Neuhaus über Aspetsberger: Dichter-Kanon

IASLonline


Stefan Neuhaus

Ein Dichter-Kanon für die Gegenwart

  • Friedbert Aspetsberger (Hg.): Ein Dichter-Kanon für die Gegenwart! Urteile und Vorschläge der Kritikerinnen und Kritiker (Schriftenreihe Literatur des Instituts für Österreichkunde 13) Innsbruck u.a.: Studien-Verlag 2003. 216 S. Kart. EUR (D) 22,-.
    ISBN 3-7065-1778-7.


Konjunktur des Kanons

Wer noch nicht weiß, was ein Kanon ist, der ist nicht auf dem Laufenden. Der Kanon hat Hochkonjunktur. Das Spektrum reicht von Zeitschriftenbeiträgen (ZEIT-Umfrage von 1997, SPIEGEL-Kanon von Marcel Reich-Ranicki von 2001, ZEIT-Schülerkanon von 2003...) bis zu wissenschaftlichen Publikationen; von rigiden Kanones bis zur Leugnung, dass es heute noch einen Kanon gibt; von engen (wenige Titel) bis zu weiten Kanones; von nationalsprachlichen zu internationalen Kanones...

Hier eine kleine Auswahl aus dem reich blühenden Feld der jüngsten Kanonliteratur: 1996 erschien bei UTB eine grundlegende "Einführung in die Wertung von Literatur", ein Thema, das von dem der Kanonbildung nicht isoliert werden kann. 1 Diesen Band sollte jeder zur Kenntnis nehmen, der sich mit Wertungsfragen beschäftigt. 1998 stellte Renate von Heydebrand als Herausgeberin eines DFG-Symposienbandes im Titel fest: "Kanon Macht Kultur". 2 Als nicht weniger grundlegend für die künftige Beschäftigung mit dem Thema dürfte sich der 2002 erschienene text + kritik-Band "Literarische Kanonbildung" herausstellen. 3

Sumpfblüten und Orchideen

Dabei gibt es auch Pflanzen, die man mit etwas Boshaftigkeit als Sumpfblüten bezeichnen könnte. 2002 dekretierte Christiane Zschirnt: Bücher. "Alles, was man wissen muss". 4 Die Aufteilung nach Themen von "Werke, die die Welt beschreiben" bis "Kinder" ist sicher originell, die Auswahl ist es nicht, von wenigen Ausnahmen abgesehen. Dazu kommt der ebenso unmotivierte wie dogmatische Gestus, mit dem Goethe neben Karl Marx und Carl Barks (den Schöpfer von Donald Duck) gestellt wird. Wer glaubt, sich mit solchen Handlungsanweisungen erfolgreich der Literatur nähern zu können, der dürfte auch ins Konzert gehen, um sein neues Kleid oder seinen neuen Mercedes auszuführen, aber nicht, um Musik zu hören.

Nun finden sich in der großen weiten Kanonlandschaft genausogut Orchideen, exotische Pflanzen, nicht immer ganz gerade gewachsen, aber interessant anzuschauen. Im vergangenen Frühling erblüht ist der "Dichter-Kanon für die Gegenwart!" des Instituts für Österreichkunde, womit zwei wichtige Einschränkungen vorgenommen wären, die sich in dem Begriff der österreichischen Gegenwartsliteratur verdichten lassen. Das Ausrufezeichen des Titels wirkt etwas fehl am Platz, dafür sorgt der Untertitel für die erste – wie sich zeigen wird, notwendige – Relativierung: "Urteile und Vorschläge der Kritikerinnen und Kritiker" [meine Hervorhebung].

Tatsächlich artikulieren viele der Beiträger ihre Ratlosigkeit angesichts der klaren Vorgaben, die ihnen gemacht wurden, um dann, was den Orchideencharakter des Bandes begründet, mit Begeisterung ihre eigenen Vorlieben zu artikulieren. Begeisterung wirkt ansteckend, und wer nicht nach der Lektüre den unwiderstehlichen Drang verspürt, die Konjunktur zumindest einiger der genannten Autoren via Buchhandel anzukurbeln, der muss entweder sehr abgebrüht oder sehr belesen sein. Dazu kommen mehrere Beiträge, die – mit Daten und Fakten unterfüttert – interessante Schlaglichter auf Mechanismen der Kanonbildung werfen, insbesondere jene des Buchmarkts und der Kulturredaktionen.

