Abendländische Geschichte am
Leitfaden der Familie
- Albrecht Koschorke: Die Heilige Familie und ihre Folgen.
Ein Versuch. (Forum Wissenschaft, Kultur & Medien) Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag 2000. 240 S. mit Abb. DM 25,90.
ISBN 3-596-14765-4
Wer den Versuch wagt, sich mit der Heiligen Familie und ihren
Folgen zu beschäftigen, muß wahrhaft unerschrocken sein. Denn
diese Folgen sind zweifellos – und das demonstriert auch Koschorkes Versuch
– unabsehbar und unübersehbar. Trotz seiner Unerschrockenheit hat der
Verfasser in einer kurzen Vorbemerkung Vorsicht und Bescheidenheit walten
lassen und konzediert, seine Arbeit sei "in dem Bewusstsein
niedergeschrieben, dass die Reichweite ihres Themas die sachliche Kompetenz
des Verfassers bei weitem überschreitet", und zwar "auf fast
allen Gebieten: Theologie, Geschichte, Kunstgeschichte, Psychohistorie,
Familienforschung, Anthropologie" (S.7). Im Zeitalter
kulturwissenschaftlicher Forschungsperspektiven vergibt man sich durch ein
derartiges Eingeständnis nichts. Und gewiß benötigt unsere
Kultur viele gute Bücher, die unter solchen Vorzeichen geschrieben sind.
Dass allerdings der vorliegende Versuch über die Heilige Familie
vorbehaltlos zu diesen guten Büchern zu rechnen sei, davon ist der
Rezensent – um es gleich vorweg zu sagen – nicht recht überzeugt.
Bedenken melden sich zunächst einmal nicht bezüglich der
Kompetenzfrage, sondern bezüglich des Formats: Lassen sich die
unabsehbaren Folgen der Heiligen Familie auf zweihundert Druckseiten
zureichend entfalten? Und welchen Ton kann man anschlagen, wenn man
dabei überdies den erweiterten Leserkreis der Taschenbuchkäufer
im Auge hat?
Die Dispositionen am Nullpunkt
Der Ansatzpunkt ergibt sich bei diesem Thema von selbst. Die
Geburt der Heiligen Familie, die die christliche Zeitrechnung begründet,
datiert bekanntlich auf das Jahr Null, das es in der christlichen Zeitrechnung gar
nicht gibt. Von hier aus ist der lange Weg "von der Heiligen Familie zur
Heiligung der Familie" (S.65) – und darüber hinaus – zu
beschreiben. Wenn man das "Augenmerk vom Erscheinungsbild der
postreligiösen Gesellschaften auf deren phantasmatische
Tiefenstruktur" (S.16) richtet, kann man "die zurückliegenden
zweitausend Jahre als Nachgeschichte der Heiligen Familie
erzählen" (S.219).
Koschorke gliedert seinen Versuch in drei Teile, der erste Teil
ist mit "Dispositionen" betitelt, der zweite mit "Theorien",
der dritte mit "Konsequenzen". Im ersten Teil werden die einzelnen
Positionen der Heiligen Familie sowie die einzelnen Achsen des von ihr
gebildeten Dreiecks in den Blick genommen und in ihrer Ambiguität
analysiert. Denn Joseph, Maria und Jesus bilden zwar auf der einen Seite eine
Kernfamilie, diese wird aber auf der anderen Seite durch das zweite Dreieck der
Trinität überlagert, das "die personalen Grenzziehungen als
solche unterläuft" (S.22). Möglich ist diese Formierung
über einen paradoxen Bruch mit der Tradition. Der "Drei-Personen-
Haushalt" der Heiligen Familie verdankt sich zunächst einmal einem
Ausblenden der noch in den Evangelien sichtbaren "Textspuren, die
davon zeugen, dass Jesus aus einem kinderreichen Haushalt in Nazareth
stammt". (S.18) Über die "empirischen
Herkunftsverhältnisse wird ein heiliges Beziehungsgefüge
gelegt", das die jüdische Herkunftsfamilie in eine "christliche
Zielfamilie" (S.25) umwandelt. Die "Schnittstelle zwischen Judentum
und Christentum" (S.32) impliziert ein "genealogisches
Dilemma" (S.33): Einerseits ist Jesus nicht der leibliche Sohn seines
jüdischen Vaters Joseph, andererseits muß er zugleich der im Alten
Testament angekündigte Messias der Juden ein, weshalb ihm die
Evangelisten einen väterlichen Stammbaum geben, der auf König
David zurückreicht – ein Stammbaum, der dann eben nur für Joseph
gelten kann.
