Von den beiden Briefstellern hinterläßt die Edition allerdings einen Gesamteindruck, der für das Urteil der Nachwelt über Roethe und Schröder vernichtender sein dürfte als jedes ideologiekritische Verdikt. Die Briefe zeigen, kurz gesagt, wie zwei in engen Grenzen hochqualifizierte Wissenschaftler, auf Positionen gelangten, die sie nicht auszufüllen vermochten. Diese Selbsteinsicht findet sich bei beiden wiederholt. Der selbstkritischere Schröder schreibt dazu 1895, er sei:

zu der immer klarern Einsicht durchgedrungen, dass ich selbst Jahre hindurch diese Fähigkeiten überschätzt habe, verführt durch den Umgang und das günstige Urteil geistig höherstehnder Menschen. Denn das seid ihr alle, sowol Müllenhoff, Scherer, ten Brink, als Burdach u. Du. Die Unfähigkeit, da wo mir eine Fülle von Einzelwissen u. Einzelerkenntnissen zu Gebote steht, die entsprechende (gar nicht eine ideale) Form der Verarbeitung zu finden, ist ganz evident. (1883)

[...]Zu dem Glauben, daß ich selbst je etwas größeres leisten könnte, werde ich nicht wieder kommen, auch wenn alle Nebengeschäfte von mir genommen würden – ich merke ja, wie alles für mich in Einzelarbeiten auseinanderfällt und ich beim Versuche aufzubauen schaudernd die klebrigen Trivialitäten zwischen den Fingern fühle. Dann wasch ich mir die Hände – und riskiere für lange Zeit gar keine Bauarbeit. (1886)

Roethe blickte 1908 mit gemischten Gefühlen auf seinen Entschluß zurück, die Nachfolge Karl Weinholds in Berlin anzutreten:

Die große Torheit, die ich damals Anno 1902, in einem Rauschzustand des Lebens, beging, ist mir jetzt nach dem ersten Lustrum Berlin wenigstens deutlich: ich fühle mich physisch und geistig heruntergekom[m]en. Aber ich fühle es wenigstens noch: in weitern 5 Jahren werde ich es, nach Beispielen zu urteilen, nicht einmal mehr fühlen. (3597)

Zum Jahreswechsel 1909 fügt er hinzu: "Mit freudiger Zuversicht blick ich nicht vorwärts; die Empfindung, daß ich menschlich, physisch und geistig Berlin nicht gewachsen bin, daß es hier einen Stärkeren braucht, werde ich nicht los" (3752).

Bei beiden blieb die Einsicht, daß sie sich überfordert hatten, ohne Konsequenzen – sie schmiedete sie eher noch enger zusammen, unter anderem im Kampf gegen ein Dritten, den einstigen Kommilitonen und späteren Konkurrenten Konrad Burdach, dessen Überlegenheit sie in ihren Briefen gelegentlich anerkannten. 6 Gleichwohl billigte Roethe es, daß nicht Burdach, sondern er selbst in Göttingen zum Ordinarius berufen wurde – weniger auf Grund seiner wissenschaftlichen Leistungen als wegen der Protektion des großen Klassischen Philologen Ulrich von Wilamowitz, 7 dem er seine gesamte Karriere recht eigentlich zu verdanken hat. Ohne Anzeichen von Bedauern registrierte Roethe es auch, daß nicht sein von der Philosophischen Fakultät favorisierter Schwager Schröder 1901 den Ruf nach Berlin erhielt, sondern er selbst – wiederum auf Grund der Protektion von Wilamowitz, der den Ruf an der Fakultät vorbei mit dem Referenten im Preußischen Kultusministerium direkt aushandelte, 8 um seine Machtstellung in der Fakultät auszubauen.