Davor hat der Herausgeber des Bandes ein Vorwort gesetzt. Es ist zwar mit "Keine Sorge" betitelt, doch hat sich der Verfasser dieser Zeilen danach Sorgen gemacht, und zwar über seine Fähigkeit, Texte nicht nur lesen, sondern auch verstehen zu können. Die andere, aus subjektiver Sicht sympathischere Lösung wäre, dass es am Text liegt, den man im positiven Sinn vielleicht als >avantgardistisch< klassifizieren könnte. Oder als >forciert postmodern<, denn jeder kann sich seine Lieblingsmeinung heraussuchen. Das Spektrum reicht von der Vermutung, "[...] dass längst ein Bedürfnis nach wieder strengem Kanon, längst die Notwendigkeit für kanonische Lösungen wie bei der Vereinheitlichung der unterschiedlichen Krankenkassen- und Pensionssysteme vorliegt" (S. 9), bis zur Feststellung: "Es ist Platz genug im Museum der modernen Poesie für viele Kanones – wie auch die Tagung bis ins unnachgewiesene persönliche Urteil zeigte –, auch wenn die Literaturen immer weltweiter zugänglich werden und unsere Überblicke sich in ihrer Einseitigkeit und unsere Kanonfragen sich in ihrer Relativität deutlicher und ohne Alternativen durch das weltweit erweiterte Nichtwissen zeigen" (S. 11).

Was denn nun: Ist es gut, dass es Platz für viele Kanones gibt? Oder bedeutet das "auch wenn", dass es lieber nur wenige Kanones geben sollte? Ist Herr Aspetsberger gar ein heimlicher Anhänger von Christiane Zschirnt und traut sich nur nicht, es zu sagen?

Frankensteins Bildung

Auf das – aus subjektiver Rezensentensicht – kryptische Vorwort folgt ein Aufsatz zum "Literaturkanon zwischen Ästhetik und Kulturökonomie", der für alle Mühen in der avantgardistischen Ebene entschädigt. Schon der Anfang von Clemens Ruthners Beitrag nötigt zur uneingeschränkten Bewunderung:

Es gibt zumindest ein missing link zwischen Frankensteins entlaufenem Monstrum (aus Mary Shelleys phantastischem Roman), seinem etwas älteren Zeitgenossen namens Goethe und den österreichischen Schüler / innen der Gegenwart. Ihre Gemeinsamkeit liegt beileibe nicht im Moment des Monströsen, sondern im Bereich der kulturellen Sozialisation dieser Heranwachsenden: Es ist der Kanon, mit dem nicht nur die jungen Menschen, sondern sogar das autodidaktisch vorgehende, aus Leichenteilen zusammengeflickte Ungeheuer Bildung erworben haben, in unserem Fall literarisches Wissen – auch eine Form der bricolage, die zum Selbst- und Fremdentwurf des jeweiligen Individuums durch Kultur führt (S. 15).

Angesichts der scheinbar unendlichen Fülle der Bücher einerseits, von den Neuerscheinungen jedes Jahres ganz zu schweigen, und der begrenzten Lebenszeit des Menschen andererseits muss jeder Leser eine vergleichsweise enge Auswahl treffen. Ruthner lädt ein zu einem Rundgang durch die wissenschaftlichen Theorien, die erklären wollen, wie diese Auswahl zustande kommt. Wir lernen unterscheiden zwischen einem Kern kanonischer Texte, einer Zwischenschicht und einer Peripherie, zwischen Kanon, Gegenkanon, Neben- und Subkanon (S. 23) – und was der Begriffsprägungen mehr sind. "Hilfreich" findet Ruthner, da kann man ihm nur zustimmen, die Unterscheidung Renate von Heydebrands zwischen einem postulierten Kanon und einem wilden oder akuten Kanon (S. 25), um die Differenz zwischen bildungsbürgerlicher Lesedoktrin und real existierender Lesepraxis zu beschreiben. Es würde sich lohnen, die bereits im Eingangszitat des Beitrags angedeutete These, dass ein Kanon auch immer "eine Wertungs- und Machtstruktur" darstellt (S. 26), weiter zu verfolgen.

Konstanze Fliedl hat Verleger, Lektoren und andere Angehörige des Literaturbetriebs interviewt. Der Beitragstitel "Keiner kann dafür" deutet bereits an: Keiner der Interviewten sieht sich als einflussreichen Kanonisierer. Man könnte Fliedls implizite Bewertung weiter so zuspitzen: Jeder versucht sich aus der Verantwortung für seine Arbeit zu stehlen. Die Schlussfolgerung lautet: "Diese Entscheidungen [für ein bestimmtes Buch, einen bestimmten Autor] durch eine Reflexion ihres Zustandekommens zu verantworten, wäre immerhin von professionellen Kanonbildnern zu verlangen. Das hätten sie dafür zu können" (S. 57).

