Nickel über Mazal: Die Überlieferung der antiken Literatur im Buchdruck des 15. Jahrhunderts

Holger Nickel

Antike Klassiker in Wiegendrucken




  • Otto Mazal: Die Überlieferung der antiken Literatur im Buchdruck des 15. Jahrhunderts. (Bibliothek des Buchwesens.14, 1–4) Bd. 1–4. Stuttgart: Hiersemann 2003.

    Teilbd.1. X, 334 S. 21 s/w Abb. Gebunden. EUR 148,00.
    ISBN 3-7772-0318-1.

    Teilbd.2. VI, 216 S. 10 s/w Abb. Gebunden. EUR 139,00.
    ISBN 3-7772-0320-3.

    Teilbd. 3. VI, 292 S. 18 s/w Abb. Gebunden. EUR 148,00.
    ISBN 3-7772-0321-1.

    Teilbd. 4. VI, 296 S. 13 s/w Abb. Gebunden. EUR 148,00.
    ISBN 3-7772-0323-8.


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Das Werk gehört in jeden Handapparat eines altertumswissenschaftlichen Instituts und in alle buchhistorisch oder mediävistisch ausgerichteten Bibliotheken. In vier Teilbänden beschreibt es auf 1029 Seiten Text und mit 1656 Anmerkungen die Überlieferung der klassischen griechischen und lateinischen Literatur, der philosophischen und fachwissenschaftlichen Literatur der Römer sowie der jüdischen und christlichen Literatur der Antike. Es enthält eine Auswahlbibliographie von 50 Seiten, 62 Schwarz-Weiß-Abbildungen (nach Vorlagen der Österreichischen Nationalbibliothek Wien) und über 25 Seiten Register. Der letzte behandelte Autor ist Isidor von Sevilla (gest. 636).

[2] 

Otto Mazal war bekanntlich lange Jahre Direktor der Handschriften- und Inkunabelsammlung der Wiener Nationalbibliothek und gleichzeitig Professor an der Wiener Universität. Bibliothekarisches Leben ist gemeinhin ein stilles, die Lehrtätigkeit eines Professors dagegen nutzt das gesprochene und geschriebene Wort. Buchtitel wie den vorliegenden kann man sich unschwer als Vorlesungen vorstellen, veranstaltet für »Hörer aller Fakultäten« oder in einer Reihe »Studium generale«. Inhaltlich behandelt er nicht allein das 15. Jahrhundert, sondern bezieht die Handschriftenzeit und das beginnende 16. Jahrhundert ein.

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Man konsultiert solche Werke meist wohl weniger in Erwartung brillant herausgearbeiteter Details oder frappierender Einzelerkenntnisse – und für einen Rezensenten überstiege eine Suche danach die (fachlichen und zeitlichen) Möglichkeiten, ebenso wie unterschiedliche Auffassungen in Einzelfragen das Ganze nicht beeinträchtigen. Der Benutzer erhofft sich allgemeine Unterrichtung, eine klare Darstellung, Auskunft in Spezialfragen und vielleicht weiterführende Anregungen. Wobei natürlich die (wissenschaftliche) Herkunft des Lesers eine Rolle spielt: In der Einleitung zählt Mazal unter der Teilüberschrift »Bildung der Drucker« (S. 18 f.), eine lange Reihe akademischer Abschlüsse von Frühdruckern auf, und der Inkunabelbibliothekar erinnert sogleich die einschlägigen Publikationen von Ernst Schulz 1 und Ferdinand Geldner. 2 Anders der »Klassische Philologe«, der wahrscheinlich erstaunt ist ob der vielen Magister etc. – sich aber beim Studium mancher Inkunabel-Ausgabe über Textfehler und handschriftliche Korrekturen wundert, die von späteren Lesern herrühren, manchmal aber offenkundig von »Angestellten« der Offizinen, die offensichtlich so ganz perfekt im Lateinischen (und Griechischen?) nicht waren.

