Niehaus über Koschorke: Die Heilige Familie

Michael Niehaus

Abendländische Geschichte am Leitfaden der Familie

  • Albrecht Koschorke: Die Heilige Familie und ihre Folgen. Ein Versuch. (Forum Wissenschaft, Kultur & Medien) Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag 2000. 240 S. mit Abb. DM 25,90.
    ISBN 3-596-14765-4


Wer den Versuch wagt, sich mit der Heiligen Familie und ihren Folgen zu beschäftigen, muß wahrhaft unerschrocken sein. Denn diese Folgen sind zweifellos – und das demonstriert auch Koschorkes Versuch – unabsehbar und unübersehbar. Trotz seiner Unerschrockenheit hat der Verfasser in einer kurzen Vorbemerkung Vorsicht und Bescheidenheit walten lassen und konzediert, seine Arbeit sei "in dem Bewusstsein niedergeschrieben, dass die Reichweite ihres Themas die sachliche Kompetenz des Verfassers bei weitem überschreitet", und zwar "auf fast allen Gebieten: Theologie, Geschichte, Kunstgeschichte, Psychohistorie, Familienforschung, Anthropologie" (S.7). Im Zeitalter kulturwissenschaftlicher Forschungsperspektiven vergibt man sich durch ein derartiges Eingeständnis nichts. Und gewiß benötigt unsere Kultur viele gute Bücher, die unter solchen Vorzeichen geschrieben sind. Dass allerdings der vorliegende Versuch über die Heilige Familie vorbehaltlos zu diesen guten Büchern zu rechnen sei, davon ist der Rezensent – um es gleich vorweg zu sagen – nicht recht überzeugt. Bedenken melden sich zunächst einmal nicht bezüglich der Kompetenzfrage, sondern bezüglich des Formats: Lassen sich die unabsehbaren Folgen der Heiligen Familie auf zweihundert Druckseiten zureichend entfalten? Und welchen Ton kann man anschlagen, wenn man dabei überdies den erweiterten Leserkreis der Taschenbuchkäufer im Auge hat?

Die Dispositionen am Nullpunkt

Der Ansatzpunkt ergibt sich bei diesem Thema von selbst. Die Geburt der Heiligen Familie, die die christliche Zeitrechnung begründet, datiert bekanntlich auf das Jahr Null, das es in der christlichen Zeitrechnung gar nicht gibt. Von hier aus ist der lange Weg "von der Heiligen Familie zur Heiligung der Familie" (S.65) – und darüber hinaus – zu beschreiben. Wenn man das "Augenmerk vom Erscheinungsbild der postreligiösen Gesellschaften auf deren phantasmatische Tiefenstruktur" (S.16) richtet, kann man "die zurückliegenden zweitausend Jahre als Nachgeschichte der Heiligen Familie erzählen" (S.219).

Koschorke gliedert seinen Versuch in drei Teile, der erste Teil ist mit "Dispositionen" betitelt, der zweite mit "Theorien", der dritte mit "Konsequenzen". Im ersten Teil werden die einzelnen Positionen der Heiligen Familie sowie die einzelnen Achsen des von ihr gebildeten Dreiecks in den Blick genommen und in ihrer Ambiguität analysiert. Denn Joseph, Maria und Jesus bilden zwar auf der einen Seite eine Kernfamilie, diese wird aber auf der anderen Seite durch das zweite Dreieck der Trinität überlagert, das "die personalen Grenzziehungen als solche unterläuft" (S.22). Möglich ist diese Formierung über einen paradoxen Bruch mit der Tradition. Der "Drei-Personen- Haushalt" der Heiligen Familie verdankt sich zunächst einmal einem Ausblenden der noch in den Evangelien sichtbaren "Textspuren, die davon zeugen, dass Jesus aus einem kinderreichen Haushalt in Nazareth stammt". (S.18) Über die "empirischen Herkunftsverhältnisse wird ein heiliges Beziehungsgefüge gelegt", das die jüdische Herkunftsfamilie in eine "christliche Zielfamilie" (S.25) umwandelt. Die "Schnittstelle zwischen Judentum und Christentum" (S.32) impliziert ein "genealogisches Dilemma" (S.33): Einerseits ist Jesus nicht der leibliche Sohn seines jüdischen Vaters Joseph, andererseits muß er zugleich der im Alten Testament angekündigte Messias der Juden ein, weshalb ihm die Evangelisten einen väterlichen Stammbaum geben, der auf König David zurückreicht – ein Stammbaum, der dann eben nur für Joseph gelten kann.

