Nell über Janz: Faszination und Schrecken des Fremden

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Werner Nell

Aufklärung im Spiegel?
Der, die, das Fremde im Medium der Künste

  • Rolf-Peter Janz (Hg.): Faszination und Schrecken des Fremden.
    Frankfurt / M.: Suhrkamp (es 2169) 2001. 280 S. Kart. EUR (D) 11,-.
    ISBN 3-518-12169-3.


Das Fremde als Chance
und die Gefahren seiner Destruktion

Es hat lange gedauert bis im Zusammenhang der Frage, was denn das Fremde am Fremden sei, die Spur wieder aufgenommen wurde, die Georg Simmel bereits um die Jahrhundertwende mit seinem "Exkurs über den Fremden" in der großen Soziologie von 1908 gelegt hatte: Simmel betrachtet hier nicht das Fremde (den Fremden) als Objekt und Substanz, sondern als Relation; es geht ihm um die Figur des Fremden, die Wahrnehmung einer Struktur, in der sich in der jeweils wahrgenommenen Form und Relation des Fremden das eigene Bezugssystem fassen und zeigen lässt. Es ist also die Form des jeweils Fremden, in der ein jeweils Eigenes erscheinen kann: seine Substanz ist die Relation. Das Fremde lässt sich dann als Medium der Selbsterfahrung, des Bewusstwerdens, auch der Selbstbestimmung erkennen. Es handelt sich um ein bestimmtes Muster, das von einer Identität oder Kultur im Hinblick auf eine jeweils als "anders" definierte Erscheinung oder Struktur entworfen wird. Sowohl das Verhängnis der Verhärtung, Abgrenzung und Ausschließung als auch die Chance der reflexiven Überschreitung, eines wechselseitigen (interkulturellen) Sich-Kennenlernens und der reziproken Integration von Perspektiven können sich dabei eben in Form einer solchen Repräsentation des Eigenen im Anderen zeigen und diskursiv erschlossen werden können.

Nun ist – und das ist ein die Studien des vorliegenden Sammelbandes durchziehendes gemeinsames Band – das Fremde aber keineswegs nur eine Erscheinungsform in der Phänomenologie kultureller Muster, eine Leitlinie für Erkenntnis schaffende Impulse, so wie dies Alfred Schütz in seiner Theorie des Fremdverstehens beschrieben und Helmuth Plessner in seiner Sozialanthropologie als Wahrnehmungschance erkundet haben. Vielmehr ist die Bestimmung von etwas als "fremd" eingebettet in politische, wirtschaftliche, soziale und sozialpsychologische Prozesse, in denen es um Macht und Herrschaft, um das Ausagieren und die Eindämmung von Gewalt, das Herstellen von Identität über die Ausgrenzung oder Integration eines Anderen und nicht zuletzt um jene Leidensprozesse geht, die solcherart kulturell kodierte Setzungen erzeugen.

Vereinseitigung

Tatsächlich, so legen es die auf die Vor- und Frühgeschichte der Relationen zum Fremden in der abendländischen Perspektive eingehenden Arbeiten in diesem Band nahe, hat sich diese destruktive Bezugnahme auf das Fremde, das Fremde als Chiffre für das gesellschaftlich im Namen von Macht, Ordnung, Unterdrückung und Ausbeutung Auszuschließende bzw. Auszumerzende in dieser Einseitigkeit erst im Zuge der langen Modernisierungsprozesse in Europa seit Beginn der Neuzeit entwickelt, um dann, wie dies Zygmunt Bauman dargestellt hat, über die längste Zeit im Zwanzigsten Jahrhundert die Oberhand zu gewinnen. Diese Vereinseitigung der Bezugnahme auf das Fremde als das absolut "Gefährliche", tödlich Bedrohliche und damit durch Ausmerzung Auszuschließende (der Fremde als Feind) im letzten Jahrhundert trägt – auch wissenschaftshistorisch – die Verantwortung dafür, dass die Spuren, die Simmel gelegt hat und die im Anschluss an Schütz heute vor allem in den Arbeiten von Richard Grathoff, Bernhard Waldenfels und Alois Hahn wieder aufgenommen werden, über lange Zeit verschüttet waren. Noch die aktuellen Diskurse um Multikulturalismus, erst recht um "Leitkulturen", kranken zumal in Deutschland daran, dass sie einen substantialistischen Kulturbegriff und ebensolche Überzeugungen von der Existenz und Eigenart des Fremden (als eines Eigenen und dadurch feindlich Fremden) vertreten bzw. weiter tragen und hiervon die Abgrenzung suchen.