Das Prestige von Schröder und Roethe beruhte nicht zuletzt darauf, daß sie beide Schüler des einflußreichen Germanisten Wilhelm Scherer (1841-1886) gewesen waren, der zahlreiche Schüler auf Lehrstühle in Deutschland und Österreich gebracht hatte. Diesem Umstand hatten Schröder und Roethe es zu verdanken, daß ihnen 1890 das Angebot gemacht wurde, die angesehene Zeitschrift für deutsches Altertum herauszugeben, die neben der Leipziger Konkurrenz, den Beiträgen zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, die wichtigste gemanistische Zeitschrift war. Die aufopfernde Editionsarbeit verschlang viel Zeit, die die beiden zur wissenschaftlichen Arbeit benötigt hätten. 1894 schrieb Schröder an Roethe: "Es muß einmal etwas wahrhaft tüchtiges und zwar eine Leistung größern Stils von unserer Seite kommen [...]" (1657). 9

Diese Leistung kam nicht. Die fehlende Selbstgewißheit glichen Schröder und Roethe aus durch eine forcierte Abwehr imaginierter Feinde. Durch den gesamten Briefwechsel zieht sich wie ein roter Faden der Kampf gegen drei Phantom-Gegner: Lateinlose Oberrealschüler, Frauen und Juden. Roethes Kampf gegen die beiden letzten Gruppen trägt mitunter pathogene Züge: er sympathisierte mit dem Bund gegen die Frauenemancip.[ation] (4210) und ließ sich in seinem Berufungsvertrag bestätigen, daß Frauen der Zutritt zu seinen Lehrveranstaltungen verwehrt sei. Noch grotesker war seine Antipathie gegen Juden, gegen die er eine physische "Geruchsabneigung" (4238, vgl. auch 4403) entwickelte. In Bezug auf die Beurteilung wissenschaftlicher Leistungen von Frauen und Juden war die Urteilsfähigkeit beider Germanisten von vornherein stark eingeschränkt.

Innerhalb der Germanistik waren die Erzgegner die Repräsentanten der mit Berlin über die Nibelungenfrage zerstrittenen >Leipziger Schule<: Hermann Paul, Eduard Sievers und Friedrich Kluge. In ihrem Haß auf Hermann Paul waren Schröder und Roethe derart verblendet, daß sie – anders als ihr Lehrer – von der Größe dieses Gelehrten nicht einmal eine Ahnung bekamen. Aber auch die Wissenschaftskonzeption ihres Lehrers selbst blieb ihnen weitgehend fremd. Scherer, ein weltoffener, urbaner Wiener Gelehrter, verfolgte für die Germanistik die folgenden Ziele:

  1. eine theoretische Fundierung der historisch-philologischen Fächer,

  2. den Übergang von der Sammlung zur Erklärung von Tatsachen,

  3. die Entwicklung einer empirischen Ästhetik,

  4. eine interdisziplinäre Orientierung anstelle der strikten Arbeitsteilung der Fächer und schließlich

  5. die Öffnung der akademischen Disziplin zur Kunst und Literatur der Gegenwart sowie zur Presse.

Von diesem Programm, das Scherer allerdings niemals bündig zusammenfaßte, verwirklichten seine Schüler Schröder und Roethe kaum etwas. Schröders Äußerungen über Husserl (vgl. 3736), Roethes über Cassirer (vgl. 3954) sind von peinigender, mit Bösartigkeit gepaarter Unkenntnis. Scherers Appell zu interdisziplinärer >Arbeitsvereinigung< blieb ungehört. Schröder und Roethe verwendeten in Göttingen viel Zeit auf den Kampf gegen die bedeutendsten Mathematiker der Zeit, Felix Klein und David Hilbert, weil diese für eine Demokratisierung der Universität (und das Frauenstudium!) eintraten. Hatte Scherer für die neuere Literaturgeschichte in Berlin ein eigenes Ordinariat durchgesetzt, so plädierte Roethe für dessen Abschaffung: "Im Grunde halte ich, wenn schon reine neure Literarhistoriker da sein sollen, das Extraordinariat für die richtige Form: dann behält der philologische Ordinarius die Möglichkeit einzugreifen" (3384). Ein Interesse für die Kunst und Literatur der Gegenwart ist den Regesten kaum zu entnehmen, anstelle geistiger Urbanität atmen die Briefe meist den Dunst alltäglicher Betriebsamkeit.