Die Grundlegung des Christentums beruht auf einer Zerschneidung des genealogischen Prinzips der Blutsbande. Das Christentum kann nur deshalb eine Sohnesreligion sein, weil Jesus nicht als Sohn eines jüdischen Handwerkers spricht, sondern als Sohn des Vaters im Himmel. Koschorke nennt das "Umstellung des Vaterschaftscodes" (S.28). Und genau dem entsprechen auch die Forderungen, die der Jesus Christus der Evangelien erhebt. Er tritt dort nämlich "als radikaler Zerstörer der familiären Bande" (S.28) auf: "Denn ich bin gekommen, den Menschen zu entzweien mit seinem Vater [...]" (Mt, 10, 35). Dazu paßt dann auch der wenig ehrerbietige Umgang, den der Gottessohn seiner Familie gegenüber an den Tag legt, wenn er etwa seiner Mutter bei der Hochzeit zu Kanaa über den Mund fährt. So stellen denn die Evangelien eine Heilige Familie zur Disposition, die ausgesprochen wenig Bildstoff für eine modellhafte Figurierung bietet.

Die "Spaltung der Vaterfunktion" bewirkt, dass sich die Heilige Familie "als eine unvollständige, von einer komplizierten symbolischen Ökonomie gekennzeichnete [...] Familie erweist" (S.38). "Von nun an", so faßt Koschorke alte Erkenntnisse neu zusammen, "werden zentrale Instanzen nur noch in der Form der Dopplung kulturell verfügbar sein: der Vater (Joseph/Gott); der Mann (leiblicher Ausschluß/himmlische Ergießung); der Phallus (als Samen-/als Wortkanal); der Ursprung (durch Blutsverwandtschaft/spirituell); der Buchstabe (Unlesbarkeit der Maria/ Lesbarkeit der Evangelien als des Buches schlechthin)" (S.38).

Die Mutter-Sohn-Achse

Das Erstaunliche liegt für Koschorke weniger in der "Ausnahmekonstellation" der Heiligen Familie selbst als darin, dass sie "zugleich zu einer abendländischen Modellkonstellation" geworden ist (S.40). Man könnte fast sagen: Erst die Folgen machen die Heilige Familie eigentlich zur Heiligen Familie. Und weil sich die Heilige Familie dem Blick zunächst einmal nicht als Dreieck aufdrängt, skizziert Koschorke vorerst nur die Entfaltung der einzelnen Beziehungsachsen. Vor allem aufgrund der undankbaren Position Josephs ist dabei die Mutter-Sohn- Achse in theologischer und ikonographischer Hinsicht besonders ergiebig. Es zeigt sich eine allmähliche "Verdiesseitigung der Mutterschaft" und die Etablierung "eines zutiefst menschlichen Mutter-Sohn- Verhältnisses" (S.43). Nach der "marianischen Wende" des Christentums im 11. Jahrhundert wird die nur im Johannesevangelium beiläufig erwähnte Gegenwart Mariä beim Passionsgeschehen "zum Ausgangspunkt einer gewaltigen ikonographischen Umwälzung" (S.45), die den Sohn als Toten in zahllosen Pietà- Darstellungen zum Mutterschoß zurückführt. Koschorke weist aber darauf hin, dass die "christliche Spiritualität" (der Überlagerung der Familienpositionen mit der Dreieinigkeit entsprechend) Jesus und Maria auch "als Braut und Bräutigam miteinander vereinigt". (S.51) Im Mittelalter entwickelt sich eine sponsus-sponsa- Motivik mystischer Brautschaft, die immer auch auf "die jeweiligen empirischen Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen zurückzubeziehen" (S.53) ist und sich zugleich auf "institutionelle Machtbalancen" (S.52) wie etwa das "institutionelle Verhältnis zwischen geistlichen Würdenträgern und der Kirche" (S.54) übertragen läßt.