Öffnung

Demgegenüber eröffnen die Studien des vorliegenden Bandes, der eine interdisziplinäre Konferenz, die im Dezember 1996 an der Freien Universität Berlin stattgefunden hat, dokumentiert, eine andere Perspektive, nicht zuletzt indem sie an die oben angesprochenen frühen Einsichten Georg Simmels anknüpfen: "Wer etwas >fremd< nennt", so heißt es bereits in der Einleitung des Herausgebers, "hat immer schon die Relation zum Eigenen mitbedacht. Die Theorie des Fremden ist per se Differenztheorie." (S. 8) Auch erscheinen die Beiträge aus dem Jahr 1996 im Jahr 2003 noch keineswegs veraltet oder überholt. Dies liegt wohl an Dreierlei.

Zum einen, das zeigen gerade die aktuellen politischen und gesellschaftlichen Diskussionen nach dem Beginn des neuen Jahrtausends, erst recht nach dem
11. September 2001, sind die hier vorgelegten Überlegungen und Modelle zur (selbst-)reflexiven Erkundung der jeweils unter den Chiffren des Fremden wahrgenommenen Muster und Erscheinungen noch immer eine Minderheitenposition, deren analytische und reflexive Kraft zu einem gelassen konstruktiven Umgang mit dem Fremden gerade an den Stellen öffentlichen Lernens: Bildung, Politik, Medien, noch all zu wenig bekannt, erst recht bisher kaum wirksam geworden ist. Die Vorstellungen, dass es ein "Wesen" des Fremden gibt, "der" Muslim einen bestimmten Charakter hat und ganze Völkerschaften sich in bestimmten Mentalitäten wieder erkennen lassen, feiert gegenwärtig vielmehr, zumal in den von Transformationsprozessen erschütterten Gesellschaften Mittel- und Osteuropas, fröhliche Urstände und droht alles Wissen und alle damit verbundenen auf eine aufgeklärte Praxis zielenden Einsichten, die sich aus der Erkenntnis der sozialen und kulturellen Konstruktion solcher Bilder, Etiketten und Stereotypen schon einmal seit den 1950er Jahren ergeben hatten, wegzuwischen.

Hiergegen vermögen in diesem Band sowohl die grundlegenden sozialwissenschaftlichen Überlegungen, etwa die Ausführungen Ulrich Bielefelds zur "gesellschaftlichen Stellung und Problematisierung des Fremden", als auch die sehr informativen und theoretisch anspruchsvollen Arbeiten zu vorgeschichtlichen Quellen des Fremden (Josine H. Blok) eine deutliche Gegenposition zu vertreten. Ausgesprochen lehrreich auch die Studien zu einer noch in der frühen Neuzeit wirksamen, Verwunderung und Erkenntnischancen verknüpfenden Wahrnehmung des Fremden etwa bei Montaigne und in den frühneuzeitlichen Bildern der "wilden" Amerikaner (Renate Schlesier, Hildegard Frübis).