Immerhin: Die folgenden Beiträge professioneller Kanonbildner bemühen sich redlich darum. Franz Schuhs Beitrag über Kanonisierung im Allgemeinen und Krimi-Autor Wolf Haas im Besonderen eröffnet den Reigen. Schuh sieht im gegenwärtigen Kanondiskurs, wie er im Feuilleton zu beobachten ist, ein

[...] Match Bildungsphilister plus Einfaltspinsel gegen echte Gebildete, die natürlich allein stehen und exklusiv spielen, weil sie die Helden sind in dürftiger Zeit (S. 64).

Schuh findet eine Unterscheidung von Höhenkamm- und Trivialliteratur müßig:

Die Grenzen zwischen Schund und Literatur sind, nicht zuletzt beim Krimi[,] fließend: Im Schund gibt es literarische Momente, und in der Literatur schundige (S. 67).

Der – so deutlich aber nicht ausgesprochene – Gradmesser Schuhs ist das Verhältnis des Texts zur Welt. So fasziniert ihn an den Büchern von Wolf Haas besonders, dass sie "Literatur-und-Welt-Verspottungsmaschinen" sind, die der Leser "in sich anwerfen" kann (S. 75). Wenn gute Literatur quer zum Diskurs der Zeit steht, dann lässt sie sich nicht mit dem Mittel der Kanonisierung in den Diskurs einbinden, das käme einer Domestizierung gleich. In den Worten von Franz Schuh:

Man will die Bildungswelt in Ordnung bringen, während doch ihre Unordnung das Potential ist, aus dem seit Jahrzehnten die kreative Leistung (auch die kreative Leistung des Lesers) herrührt.(S. 77)

Die Rolle der Medien

Christine Rigler beleuchtet den Prozess der Medialisierung und Kommerzialisierung von Literatur, der bestimmte Traditionen mit anderen Mitteln fortführt: "Literatur verkauft sich eben am besten über die Person des Autors. So funktionieren die Medien, aber in Wahrheit auch ein Großteil der Leser" (S. 80). Rigler verfolgt den jüngeren Typus des Entertainers und zeigt am Beispiel der Popliteraten, wie das neue Literaturkonzept und die Vermarktung Hand in Hand gehen. Zu fragen wäre nach den gegenläufigen Autoren-Images. Wer hat noch nicht die Beobachtung gemacht, dass manche Autoren gerade wegen ihrer als autorentypisch betrachteten Introvertiertheit und Wortkargheit hofiert werden?

Daniela Strigl setzt sich mit der Frage von Kern und Rändern des Kanons auseinander, sie fragt nach jenen "im Licht" und denen "im Dunkeln". Dabei beleuchtet sie kritisch einen Automatismus des Literturbetriebs: "Prominenz neigt ja zur Selbstverstärkung, wird irgendwann zu einer Art perpetuum mobile, Veranstalter, die prominente Autoren einladen, weil sie prominent sind, machen sie noch prominenter" (S. 115). Selbst die subjektive Beurteilung von Literatur wirft Fragen auf: "Es gibt Bücher, die einem ein rauschfreies intellektuelles Vergnügen bereiten, Bücher, deren literarische Qualität man [...] bewundert, die man aber nicht mag. Und es gibt Bücher, die man mit Begeisterung und, ja, Ergriffenheit liest" (S. 125).

Kritisch zum österreichischen Literaturbetrieb äußert sich Franz Haas, er sieht in der Kultivierung bestimmter Autoren eine Cliquenwirtschaft walten. Anhand von Beispielen etablierter Autoren wie Robert Menasse liefert er, und das ohne direkte Bezugnahme, Belege für den von Strigl ausgemachten Prominenten-Bonus. Die beiden Beiträge ergänzen sich idealtypisch.

Als Nächstes haben die Blattmacher das Wort. Gustav Ernst von der Zeitschrift kolik und Klaus Nüchtern vom falter geben Einblicke in ihre Arbeit. Beide verstehen sich als Korrektiv zu den großen Feuilletons und gehen dabei auch selbstkritisch mit sich selbst ins Gericht: "Wenn man sich den Literaturbetrieb als Wiederkäuer vorstellt, dann kommt den Literaturkritikern in etwa die Rolle des Labmagens zu [...]" (Nüchtern, S. 168). Auch wenn er selbst nichts von Kanonbildung hält, stellt Nüchtern eine Liste von "10 Smash Hits of Contemporary Australien Literature" auf, angeführt von Elfriede Jelineks Die Kinder der Toten und Marlene Streeruwitz' Verführungen (S. 174 ff.).