Als nach dem Ersten Weltkrieg die Witwe Scherers anfragen ließ, ob von den Schülern eine Biographie ihres Mannes zu erwarten sei, legten beide umständlich dar, um welch eine reizvolle und komplexe Aufgabe es sich dabei handle – und erklärten sich für unzuständig (vgl. 4720, 4722). Nach der Lektüre des Briefwechsels wird man Schröder und Roethe aus der Liste der Schüler streichen dürfen, die Wilhelm Scherer wirklich verpflichtet waren – die Geschichte der >Scherer-Schule< und der >Berliner Schule<, die sich wohl zu Unrecht auf Scherer berief, muß neu geschrieben werden, wenn man den Begriff >Scherer-Schule< nicht weiterhin als "eine Sammelbezeichnung für Gelehrte völlig verschiedener Art" 10 verwenden will.

Daß der viel beschworenen Einigkeit der >Schule< im Äußeren, die sich auch in den Erinnerungen kritischer Zeitgenossen widerspiegelt, kein besonders inniger persönlicher oder auch nur fachlicher Zusammenhalt der Scherer-Schüler untereinander entsprach, gehört zu den wichtigen Ergebnissen, die aus der Lektüre des Briefwechsels gewonnen werden können. 11 Dieser Aspekt wurde bereits im Zusammenhang der Auseinandersetzungen mit Konrad Burdach berührt.

Eine ähnliche Entwicklung nahmen auch die Beziehungen beider Briefsteller zu dem Scherer-Nachfolger Erich Schmidt, dem sie nicht allein wegen seiner Konzentration auf die neuere Literatur als Lehr- und Forschungsgegenstand misstrauten, sondern auch aufgrund seines vorurteilsfreien Umgangs mit jüdischen Kollegen (vgl. z. B. 1383, 1405, 1764). 12 Schmidt wiederum warnte einen Schüler Roethes, wie diesem hinterbracht wurde, vor der "philol.[ogischen] >Mikrologie<" (2589) seines Lehrers. Auch als Herausgeber der Zeitschrift mußten Roethe und Schröder bald feststellen, daß sich nur die wenigsten ihrer Mitarbeiter auf exklusive Treue zum programmatischen Organ der >Schule< verpflichten wollten. Bald bröckelte die alte Frontstellung gegen die >Leipziger Schule< und die verhaßten >Junggrammatiker< auch in den eigenen Reihen. Den Übertritt Richard Heinzels zu den Beiträgen von Hermann Paul und Wilhelm Braune, empfanden die Redakteure als "brutale Pietätlosigkeit" (2522), 1896 stellte Schröder resigniert fest, daß "außer uns beiden kein mensch sich daran stößt, in die Beitr.[äge] zu schreiben, sogar R. M. Meyer nicht, nachdem ihm Erich [Schmidt] vorangegangen" (1976).

Kaum mehr als eine unliebsame Konkurrenz erblickten Roethe und Schröder, um ein letztes Beispiel zu nennen, in dem ab 1894 von August Sauer herausgegebenen Euphorion. Nach außen hielt man zwar auf ein "freundnachbarliches Verhältnis" (2522), intern aber gab Schröder zu verstehen, er schäme sich regelrecht, das neue Periodikum vor den Studenten im Seminar auszulegen und bezeichnete Sauer als "kritiklose[n], stofftrunkene[n] Kumpan" (1581).

Fremd aber waren die Briefsteller nicht zuletzt sich selbst. Beide betrachteten sich als unmodern, unpolitisch und überzeugungstreu. Die Moderne war Schröder gleichbedeutend mit "Weiberstudium, Mutterschutz, Socialistentätschelei, Amerikanismus" (4047). Daß >Politik< dem etatistischen wilhelminischen Bildungsbürgertum als Begriff für alles Oppositionelle galt, ist bekannt. Roethe vermochte dieses Selbstverständnis bis zu seinem Tode aufrechtzuerhalten. Er hielt sich für einen unpolitischen Menschen sogar noch, als er im Frühjahr 1919 am Vorlesungsbetrieb nur deshalb festhielt, weil es ihm gelungen war, "durch persönliche Besprechung" (4783) Zeitfreiwillige für die antirepublikanischen Freikorps zu werben. Gustav Roethe legte am 17. Januar 1919 einen heiligen Eid auf die Verfassung jenes Staates ab, dessen höchste Repräsentanten er öffentlich beschimpfte und dessen Institutionen er bis zu seinem Tode bekämpfte. Es gibt keinen Grund, von seiner Überzeugungstreue groß zu denken, er war, wie Jörg Judersleben jüngst feststellte, ein "raffinierter Taktiker" 13 nicht allein als Wissenschaftsmanager.