Zum zweiten enthält der Band Einzelstudien, die sich auf ein bestimmtes Thema, etwa Brechts Gedicht Die Medea von Lodz (Inge Stephan), die Englandreise des Afrikaners Ham Mukasa, der im Jahr 1902 anlässlich der Krönungsfeierlichkeiten Edwards VII. aus Uganda nach Englands reiste und hierüber ein Buch schrieb (Heike Behrend), oder Hofmannsthals Elektra-Dichtungen (Hans Richard Brittnacher) einlassen und so zu nachdenkenswerten Ergebnissen kommen. Die verschiedenen Facetten und Relationen des Themas können dadurch zum einen im Bezug auf die jeweiligen Zeitumstände, zum anderen aber auch im Sinne einlässlicher Textinterpretationen und damit als Beiträge zur Literatur- und Kulturgeschichte vorgestellt werden. Auch die Verknüpfung unterschiedlicher Disziplinen: Neben Literaturwissenschaftlern treten Soziologen, Kunst- und Musik- und Filmwissenschaftler, Kulturanthropologen, (Alt-)Historiker und Ethnologen auf, vermag nicht nur die Reichweite und Bandbreite eines Blicks auf das Fremde zu belegen, sondern auch – sachadäquat – die Facettenvielfalt eben dieser Relationen zu zeigen. "Im Mittelpunkt der Konferenz stand die staunenswerte Fülle der Fremdheitserfahrungen und Fiktionen des Fremden, die seit der Antike das Denken und die ästhetische Phantasie unablässig herausfordern." (S. 12).

Ästhetische Gebilde

Damit ist auch schon ein dritter Punkt genannt, der die Studien über die direkten Zeitanlässe – insbesondere die im neuen Deutschland nach 1990 an verschiedensten Orten neu aufflackernde Gewalt gegen Fremde hatte eine Fülle von wissenschaftlichen und bildungspolitischen Maßnahmen und Veranstaltungen zur Folge, in denen nach Ursachen gefragt und Gegenmaßnahmen diskutiert wurden – hinaushebt. Der Band enthält – mit Ausnahme des bereits genannten sozialwissenschaftlichen Grundrisses des am Hamburger Institut für Sozialforschung arbeitenden Ulrich Bielefeld, der sinnvoller Weise den ersten Beitrag des Bandes bildet – Studien, die sich der Erfahrung des Fremden überwiegend im Medium kulturell-künstlerischer Objektivationen, hin zur Moderne ganz bezogen auf künstlerische Werke, widmen.

Auch die Beschäftigung mit Mythen, wie sie Josine H. Blok in ihrem Beitrag über die Amazonen-Mythen im alten Griechenland unternimmt, versteht diese Geschichten und ihre zum Teil in den antiken Stadtgeschichten, Rechtspraxen und religiösen Stätten niedergelegten Spuren in diesem Sinn modern als Repräsentationen. Die damit in den verschiedenen Künsten und kulturellen Mustern erscheinenden Bilder können so als auf Dauer gestellte Reflexionsanlässe gelesen und interpretiert werden. Gerade die bereits mit dem Fremden selbst verbundenen Erfahrungen der Ambivalenz und der Polyvalenz werden durch die Mehrdeutigkeit des Mediums weiter getragen und thematisierbar, weil sich die künstlerisch-kulturellen Gestaltungen einem einseitigen Abbau von Unbestimmtheit und den Zwängen einer auf Eindeutigkeit zielenden Interpretation widersetzen.

Perspektiven der Moderne

Schließlich stellt sich der Band noch den Besonderheiten der europäisch geprägten Moderne und deren aktuellen Erscheinungsformen in den fortgeschrittenen Industriegesellschaften westlichen Zuschnitts (mit ihrer entsprechend weltweiten Ausstrahlung). Dabei spielt offensichtlich eine mit der Ausdifferenzierung von Wertsphären und Handlungsräumen ermöglichte Arbeitsteilung zwischen den Künsten, in denen sich die Zwiespältigkeit in der Erfahrung des Fremden, wie der Titel des Bandes mit Rückbezug auf Freud anspricht, zwischen "Faszination und Schrecken" ebenso aufgehoben wie gestaltet findet, einerseits und den politischen, auch ideologisch überformbaren Praxisfeldern der modernen Gesellschaft eine wichtige Rolle, in denen über weite Strecken im 20. Jahrhundert der Hang zur Vereinseitigung, zur Ausgrenzung und Vernichtung des Anderen und Fremden im Vordergrund steht.