Die Grundlegung des Christentums beruht auf einer
Zerschneidung des genealogischen Prinzips der Blutsbande. Das Christentum
kann nur deshalb eine Sohnesreligion sein, weil Jesus nicht als Sohn eines
jüdischen Handwerkers spricht, sondern als Sohn des Vaters im Himmel.
Koschorke nennt das "Umstellung des Vaterschaftscodes" (S.28).
Und genau dem entsprechen auch die Forderungen, die der Jesus Christus der
Evangelien erhebt. Er tritt dort nämlich "als radikaler Zerstörer
der familiären Bande" (S.28) auf: "Denn ich bin gekommen,
den Menschen zu entzweien mit seinem Vater [...]" (Mt, 10, 35). Dazu
paßt dann auch der wenig ehrerbietige Umgang, den der Gottessohn
seiner Familie gegenüber an den Tag legt, wenn er etwa seiner Mutter bei
der Hochzeit zu Kanaa über den Mund fährt. So stellen denn die
Evangelien eine Heilige Familie zur Disposition, die ausgesprochen wenig
Bildstoff für eine modellhafte Figurierung bietet.
Die "Spaltung der Vaterfunktion" bewirkt, dass sich
die Heilige Familie "als eine unvollständige, von einer komplizierten
symbolischen Ökonomie gekennzeichnete [...] Familie erweist"
(S.38). "Von nun an", so faßt Koschorke alte Erkenntnisse neu
zusammen, "werden zentrale Instanzen nur noch in der Form der
Dopplung kulturell verfügbar sein: der Vater (Joseph/Gott); der Mann
(leiblicher Ausschluß/himmlische Ergießung); der Phallus (als
Samen-/als Wortkanal); der Ursprung (durch Blutsverwandtschaft/spirituell);
der Buchstabe (Unlesbarkeit der Maria/ Lesbarkeit der Evangelien als des
Buches schlechthin)" (S.38).
Die Mutter-Sohn-Achse
Das Erstaunliche liegt für Koschorke weniger in der
"Ausnahmekonstellation" der Heiligen Familie selbst als darin, dass
sie "zugleich zu einer abendländischen Modellkonstellation"
geworden ist (S.40). Man könnte fast sagen: Erst die Folgen machen die
Heilige Familie eigentlich zur Heiligen Familie. Und weil sich die Heilige Familie
dem Blick zunächst einmal nicht als Dreieck aufdrängt, skizziert
Koschorke vorerst nur die Entfaltung der einzelnen Beziehungsachsen. Vor
allem aufgrund der undankbaren Position Josephs ist dabei die Mutter-Sohn-
Achse in theologischer und ikonographischer Hinsicht besonders ergiebig. Es
zeigt sich eine allmähliche "Verdiesseitigung der Mutterschaft"
und die Etablierung "eines zutiefst menschlichen Mutter-Sohn-
Verhältnisses" (S.43). Nach der "marianischen Wende"
des Christentums im 11. Jahrhundert wird die nur im Johannesevangelium
beiläufig erwähnte Gegenwart Mariä beim Passionsgeschehen
"zum Ausgangspunkt einer gewaltigen ikonographischen
Umwälzung" (S.45), die den Sohn als Toten in zahllosen Pietà-
Darstellungen zum Mutterschoß zurückführt. Koschorke weist
aber darauf hin, dass die "christliche Spiritualität" (der
Überlagerung der Familienpositionen mit der Dreieinigkeit entsprechend)
Jesus und Maria auch "als Braut und Bräutigam miteinander
vereinigt". (S.51) Im Mittelalter entwickelt sich eine sponsus-sponsa-
Motivik mystischer Brautschaft, die immer auch auf "die jeweiligen
empirischen Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen
zurückzubeziehen" (S.53) ist und sich zugleich auf
"institutionelle Machtbalancen" (S.52) wie etwa das
"institutionelle Verhältnis zwischen geistlichen
Würdenträgern und der Kirche" (S.54) übertragen
läßt.