Daß die Edition des Briefwechsels von Schröder und Roethe aus Pietät gegenüber den Briefstellern und deren Nachfolgern veranstaltet wurde, ist mit Respekt zur Kenntnis zu nehmen. Dieser Respekt aber erstreckt sich nicht auf das Vorwort, das der Edition beigegeben ist. In ihm werden die schmalen wissenschaftlichen Leistungen der Briefsteller schön und großgeredet, selbst die – nie formulierte! – Philologie-Konzeption der Dioskuren wird nicht allein zu verteidigen gesucht, sondern auch noch als vorbildlich für die heutige Germanistik dargestellt. Pietät wäre hier durch die Markierung von Distanz vermutlich wirkungsvoller ausgedrückt als durch unhaltbare Rettungsversuche. So viel Anerkennung der Briefwechsel als editorische Leistung verdient, so viel Kritik verdient der Versuch der Herausgeber, Roethes und Schröders Rang und Stellung in der Wissenschaftsgeschichte der Germanistik festzulegen.

Es wäre unrealistisch, den Herausgebern neben den Riesenlasten, die sich auf sich genommen haben, auch noch die Verpflichtung aufzubürden, die meist sehr angreifbaren Urteile Roethes und Schröders über ihre Kollegen zurechtzurücken. Aber vielleicht hätte sich doch auf den mehr als 2000 Seiten ein Platz für die Feststellung finden lassen, daß der von Schröder und Roethe bekämpfte Hermann Paul eine Philologie-Konzeption entwickelt hatte, der die beiden nichts entgegenzusetzen hatten. Vielleicht auch für ein Wort darüber, daß im Briefwechsel geschmähte Germanisten wie Anton Emanuel Schönbach, Jacob Minor, August Sauer und der von Schröder und Roethe in eigennützigem Interesse kaltgestellte Konrad Burdach als Scherer-Schüler Gelehrte von ungleich höherem Rang waren als die beiden. Und schließlich: wo wenn nicht hier wäre es angezeigt gewesen, einmal – und sei es auch nur summarisch – auf die herausragende Leistung der im Briefwechsel immer wieder genannten jüdischen Berliner Extraordinarien (Ludwig Geiger, Max Herrmann, Richard M. Meyer, Otto Pniower u.a.) aufmerksam zu machen?

Ihres Werks hat keine Akademie sich angenommen 14 .


Hans-Harald Müller / Mirko Nottscheid
Universität Hamburg
Institut für Germanistik II
Von-Melle-Park 6
D-20146 Hamburg

Ins Netz gestellt am 31.07.2001
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Anmerkungen


1 Bei allen Zitaten aus dem Briefwechsel wird im folgenden die entsprechende Ordnungszahl innerhalb der Ausgabe in Klammern nachgestellt.   zurück

2 Vgl. z.B. Briefe an Goethe. Gesamtausgabe in Regestenform. Hg. von Karl-Heinz Hahn u. a. 6 Bde., 1 Ergbd. Weimar: H. Böhlau Nachf. 1980-2000; Die Briefe Thomas Manns. Regesten und Register. Hg. von Hans Bürgin, Hans Otto Mayer u. a. 5 Bde. Frankfurt/M.: S. Fischer 1976-1987.   zurück

3 In diesem Sinne zuletzt Hans-Gert Roloff: Einführung zum Thema des Symposiums "Wissenschaftliche Briefeditionen und ihre Probleme". In: H.-G. R. (Hg.): Wissenschaftliche Briefeditionen und ihre Probleme. Editionswissenschaftliche Probleme. (Berliner Beiträge zur Editionswissenschaft 2) Berlin: Weidler 1999, S. 9-18.   zurück