Denn auch dies gehört noch zur Spezifik des Umgangs mit Fremdheit in der fortgeschrittenen (Zweiten?) Moderne: Das Wissen um ein gesellschaftlich erzeugtes, nicht einfach wahrgenommenes und abzubauendes Fremdes und die damit verbundenen Ansprüche an Toleranz und Einsicht in komplexe gesellschaftliche Verhältnisse treten in Konkurrenz zur Barbarisierung von Menschen und Massen, wobei hier nicht alleine an Massenmedien und ideologische Massenlenkung zu denken ist. Vielmehr gibt es auch eine in dieser Hinsicht als mobilisierende Kraft wirkende fatale Dimension in den Bildungs- und Kulturschätzen alteuropäischer Überlieferung, denen gegenüber die moderne Literatur, so zeigen es die Untersuchungen etwa zu den Bildern des "nahen Fremden in der Literatur um 1900" (Rolf-Peter Janz) schon früh die Funktionen des Spiegels, des Kontrastes und auch der Kritik wahrgenommen hat. Was sich im Umgang mit Fremden seit der antiken Gegenüberstellung von "Autochthonen" und "Barbaren" bis heute im Zuge des Weges zur fortgeschrittenen Industriemoderne europäisch-nordamerikanischer Prägung verändert hat, vermag der Herausgeber in der prägnanten Formel "Die Fremden heute sind nicht die Barbaren, vielmehr werden sie zu deren Opfern." (S. 15) zu fassen.

Spektrum der Arbeiten

Durch die Bandbreite des Spektrums der hier versammelten Arbeiten reicht von der Antike bis zur Moderne, von der im Mythos von der fremden Frau ("Amazone") soziabel gemachten Tatsache der Entstehung der antiken Städtegemeinschaften nicht auf der Basis von Homo-, sondern von Heterogenität (Josine H. Blok, S. 106) bis zur Reflexion der im Drama (und in der Kultur) der Moderne innewohnenden, an den Fremden sich auslebenden Gewaltexzesse (etwa am Beispiel von Hoffmannsthals Elektra, Hans Richard Brittnacher, S. 175). Damit vermag der vorliegende Band sowohl in der Tiefe der historischen Strukturierung als auch im Überblick über zahlreiche, verschiedene Bezugsfelder, in denen die Relation auf das Fremde in der abendländischen Welt eine Rolle spielt, Aufklärung zu schaffen. Der Akzent liegt dabei auf dem (auch historisch und sozial bestimmten) Konstruktionscharakter der Beziehung auf das Fremde; nicht zuletzt lässt sich damit auch der Ertrag einer spezifisch kulturwissenschaftlichen Erkundung kultureller Muster und Objektivationen belegen.

Während der Titel auf Siegmund Freuds Erkundungen der Gefühls- und Wahrnehmungsambivalenzen in seinen Studien zum Unheimlichen (1919), Zur Psychopathologie des Alltagslebens (1901) und zum Unbehagen in der Kultur (1930) anspielt, die sich dann in der teils sozialwissenschaftlich, teils sozialpsychologisch angestoßenen Neubestimmung der Ethnologie seit den 1980er Jahren, etwa in Karl-Heinz Kohls Studien zu Abwehr und Verlangen (1987) wieder aufgenommen finden, setzen die Studien dieses Bandes auf das Wechselgespräch der verschiedenen Kulturwissenschaften, soweit sie bei der zugrunde liegenden Konferenz zur Sprache kamen. Selbstverständlich lassen sich – wie immer – neben der damit verbundenen Vielfalt auch die Zufälligkeit der Auswahl und unterschiedlich tiefgründige bzw. weiterführende Beiträge herausheben, nicht zuletzt Lücken und Mängel.