Diese Übertragbarkeit auf mystische
"Körperschaften" ist kein Zufall, sondern eine Folge der
"Entkörperlichung" (S.55), die sich in der unbefleckten
Empfängnis und dem bräutlichen, nichtsexuellen
Liebesverhältnis ausspricht. Sie ist auch verantwortlich für das, was
Koschorke den "vollständigen Kollaps der Nomenklatur" nennt,
der sich im "Gravitationsfeld der Heiligen Familie" (S.73) unter
bestimmten Bedingungen ereignen kann (wobei er hier wie auch an anderen
Stellen des ersten Teils darauf verzichtet, den historischen Index dieser
Bedingungen zu problematisieren). Die Hymnen von Ephraem dem Syrer aus
dem vierten Jahrhundert über die Menschwerdung Christi sind ihm ein
Beleg dafür: "Mutter, Schwester, Braut, Magd und Tochter"
wird Maria dort tituliert; Jesus hingegen "Sohn, Bruder, Bräutigam,
Herr und Erzeuger", und es scheint, als berausche sich das Sprechen an
der "Leichtigkeit, mit der solche unverträglichen und paradoxalen
Nachbarschaften erzeugt werden können", sobald sie ihre
körperliche Schwere verloren haben. (S.74)
Theoretische Versatzstücke
Gegenüber dem ersten fällt der zweite, mit
"Theorien" überschriebene Teil (S.81-124) von Koschorkes
Versuch eher enttäuschend aus. Der erste Teil leistet eine über
weite Strecken überzeugende und in hohem Maße anregende
Synthetisierung der verschiedenen Ebenen. Im zweiten Teil hingegen werden
verschiedene Theoriefragmente referiert, deren innerer Zusammenhang sich
allenfalls im Rahmen einer zweiten Lektüre so recht erschließen
läßt. Das liegt auch daran, dass die Überschrift falsche
Erwartungen weckt. Die referierten Theorien sind eigentlich keine Theorien der
Heiligen Familie, sondern stehen zum Untersuchungsgegenstand in einer nur
mittelbaren Beziehung. Und nicht immer handelt es sich überhaupt um
Theorien.
So erzählt das 12. Kapitel unter dem Titel "Der
Familienroman der Religionen" (S.85) zunächst die Geschichte
nach, die Jakobus de Voraigne in der "Legenda aurea" von Jesu
Antipoden Judas liefert, um in dem dort vorfindlichen "narrative[n]
Entlastungsmanöver" die "Spur einer ödipalen Lesart der
neutestamentlichen Passion" (S.88) zu sehen. Dieser Befund leitet
über zu einer Darstellung von Freuds später Arbeit "Der Mann
Moses und die monotheistische Religion", die nun zwar viel mit dem
Urvatermord, aber nur am Rande mit dem Christentum und überhaupt
nicht mit der Mutter Gottes befaßt ist. Nach einem kurzen Intermezzo, das
über Herbert Marcuses Sichtweise von Jesus als dem
"Anführer des Aufstandes der Sohnesgeneration" gegen das
"Gesetz des Vaters" (S.96) informiert, wird ein Text von Yosef
Hayim Yerushalmi mit dem Titel "Freuds Moses. Endliches und
unendliches Judentum" diskutiert. Am Ende steht das unvermittelte, auf
anderen Wegen schlüssiger zu erzielende und vor allem nur
unzureichend explizierte Resultat, dass "das ödipale Schema, das
Freud als religionstheoretischen Universalschlüssel" benutzt habe,
erst dann aufgehe, wenn man es seinerseits spiritualisiere und als das
"umkämpfte weibliche Objekt" die "Maria der
Theologen" identifiziere, in der auch "die Seele des
Gläubigen" oder "die Gesamtheit der Gemeinde" zur
Darstellung komme (S.103).