4 Vgl. bereits die Bemerkung Karl Stackmanns im Vorwort der Regestausgabe: "Als Schüler Pretzels wie auch als Nachfolger Roethes und Schröders in ihrem Göttinger Lehramt fühlte ich eine Verpflichtung, mich dieses Briefcorpus anzunehmen" (Bd. 1, S. 8). Ulrich Pretzel (1898-1981), Schüler Roethes wie Schröders, verdankt sich die erste Ordnung des Briefwechsels in der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen. Die Ausgabe ist Roethes Sohn Otfried (1903-1943) gewidmet.    zurück

5 Andreas Heusler an Wilhelm Ranisch: Briefe aus den Jahren 1890-1940. In Zusammenarbeit mit Oskar Bandle hg. von Klaus Düwel und Heinrich Beck. Mit einem Geleitwort von Hans Neumann. (Beiträge zur nordischen Philologie 18) Basel: Francke 1989.   zurück

6 So schreibt Roethe an Schröder z. B. am 20.6.1887 im Hinblick auf die Befürchtung, Burdach könne nach Göttingen berufen werden: "Burdach würde es ja gewiß mehr verdienen als ich, wenigstens nach seinen wissenschaftl[ichen] arbeiten, ich glaube nicht nach seiner lehrtätigkeit: aber anderseits wird er doch bald irgendwo unterkom[m]en. u. augenblicklich wenigstens handelts sich bei ihm doch mehr um die befriedigung des ehrgeizes als um ernstere lebensfragen" (303). Vgl. auch Nr. 917.   zurück

7 Vgl. dazu Nr. 709.   zurück

8 Vgl. dazu vor allen Nr. 2888 und 2914. – Vgl. dazu auch den Brief Erich Schmidts an Schröder vom 18.12.1901, abgedruckt in: Konrad Burdach – Erich Schmidt. Briefwechsel. 1884-1912. Stuttgart, Leipzig: S. Hirzel 1998, S. 299.    zurück

9 Vgl. auch Nr. 4098, hier äußert sich Schröder besorgt über die Wahl Roethes zum Secretar der Preußischen Akademie: 6quot;Es geht doch nicht an, dass man uns einmal mit der Kaiserchronik und dem Reinmar von Zweter als Hauptposten im Konto führt."   zurück

10 René Wellek: Geschichte der Literaturkritik 1750-1950, Band 3: Das späte 19. Jahrhundert. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1977, S. 283.   zurück

11 Eine ähnliche Beobachtung machte bereits Wolfgang Höppner anhand der Korrespondenz zwischen Konrad Burdach und Erich Schmidt. Vgl. W. H. (Rez.): Konrad Burdach – Erich Schmidt (Anm. 8). In: Zeitschrift für Germanistik. N. F. 10 (2000), H. 2, S. 419-421, hier S. 420.   zurück

12 Antisemitismus und Antipathie gegen die >neuere< Literaturgeschichte fließen ineinander in einer Bemerkung Roethes von 1913: "Freilich, wenn ich an unsre Germanisten denke: die Procession ist mir auf einsamen Spaziergängen öfter durch das Hirn gezogen: in der neueren Literatur gibts ja kaum noch etwas Andres als Juden (Walzel Meyer Herrmann Wolff Koch Waldberg Sauer Weilen Arnold Maync) oder Judengenossen (Brecht Schultz Litzmann Berger); das die Erzieher deutscher Jugend zum Studium deutscher Dichtung!" (Nr. 4403).    zurück

13 Jörg Judersleben: Philologie als Nationalpädagogik. Gustav Roethe zwischen Wissenschaft und Politik. (Berliner Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte 3) Frankfurt am Main u. a.: Lang 2000, S. 254. Vgl. die Rezension von Hans-Harald Müller: http://iasl.uni-muenchen.de/rezensio/liste/mueller.html.    zurück

14 Erste wissenschaftshistorische Hinweise finden sich bei: Gesine Bey (Hg.): Berliner Universität und deutsche Literaturgeschichte. Studien im Dreiländereck von Wissenschaft, Literatur und Publi-zistik. (Berliner Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte 1) Frankfurt/M. u. a.: Lang 1998.   zurück