So gibt es zwar einen Aufsatz über das Fremde in der Klassischen Musik (Manfred Wagner), wobei sehr zu fragen ist, ob hier nicht besser im Sinne einer Identitätslogik vom "Anderen" oder weniger pathetisch vom Unbekannten oder Befremdlichen zu sprechen wäre, da sich die spezifische soziale Codierung des "Fremden" in der formalen Sprache der Musik vielleicht am wenigsten identifizieren lässt; eine entsprechende Bearbeitung des in dieser Frage nicht gerade unwichtigen Feldes der Popkultur und der Popmusik (vgl. dazu etwa die Arbeiten des Kölner Migrationsforschers Mark Terkessidis oder der englischen Kultur- bzw. Poptheoretiker Stuart Hall oder Simon Frith) oder auch anderer populärer Medien (mit Ausnahme einer Studie zur Horror-Phantastik im Kino von Thomas Koebner) fehlt.

Am Auffallendsten aber dürfte die Lücke sein, die zwischen den sehr nachhaltig gearbeiteten Studien zur frühen Neuzeit und dem dann ziemlich abrupt einsetzenden Blick auf die Literatur zu Beginn des 20. Jahrhunderts klafft, denn hier bleiben, wenn man einmal davon absieht, dass im Beitrag über den "Fremden in der Landschaft" noch einmal auf einige Autoren des 19. Jahrhunderts zurückgegriffen wird, wichtige und auch langfristig wirksame Aspekte in der Formationsgeschichte des Umgangs der Moderne mit dem Fremden einfach unberücksichtigt.

Originell sind Ansätze, die sich auf die Integration bzw. Ausschließung und die entsprechende Gestaltung des Fremden in erlebten Räumen, also in Landschaft und "Heimat", beziehen, wobei Wendelin Schmidt-Dengler seine Studie zur Rolle des Fremden in der Landschaft bei Ferdinand Raimund, Nikolaus Lenau, Adalbert Stifter, Peter Rosegger und Ferdinand Kürnberger analytisch unter die Formel stellt: "...der Fremde macht diese Landschaft erst zu dem, was sie ist: Aus seiner Sicht erhalten die Menschen ihre Identität durch Landschaft." (S. 194). Nicht der Heimatboden macht also – wie vielfach ideologisch vertreten – die Heimat aus, sondern, polemisch und ideologiekritisch gesagt, der Kampf um sie; erst das Fremde schafft die Projektionsfläche, vor der sich dann das Eigene zu seiner Besonderheit und Absonderlichkeit versteigen kann. Diese Einsicht wird im Beitrag von Wolfgang Hackl zur Rolle des Fremden im Tourismus Tirols bei theoretisch schwachen Grundlagen durch eindrucksvolle Beispiele noch untermauert.

Anthropologie und
Ideologie des Fremden

Es ist die in diesen Vexierbildern erkennbare und in der Literatur der Moderne vielfach reflektierte Mischung aus anthropologischen Setzungen und ideologisch machtorientiertem Ge- bzw. Missbrauch, die zur Moderne hin die Bezugnahme und Inszenierung des Fremden unter massenmobilisierenden, ordnungsversessenen und machtgierigen Gesichtspunkten so attraktiv macht. Von hier aus finden die auf literarische und andere künstlerische Produkte bezogenen Studien des Bandes wiederum Anschluss an die von Ulrich Bielefeld zu Anfang des Bandes im Bezug auf die Klassiker der Soziologie entworfene Funktionsbestimmung des Fremden in den modernen Industriegesellschaften. Ältere Entwürfe, in denen die Bezugnahme auf das Fremde als soziologisches Modell oder anthropologisches Laboratorium dienen konnte (vgl. S. 30 ff.), werden hier durch die Einsicht korrigiert, dass diese Bezugnahme in fortgeschrittenen Industriegesellschaften einer reflexiv entworfenen Praxis der Machtsicherung durch die systematische Produktion interner Grenzziehungen (vgl. S. 35) dient.