[4] 

Zur Stellung von Inkunabelausgaben
in der Textkritik

[5] 

Ähnlich unterschiedlich mag die Optik beim Exkurs über die Textkritik (S. 20 f.) sein: Mancher Altertumswissenschaftler wird an »seinen« Paul Maas 3 denken, der Bibliothekar mit Spezialgebiet Frühdruck, ob des 15. oder auch 16. Jahrhunderts, kann mit »examinatio«, »divinatio« und »Archetypen« wenig anfangen. Sicher ist er sich bewußt, daß die Drucker vielfach Vorlagen ihrer Kollegen kopierten, so daß sich tatsächlich Stemmata von Abhängigkeiten konstruieren lassen. In manchen Fällen gab es gewiß auch eine einzige Handschrift, auf der die ganze Drucküberlieferung basiert. Oft jedoch haben die frühen Drucker vom Erfolg eines Autors gehört und in ihrer Umgebung nach neuen, »nahe liegenden« Handschriften gesucht. In beiden Fällen weiß keiner um die Entfernung dieses meist verschollenen Textzeugen vom eigentlichen Archetypus der Überlieferung.

[6] 

Das Bild wäre plastischer geworden, wenn Mazal den texthistorischen Wert (oder Un-Wert) von Frühdruckausgaben an einem Beispiel gezeigt hätte. Auch wäre es der Erwähnung wert gewesen, daß die Herausgeber moderner historisch-kritischer Textausgaben (unabhängig von ihrer Bedeutung für die Überlieferung) allgemein die Editio princeps als Beginn der nachmittelalterlichen Beschäftigung mit dem Werk nennen. Daß es tatsächlich unhistorisch ist, unsere modernen Maßstäbe der Lesartenanalyse ins endende Mittelalter zu projizieren, läßt Mazal trotz einer gewissen Euphorie bei der Würdigung jener philologischen Bemühungen und seines Ärgers über Handschriftenverluste immer mal durchblicken, so formuliert er »Im Fluß der Entwicklung war zu dieser Zeit noch die Textkritik« (S. 79).

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Bibliographische Probleme

[8] 

Mazal verzichtet nicht nur in der eigentlichen Einleitung, sondern bis S. 86, bis zum Beginn des ersten Autorenkapitels (Homer), gänzlich auf Fußnoten. Das würde man gern akzeptieren, böte die Auswahlbibliographie die entsprechenden weiterführenden Angaben. Ärgerlich wird die Sache freilich, wenn der Leser im Dunklen gelassen wird. Auf S. 34 verweist Mazal auf eine »alte Berechnung des Gesamtkatalogs der Wiegendrucke aus 1940« (über die Verteilung der Frühdrucke auf die Druckländer), ohne Autor und Quelle zu nennen. Auch hätte »man« von einem Praktiker der Inkunabelbibliographie erwarten dürfen, daß er (für »alle Fakultäten«) etwas über die Methoden der Katalogisierung sagt – oder hat er an seinem Arbeitstisch in der Österreichischen Nationalbibliothek nie über unklaren Anfragen ohne Hain- oder GW-Nummer gesessen (und nicht recht gewußt, was der Fragende wirklich wollte)?

[9] 

Ein Mitarbeiter des GW darf an dieser Stelle vielleicht monieren, daß Mazal (im Verlag des GW) mit der Information »auch wenn der ›Gesamtkatalog der Wiegendrucke‹ erst beim Buchstaben G hält« nicht den neuesten Stand weitergibt. 4 Zumindest seit Lieferung X,4 Guillelmus Parisiensis – Henricus de Herp (1998) wurde der folgende Buchstabe begonnen – entsprechend fehlen die Zitate z.B. zu Herodot. Wahrscheinlich liegt um diesen Zeitpunkt jedoch der Redaktionsschluß des Buches. Auf S. 1041 unter den »Werken zum Inkunabeldruck in einzelnen Ländern« hätte man bei den Niederlanden durchaus Gerard van Thienens und John Goldfinchs 1999 erschienenes Verzeichnis von »Incunabula Printed in the Low Countries« 5 erwarten dürfen. Konstantinos Staikos »Charta of Greek Printing« 6 fehlt ebenso. Eine Durchsicht der Auswahlbibliographie brachte keinen Titel nach 1998.