Den Part des Literaturexperten beim Rundfunk hat Konrad Holzer vom ORF übernommen, auch er stellt jüngere Texte vor, beschränkt sich aber nicht auf österreichische. Der letzte Beitrag des Bandes mit Nachwort-Charakter stammt von Franz Joseph Czernin, für ihn ist "Erkenntnis von Kunstwerken [...] immer auch Werterkenntnis" (S. 192). Das ist nicht zuletzt deshalb bemerkenswert, weil vor rund vier Jahrzehnten ein Germanist ein Buch zum Kanon publiziert hat, für das er ein Jahrzehnt lang Prügel einstecken musste. "Wertungsfragen sind Grundsatzfragen", hatte Walter Müller-Seidel damals bündig festgestellt 5 und ein Ziel vorgegeben:

Die indirekte [oder implizite] Wertung zu einer direkten und methodischen fortzuentwickeln, betrifft endlich über einzelne Teilbereiche hinaus das Ganze der Literatur [...]." 6

Die Frage ist die Antwort

Ist die Kanondiskussion also wieder an ihrem Ausgangspunkt angekommen? Das wohl nicht, aber es gibt mehr Gemeinsamkeiten zwischen Himmel und Erde, als die Expertenweisheit sich träumen lässt. Auch viele Beiträge des vorliegenden Bandes, so uneinheitlich manche bereits in sich sind, zeichnen sich durch Gemeinsamkeiten aus: Kanones sollte es geben, aber sie sollten nicht dogmatisch verkündet werden, denn sie sind und bleiben subjektiv. Um es mit Dubslav von Stechlin zu sagen: "Unanfechtbare Wahrheiten gibt es überhaupt nicht, und wenn es welche gibt, so sind sie langweilig." 7

Vermutlich wussten die klugen Schriftsteller schon immer, dass es Kriterien und Funktionen der Kanones zu thematisieren und zu hinterfragen gilt, um mit diesen Kanones gut leben und arbeiten zu können. Offenbar scheint sich – der vorliegende Band belegt es – diese Erkenntnis nun auch in Wissenschaft und Feuilleton durchgesetzt zu haben.


Priv.-Doz. Dr. Stefan Neuhaus
Otto-Friedrich-Universität Bamberg
D-96045 Bamberg
Homepage

E-Mail mit vordefiniertem Nachrichtentext senden:

Ins Netz gestellt am 30.06.2003
IASLonline

IASLonline ISSN 1612-0442
Copyright © by the author. All rights reserved.
This work may be copied for non-profit educational use if proper credit is given to the author and IASLonline.
For other permission, please contact IASLonline.

Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Dr. Simone Winko. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Katrin Fischer.


Weitere Rezensionen stehen auf der Liste neuer Rezensionen und geordnet nach

zur Verfügung.

Möchten Sie zu dieser Rezension Stellung nehmen? Oder selbst für IASLonline rezensieren? Bitte informieren Sie sich hier!


[ Home | Anfang | zurück | Partner ]

Anmerkungen

1 Heydebrand, Renate von u. Simone Winko: Einführung in die Wertung von Literatur. Systematik – Geschichte – Legitimation (UTB 1953) Paderborn u.a. 1996.   zurück

2 Heydebrand, Renate von (Hg.): Kanon Macht Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildungen (Germanistische Symposien-Berichtsbände 19) Stuttgart u. Weimar 1998.   zurück

3 Heinz Ludwig Arnold u. Hermann Korte (Hg.): Literarische Kanonbildung (text + kritik-Sonderband) München: Verlag text + kritik.   zurück

4 Christiane Zschirnt: Bücher. Alles, was man wissen muss. Mit einem Vorwort von Dietrich Schwanitz. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2002.   zurück

5 Walter Müller-Seidel: Probleme der literarischen Wertung. Über die Wissenschaftlichkeit eines unwissenschaftlichen Themas. 2., durchges. Aufl. Stuttgart: Metzler 1969, S. XIV.   zurück

6 Walter Müller-Seidel (Anm 5), S. 26.   zurück

7 Theodor Fontane: Der Stechlin. Roman (Nymphenburger Taschenbuch-Ausgabe 13) München: Nymphenburger Verlagshandlung 1969, S. 10.   zurück