National sich definierende "Volksgemeinschaften" – Reaktionsbildungen in der Moderne und Gegenentwürfe zu ihr – brauchen, um ihren fiktionalen Charakter und damit auch die Unbegründetheit ihrer Gefolgschaftszumutungen zu verschleiern, ihre Gegenbilder: Dies begründet und forciert die Suche nach dem Feind, dem Verräter, nicht zuletzt dem Fremden, die – so auch in der Literatur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, aber auch in der Dreyfus-Affäre im Frankreich der 1890er Jahre
(vgl. S. 37 ff.), – im Antisemitismus ihren Vorreiter, ihren Schrittmacher hat.

Aber Bielefelds Studie geht noch einen Schritt weiter in Richtung der gegenwärtigen, von Globalisierung und Migration bestimmten gesellschaftlichen Verhältnisse, indem er im Hinblick auf die Gegenwart von einer Demokratisierung des Fremden (S. 40) ausgeht. Im Anschluss an die Arbeiten von Anthony Giddens oder Ulrich Beck könnte er freilich auch von der Universalisierung der Fremden sprechen: Potentiell sind allein aufgrund der wachsenden Mobilität alle Menschen in den Gegenwartsgesellschaften Fremde – für einander und im Bezug auf die jeweils anderen, von deren Lebenszusammenhänge sie gleichwohl in dieser Fremdheit oft nur graduelle Unterschiede trennen. "Fremdheit bildet keine Ausnahmeerfahrung mehr, Fremdsein ist tatsächlich alltäglich geworden." (S. 42)

Dies führt aber, Bielfeld zufolge, nicht nur zu neuen Gruppen und Erscheinungsbildern des Fremden (Postkoloniale Fremde, Arbeitsmigranten, Flüchtlinge). Es führt auch in den Gesellschaften zu unterschiedlichen Formationen, die sich entlang ihrer Erfahrungen mit Fremden, den zugehörigen Einstellungen und ihren sonstigen sozialen und politischen Vorstellungen im Hinblick auf den Umgang mit Fremdheit formieren und ebenso gruppieren lassen (S. 42–45). Damit wird, so Bielfelds Diagnose, das Problem der Grenze für fortgeschrittene moderne Gesellschaften nicht mehr vornehmlich zu einer Frage der Abgrenzung (nach außen), sondern zur Aufgabe eines reflektierten, d. h. die eigene Gemachtheit und Künstlichkeit dieser Gruppengrenzen im Inneren kennenden und bearbeitenden Umgangs mit solcherart internen Grenzen.

Vormoderne Konstellationen

Es sind daran anschließend weniger die Bilder, Skizzen und Verzerrungen des Umgangs mit dem Fremden in den Künsten der Moderne, die – soweit sie in den diesbezüglichen Einzelstudien des Bandes bearbeitet werden – für diese Problem- und Aufgabenstellung der Gegenwart freilich eine Art von Impuls und Reflexionschance bieten können. Vielmehr können hier die der älteren Welt gewidmeten Studien (Amazonenmythen in der Frühzeit der griechischen Antike, frühmoderne Reflexionen der europäischen Expansion) und die daran erarbeiteten theoretischen und historischen Befunde, weiterführen, indem diese die aktuellen Problemlagen und Aufgabenstellung in die lange Geschichte der Zivilisationsprozesses als einer Formgeschichte der Differenz von "Eigen" und "Fremd" einordnen können. Damit tragen diese Befunde auch zu Reflexion, Relativierung und Entdramatisierung bei; in diesem Sinne sind sie wirklich lesenswert.