Auch das 14. Kapitel erweckt den Anschein mangelnder
Zielstrebigkeit. Unter der Überschrift "Die Machtfrage" (S.113)
beschäftigt es sich zunächst mit Max Webers Beschreibung des
Urchristentums als charismatischer Bewegung, um sich dann von der
Vorstellung abzusetzen, das Christentum sei eine "ursprünglich
sozusagen unschuldige[ ] Freiheitsbewegung" gewesen, die nur
"nachträglich pervertiert" sei. Statt dessen statuiert Koschorke
– wozu es der Ausführungen über Max Weber überhaupt nicht
bedurft hätte - "ein unmittelbares Junktim zwischen asketischer
Erweckung und Neuordnung der Gesellschaft, zwischen der Transzendenz und
der Macht, und das heißt auch: zwischen der Heiligen Familie einerseits
und dem Staatswesen auf der andern Seite" (S.117). Diese These (deren
unterstellte Neuartigkeit keiner weiteren Prüfung unterzogen wird) wird
dann aber wiederum nicht in einem eigenen Gedankengang vertieft. Sie leitet
vielmehr zu einem Referat der Forschungen des britischen Anthropologen
Richard Fox über, der sich allgemein mit der Frage beschäftigt,
"wie gut sich Staat und Familie verstehen" (S.117).
Das Ergebnis ist nun einerseits nicht so verwunderlich, wie
Koschorke glauben machen möchte und erklärt das Avancement
des Christentums zur römischen Staatsreligion kaum: Der Staat hat von
Haus aus etwas gegen den Sippenverbund und für die (heilige)
Kernfamilie. Vereinfacht: "Die Stelle Gottvaters in der Heiligen Familie
wird in der modernen Kleinstfamilie von Vater Staat eingenommen"
(S.122). Genauer: Die Heilige Familie ist besonders dafür geeignet, in die
"soziale Reproduktion einen ‚Schalter‘" einzubauen – sie
enthält einen "Umschaltmechanismus zwischen innerweltlich-
familialer und transzendenter Kopplung" (S.124). Der
kompositionstechnisch wie ein Notlösung anmutende, mit
"Theorien" betitelte zweite Teil ist aber nicht der Ort, die
weitreichenden theoretischen Implikationen und Voraussetzungen dieses
Sachverhaltes zu entfalten.
Die historische Verlaufsgeschichte im
Überblick
Allerdings sind damit die theoretischen Eckpunkte für die
historische Darstellung der abendländischen Familienstruktur
bereitgestellt, auf die sich Koschorke im dritten Teil
("Konsequenzen") wirft. Zunächst schiebt er unter Berufung
auf Peter Brown ("Macht und Rhetorik in der Spätantike") eine
kursorische Beschreibung des christlichen Wegs zur Reichsreligion nach,
skizziert dann mit Jack Goody ("Die Entwicklung von Ehe und Familie in
Europa") den kirchlichen Kampf gegen die Bindungen des
Verwandtschaftssystems. Mit der Erhöhung der Ehe zum Sakrament
vermag die Kirche dann "trotz ihrer Gegnerschaft gegen alles Fleischliche
[...] die Heiraten als Schaltstelle der sozialen Reproduktion unter ihren Einfluss
zu bringen" (S.141). Die "protestantische Heilige Familie", die
einerseits "das Vermächtnis der Heiligen Familie als eines von
Sexualität freien Beziehungssystems" (S. 148) zu zerstören
scheint, befindet sich andererseits gerade darum schon auf der Zielgerade zur
neuzeitlichen Heiligung der Familie, weil sie eine "Vergeistigung der
irdischen Verhältnisse", eine "Umleitung von Energien des
Heiligen in die weltlichen Institutionen" (S. 149) leistet.