[10] 

Zum Gewicht des Griechischen
und Lateinischen

[11] 

Ein anderes Mißverhältnis scheint im fachlichen Herkommen des Autors begründet. Mazal ist Gräzist und behandelt »Die Voraussetzungen der Rezeption der antiken Sprachen und Literaturen im Abendland« dem historischen Lauf der Geschichte entsprechend. So sind S. 42–68 der griechischen, S. 68–82 der lateinischen Sprache und Literatur gewidmet. Die allein an den Seitenzahlen sichtbare Gewichtung im Umfang scheint zumindest fragwürdig, denn es gibt wohl keinen Zweifel, daß die Wiederentdecker des Altertums in den späteren Buchdruckländern Europas sich bei den Textzeugen zuerst auf die Sprache konzentrierten, die sie verstanden, nämlich Latein. Gewiß gab es spezielle Interessenten für das Griechische, aber die allgemeine Grundlage dürfte die im Westen kontinuierlich präsente Sprache gewesen sein. So hätten viele der großen Sammler, Entdecker und Abschreiber antiker Werke ihren ersten und vornehmlichen Ort nicht im »griechischen«, sondern im »lateinischen« Abschnitt haben müssen, wo sie jetzt eher beiläufig erscheinen. Dies war ihr »Nährboden«.

[12] 

Bilanz

[13] 

Mancher Autor hätte in einem Vorwort den Redaktionsschluß genannt und den Leser so klar informiert. Jeder hätte ja Verständnis dafür gehabt, daß der Verfasser eines so umfassend konzipierten Werkes nicht überall gleich up to date sein kann. Das gilt natürlich ebenso für die Spezialliteratur zu den Autoren. Auch Wertungen (progressiv, konservativ) mag man mit Fragezeichen versehen. Doch eigentlich alle dieser Monita werden sich mit der Zeit »verwachsen«, denn als Grundlagenwerk ist das Buch auf Langzeitwirkung berechnet. Im deutschen Sprachraum steht es gewissermaßen in der Tradition von Georg Voigts »Die Wiederbelebung des classischen Alterthums«, 7 das noch ein knappes Jahrhundert nach dem ersten Erscheinen eine Neuauflage erfuhr, oder des Sammelwerks »Geschichte der Textüberlieferung«, 8 die freilich beide nicht speziell den Buchdruck behandeln. Zudem kann es auf dem weiterhin guten Ruf der deutschsprachigen Altertumswissenschaft aufbauen. Die reine Abfolge der Klassiker-Editionen wird sich nicht mehr ändern, selbst wenn die eine oder andere Inkunabel einmal zeitlich oder örtlich anders eingeordnet werden wird. Was aus der Nähe heute vielleicht auffällt, wird in zwanzig Jahren nicht wahrgenommen werden, und die interpretierenden Abschnitte haben ohnehin ihr eigenes Schicksal »pro captu lectoris«.

[14] 

Dank also an Otto Mazal, der sich – aere perennius – ein weiteres Denkmal setzte, dank an den Verlag.


Holger Nickel
Staatsbibliothek zu Berlin – IIIA
Gesamtkatalog der Wiegendrucke
DE – 10102 Berlin

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Ins Netz gestellt am 30.07.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

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Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Natalia Igl.

Empfohlene Zitierweise:

Holger Nickel: Antike Klassiker in Wiegendrucken. (Rezension über: Otto Mazal: Die Überlieferung der antiken Literatur im Buchdruck des 15. Jahrhunderts. (Bibliothek des Buchwesens.14, 1–4) Bd. 1–4. Stuttgart: Hiersemann 2003.)
In: IASLonline [30.07.2004]
URL: <http://iasl.uni-muenchen.de/rezensio/liste/nickel.html>
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Anmerkungen

Ernst Schulz: Verbummelte Studenten im deutschen Buchgewerbe des 15. Jahrhunderts. In: Philobiblon 2 (1929), S. 235–239.   zurück
Ferdinand Geldner: Bildungsstand und ursprünglicher Beruf der deutschen Buchdrucker des 15. Jahrhunderts. In: Homage to a Bookman. Essays on Manuscripts … for Hans P. Kraus. Berlin 1967, S. 117–131.   zurück
Paul Maas: Textkritik. 4. Aufl. Leipzig 1960.   zurück
Incunabula printed in the Low Countries: a census, ed. by Gerard van Thienen & John Goldfinch (Bibliotheca bibliographica Neerlandica 36) Nieuwkoop 1999.    zurück
Konstantinos Staikos: Charta of Greek printing. The contribution of Greek editors, printers and publishers to the Renaissance in Italy and the West. Bd. 1: Fifteenth century. Köln 1998.   zurück
Georg Voigt: Die Wiederbelebung des classischen Alterthums. Berlin 1859.   zurück
Geschichte der Textüberlieferung der antiken und mittelalterlichen Literatur. 2 Bde. Zürich 1961–1964.   zurück