Am Beispiel der Gedanken, die sich Montaigne in seinem Essay Des Cannibales von 1580 zu den Berichten über die südamerikanischen Kannibalen macht, arbeitet Renate Schlesier zunächst die wechselseitige Spiegelfunktion heraus, die die Bezugnahme auf das Fremde für Montaignes Anthropologie und sein Projekt der anthropologischen Selbsterkundung hat. Sie schließt aber mit der bemerkenswerten Pointe, dass die hier erkundete Relativierung weder vor den Positionen der zeitgenössischen religiösen Auseinandersetzungen, noch vor dem eigenen Selbst halt machen kann: "…nicht in der großen Welt, sondern im Mikrokosmos seines Ichs macht er [Montaigne – W. N.] die ihn bestürzendste, weil ihn unmittelbar betreffende Entdeckung: diejenige der erstaunlichen Ungeheuer, die in seinem Innern lauern. In der Intimität der Selbstbeobachtung wird er sich selbst am meisten fremd. Und auch dies noch erscheint ihm nur relativ gültig." (S. 83)

Was sich hier im Hinblick auf die Funktion der Bezugnahme auf das Fremde für die Konstituierung (moderner?) Subjektivität formuliert findet, wird von der niederländischen Althistorikerin Josine H. Blok am Beispiel der Integrationsfunktion der Amazonen-Geschichten in den frühgriechischen Stadtgründungsmythen weitergeführt; dabei spielt die Weiblichkeit der mythischen Heldin in der Hinsicht eine wichtige Rolle als dass darüber ältere, den unteren Bevölkerungsschichten zugehörige weibliche Götter- und Identitätsmuster in die von den dominanten Gesellschaftsschichten vertretenen Gründungsmuster integriert werden
(vgl. S. 101 f.) können.

In der Ergänzung der sonstigen mythologischen Strukturen und Codierungen um die in der Amazone erscheinenden "fremden Frau" ergibt sich für die auf Synthese setzenden Gründungsmodelle der jeweiligen Stadterzählungen die weiterführende Chance, die bereits codierten Elemente des Mythos noch einmal umzucodieren, weitere, ältere, sozial entferntere Erfahrungsräume und deren zeichenhafte Repräsentation in die Selbstdefinition der Bezugsgruppe aufzunehmen: "Die >Amazone< vermittelte ein >altes< Recht auf Bewohnung – in der Gestalt, die das fremde Land und seine Bevölkerung im Rahmen der eigenen Welt einnahm."
(S. 104) Heterogenität des Ursprungs wird so zu Homogenität umgeschaffen und bleibt zugleich – Identität, möglicherweise Stabilität und Erfahrungsspeicher bietend – als Differenzerfahrung erhalten.

Aktuelle Bezüge

Diesem Prozess, Heterogenität in Homogenität umzuschaffen bzw. diese verstehbar zu machen, geht auch Hildegard Frübis in ihrer Untersuchung zu den künstlerischen Repräsentationen der Entdeckung Amerikas im deutschsprachigen Kultraum des 16. Jahrhunderts nach. Hier wird eine Spur aufgenommen, die im eingangs dargelegten Sinn sowohl zu den besonderen Leistungen / Problemen künstlerischer Repräsentationen im Umgang mit dem Fremden führt als auch den Besonderheiten der modernen Gesellschaften in dieser Hinsicht Rechnung trägt, bis dahin dass sich aus ihrer Interpretation der Repräsentationen der "Wilden" in den frühmodernen Gestaltungen (Holzschnitte, Teppiche, Flugschriften, Bildillustrationen zu Texten von Hans Sachs) aktuelle Bezugspunkte zum Umgang mit Faszination und Schrecken in der Erfahrung des Fremden finden lassen.

Da sie selbst in ihrer Studie den Bogen schlägt zwischen vergleichsweise aktuellen Befunden des Bezugs auf das Fremde in der eben genannten Ambivalenz und der langen Geschichte, die die Bezugnahme auf das Fremde in der Geschichte und in den Gestaltungen in der okzidentalen Perspektive hat, mag dieser Beitrag zum Schluss hier noch kurz skizziert werden. "Die schon den Kulturentstehungslehren der Antike anhaftende polare Spannung von primitiver Kultur und moralischer Integrität, die im Verlauf des zivilisatorischen Fortschritts degeneriert, gewinnt in der zivilisationskritischen Umbruchssituation am Beginn der Neuzeit wieder an Bedeutung." (S. 112)