Auf dieser Zielgeraden kommt auch die Figur des Hausvaters
an ihren Platz. Im Gefolge Luthers entsteht in der frühen Neuzeit eine
"Hausväterliteratur" und eine reichhaltige "Metaphorik
des sorgenden, nährenden, prüfenden, aber auch strafenden
Vaters" als einer Instanz, in der der zukunftsträchtigen
protestantischen Doktrin zufolge die "familienväterliche", die
"landesherrliche" und die "kirchliche Aufsicht [...] Hand in Hand
gehen". (S.154) Diese "bruchlose Übertragbarkeit von
Vaterattributen durch alle sozialen Abstufungen hindurch" bahnt einer
"Vereinheitlichung des Machtkörpers den Weg" (S.155), in der
sich schon die moderne Entmachtung des Familienvaters anbahnt, weil er
"nur noch kraft einer geliehenen, von einer höheren Gewalt
sozusagen auf Abruf erteilten Vollmacht existiert" (S.173).
Erst an diesem Punkt kann die Heilige Familie wirklich
Modellcharakter bekommen; erst an diesem Punkt kann Koschorke auch auf
das Bild der Heiligen Familie zurückkommen. Das Mysterium der Mutter
Gottes verwandelt sich in das "Geheimnis der natürlichen
Mutterschaft" (S.160), und Genreskizzen etwa von Rembrandt zeigen, wie
der "Familienalltag" von einer "‚stillschweigenden‘
Heiligkeit" (S.160) durchtränkt werden kann. Auch "Joseph
kehrt zurück" (S.168): Die "Familiendarstellungen, in denen
Joseph den Part des Haushaltsvorstandes und Ersatzvaters spielt",
nähern sich "immer eindeutiger der gewöhnlichen
Alltagswirklichkeit an" (S.169). Und die Heiligung des Kindes findet in der
bürgerlichen Familie ebenfalls eine empirische Entsprechung, wie
Koschorke schlagend darlegt: "es wird – seinem Idealtypus nach –
Staatsbeamter" (S. 167).
Wenn die geheiligte bürgerliche Familie als Folge der
Heiligen Familie gesehen wird, werden ihre bekannten unauflöslichen
Komplikationen und ihre konstitutiven Unvereinbarkeiten in ein mitleidslos
klares Licht getaucht. Zum einen kann der Platz des Vaters nur prekär
sein. Zum andern läßt sich das Geschlechterverhältnis der
bürgerlichen Ehe: "mit einer paradoxen Formel als Einschluß
des Ausschlusses des Sexuellen beschreiben" (S.163). Welche Lasten
für die Subjekte daraus entstehen, führt Koschorke folgerichtig
anhand der Lektüre zweier literarischer Texte vor, in denen die
Konstellation der Heiligen Familie innerhalb der geheiligten bürgerlichen
Familie noch durchscheint: Rousseaus Nouvelle Héloise (S.177-186) und (sehr
viel schlagender) Kleists Marquise von O. (S.195-202).