Es ist diese Erfahrung, das Bewusstsein in einer Zeit des Umbruchs zu leben, die sowohl den Bedarf für die Aufnahme der älteren Zeichensysteme und Deutungsmuster schafft als auch die Bereitschaft fördert, diese innovativ umzugestalten, sich von Neuem, so auch schon Montaigne, den Erfahrungen selbst zuzuwenden. Damit aber gerät auch im 16. Jahrhundert notwendigerweise die jeweils eigene Gesellschaft, das eigene Bezugssystem in den Blick, so dass sich bereits in diesen Bildern und Gestalten nicht eigentlich das Fremde, sondern im oben mit Bezug auf Simmel erläuterten Sinn, die eigene Welt im Medium der Gestaltung des Fremden zeigt und fassen lässt. "Das aus der eigenen Kultur Ausgegrenzte dient innerhalb dieses Diskurses als Metapher um fremdes und >vorkulturelles< Verhalten zu charakterisieren sowie das eigene neu zu bestimmen." (S. 120)

Dieser Befund wird von Frübis in ihrer Studie entlang zentraler kultureller Muster wie Moral- und Familienvorstellungen, Einschätzung von Wildheit und Lastern, ebenso aber auch von Friedfertigkeit und Unschuld, ausgeführt. Gemeinsam ist diesen Vorstellungen und ihren künstlerischen Gestaltungen, dass sie neben der Erkenntnisebene eine auf Gefühlslenkung, Identitätskonstruktion und Selbstbestimmung zielende Dimension des Lernens aus der Interpretation des Fremden anzeigen können, die sowohl den damaligen Nutzen als auch die aktuellen Bezugnahmen auf die Erfahrung des Fremden erhellen können. "Indem die spätmittelalterlichen Bildmotive vom wilden Mann und seiner Familie (in denen sich die Erfahrung der Fremdheit innerhalb der eigenen Gesellschaft zu erkennen gibt) in den amerikanischen Raum projiziert werden, gerät die >ferne Fremde< zu einem Spiegel, in dem sich die Konflikte, Wünsche und Hoffnungen der eigenen Lebenswelt abzeichnen. Faszination und Schrecken liegen hier so nahe beieinander, weil das Spiegelbild in der Ferne zum Reflexionsfeld der eigenen gesellschaftlichen Ordnung geworden ist." (S. 123 f.)

Frübis arbeitet mit dieser historischen Studie einer theoretisch fundierten Wahrnehmung der im europäischen Muster ausgebildeten Beobachtung des Fremden unter den Vorzeichen von Faszination und Schrecken vor, die als Ertrag ihrer Studie, zugleich aber auch des ganzen Bandes angesehen werden kann:

"In der Möglichkeit und dem Begehren nach einer anderen Ordnung liegt die Faszination; in der Un-Ordnung und dem Unbekannten als möglichen Resultaten des Außerkrafttretens der eigenen Ordnung liegt der Schrecken geborgen. Zugleich wird im Prozess dieser reziproken Selbstbespiegelung ... die Fremdheit ... gemildert, indem sie der eigenen Erfahrung einverleibt wird. Die Bilder von der fernen Fremde Amerikas bleiben damit schließlich das Produkt ihres europäischen Ursprungs, die mehr über die Verfasstheit der eigenen Gesellschaft verraten, als dass sie Auskünfte über die amerikanischen Länder und ihre Bewohner geben könnten." (S. 124)

Das gilt freilich nicht nur für die beiden Amerika damals, sondern ebenso sehr heute für unser Bild vom Islam und auch für jene langen Listen angeblicher Muster, Verhaltensweisen und Wertvorstellungen, die sich derzeit in so manchem Handbuch oder Trainingsmaterial interkultureller Kommunikation wieder finden.


Prof. Dr. Werner Nell
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften
Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft
D-06099 Halle (Saale)

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Ins Netz gestellt am 18.10.2003
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IASLonline ISSN 1612-0442
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Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Lena Grundhuber.


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