In einem mit "Christus und Ödipus. Freuds
Coup" (S. 203) betitelten Schlußspurt versucht Koschorke noch den
Sprung von der "christlichen Passion zur ödipalen
Rivalität" zu schaffen. Aber der Sprung kann beim knapp
bemessenen Raum nur etwas kurz geraten. Schon der Vorschlag: "Statt
die Heilige Familie rückwirkend mit Freudschen Kategorien zu
beschreiben, wäre es [...] sinnvoller, umgekehrt den historischen Ort der
Psychoanalyse näher zu bestimmen", glänzt nicht gerade vor
Originalität. Und die Hinweise, dass das Ödipus-Modell die
"fundamentale Unterscheidung zwischen sinnlicher (Eros) und
übersinnlicher Liebe (Agape) rückgängig" mache, dass
es der psychoanalytischen Theorie gelungen sei, die "kulturelle
Imagination vollständig umzupolen" (S.214) und dass die
"Kulturtheorie um 1900" den "historischen Sieg des
Christentums" widerrufe (S.215), können auch als vorläufige
Auskünfte nicht befriedigen. Der Vollständigkeit halber sei noch
bemerkt, dass Koschorke seinen Versuch über die Heilige Familie und
ihre Folgen der Vollständigkeit halber mit einem Ausblick auf die
"Restfamilien im Wohlfahrtsstaat" (S.216) beschließt, in dem
"die Medien und die Labors" als weitere Agenturen vorgestellt
werden, die die Vaterposition prekär machen und den "Vater ‚vor
Ort‘ [...] eine Art Josephs-Existenz" führen lassen (S.217). Wenn
man will, kann man sagen, dass die gentechnischen Labors die
"Erlösung aus der Gefangenheit des Fleisches" (S.219)
verheißen. Aber das ist ein anderes Fleisch.
Nicht den richtigen Ton angeschlagen
Koschorkes Versuch Die Heilige Familie und ihre Folgen ist,
so könnte man resümieren, ein ausgesprochen lesenswertes Buch.
Aber es ist auch ein ärgerliches Buch. Und zwar vor allem deswegen, weil
man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, der Verfasser wäre in der
Lage gewesen, es besser zu machen. Insofern handelt es sich um einen
vorschnellen Versuch. Koschorke ist es gelungen, verschiedene Themen und
Beschreibungsebenen so miteinander zu verknüpfen, dass auch bereits
Bekanntes in neuem, erkenntnisförderndem Licht erscheint, aber es fehlt
seinem Versuch die letzte Bemühung um Durchdringung (was es dem
unaufmerksamen Leser leicht, dem aufmerksamen Leser aber schwer macht).
Überspitzt gesagt: Es wird an keiner Stelle wirklich klar, wo das Thema
der Heiligen Familie und ihrer Folgen eigentlich genau aufhört und auf
welcher Ebene es zusammengehalten wird. So hätte auch nur eine
methodologische Reflexion ergeben können, dass die methodische
Herangehensweise in diesem Fall durch das Thema selbst vorgegeben ist, das
nur unter einem bestimmten Blickwinkel überhaupt als ein sinnvolles
Thema auftaucht.
Man wird das Gefühl nicht los, dass sich der Verfasser
nicht immer auf der Höhe seiner eigenen Problemstellung befindet und
hinter seinen Möglichkeiten zurückbleibt. Zu viel Verschiedenes wird
angesprochen, aber nicht ganz zu Ende geführt oder nur
oberflächlich miteinander verknüpft. Daher kann der Hinweis auf
den knappen Raum nicht verfangen. Hätte sich Koschorke nur auf seinen
Gedankengang konzentriert, hätte er so manches kürzen oder
weglassen, und dafür dann zentrale Überlegungen genauer
ausführen, entfalten und vor allem von verschiedenen Seiten beleuchten
können. Letztlich ist es auch eine Frage des angeschlagenen Tones, der
nicht ganz einheitlich und im Ganzen gewiß kein essayistischer Ton ist.
Möglich allerdings, dass der Ton eines Versuchs beim breiteren
Lesepublikum keinen Anklang gefunden hätte.
Dr. Michael Niehaus
Ruhr-Universität Bochum
Lehrstuhl für Neugermanistik, Ästhetik und Medien
Universitätsstr. 150
D-44801 Bochum
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