Diese Übertragbarkeit auf mystische "Körperschaften" ist kein Zufall, sondern eine Folge der "Entkörperlichung" (S.55), die sich in der unbefleckten Empfängnis und dem bräutlichen, nichtsexuellen Liebesverhältnis ausspricht. Sie ist auch verantwortlich für das, was Koschorke den "vollständigen Kollaps der Nomenklatur" nennt, der sich im "Gravitationsfeld der Heiligen Familie" (S.73) unter bestimmten Bedingungen ereignen kann (wobei er hier wie auch an anderen Stellen des ersten Teils darauf verzichtet, den historischen Index dieser Bedingungen zu problematisieren). Die Hymnen von Ephraem dem Syrer aus dem vierten Jahrhundert über die Menschwerdung Christi sind ihm ein Beleg dafür: "Mutter, Schwester, Braut, Magd und Tochter" wird Maria dort tituliert; Jesus hingegen "Sohn, Bruder, Bräutigam, Herr und Erzeuger", und es scheint, als berausche sich das Sprechen an der "Leichtigkeit, mit der solche unverträglichen und paradoxalen Nachbarschaften erzeugt werden können", sobald sie ihre körperliche Schwere verloren haben. (S.74)

Theoretische Versatzstücke

Gegenüber dem ersten fällt der zweite, mit "Theorien" überschriebene Teil (S.81-124) von Koschorkes Versuch eher enttäuschend aus. Der erste Teil leistet eine über weite Strecken überzeugende und in hohem Maße anregende Synthetisierung der verschiedenen Ebenen. Im zweiten Teil hingegen werden verschiedene Theoriefragmente referiert, deren innerer Zusammenhang sich allenfalls im Rahmen einer zweiten Lektüre so recht erschließen läßt. Das liegt auch daran, dass die Überschrift falsche Erwartungen weckt. Die referierten Theorien sind eigentlich keine Theorien der Heiligen Familie, sondern stehen zum Untersuchungsgegenstand in einer nur mittelbaren Beziehung. Und nicht immer handelt es sich überhaupt um Theorien.

So erzählt das 12. Kapitel unter dem Titel "Der Familienroman der Religionen" (S.85) zunächst die Geschichte nach, die Jakobus de Voraigne in der "Legenda aurea" von Jesu Antipoden Judas liefert, um in dem dort vorfindlichen "narrative[n] Entlastungsmanöver" die "Spur einer ödipalen Lesart der neutestamentlichen Passion" (S.88) zu sehen. Dieser Befund leitet über zu einer Darstellung von Freuds später Arbeit "Der Mann Moses und die monotheistische Religion", die nun zwar viel mit dem Urvatermord, aber nur am Rande mit dem Christentum und überhaupt nicht mit der Mutter Gottes befaßt ist. Nach einem kurzen Intermezzo, das über Herbert Marcuses Sichtweise von Jesus als dem "Anführer des Aufstandes der Sohnesgeneration" gegen das "Gesetz des Vaters" (S.96) informiert, wird ein Text von Yosef Hayim Yerushalmi mit dem Titel "Freuds Moses. Endliches und unendliches Judentum" diskutiert. Am Ende steht das unvermittelte, auf anderen Wegen schlüssiger zu erzielende und vor allem nur unzureichend explizierte Resultat, dass "das ödipale Schema, das Freud als religionstheoretischen Universalschlüssel" benutzt habe, erst dann aufgehe, wenn man es seinerseits spiritualisiere und als das "umkämpfte weibliche Objekt" die "Maria der Theologen" identifiziere, in der auch "die Seele des Gläubigen" oder "die Gesamtheit der Gemeinde" zur Darstellung komme (S.103).

Auch das 14. Kapitel erweckt den Anschein mangelnder Zielstrebigkeit. Unter der Überschrift "Die Machtfrage" (S.113) beschäftigt es sich zunächst mit Max Webers Beschreibung des Urchristentums als charismatischer Bewegung, um sich dann von der Vorstellung abzusetzen, das Christentum sei eine "ursprünglich sozusagen unschuldige[ ] Freiheitsbewegung" gewesen, die nur "nachträglich pervertiert" sei. Statt dessen statuiert Koschorke – wozu es der Ausführungen über Max Weber überhaupt nicht bedurft hätte - "ein unmittelbares Junktim zwischen asketischer Erweckung und Neuordnung der Gesellschaft, zwischen der Transzendenz und der Macht, und das heißt auch: zwischen der Heiligen Familie einerseits und dem Staatswesen auf der andern Seite" (S.117). Diese These (deren unterstellte Neuartigkeit keiner weiteren Prüfung unterzogen wird) wird dann aber wiederum nicht in einem eigenen Gedankengang vertieft. Sie leitet vielmehr zu einem Referat der Forschungen des britischen Anthropologen Richard Fox über, der sich allgemein mit der Frage beschäftigt, "wie gut sich Staat und Familie verstehen" (S.117).

Das Ergebnis ist nun einerseits nicht so verwunderlich, wie Koschorke glauben machen möchte und erklärt das Avancement des Christentums zur römischen Staatsreligion kaum: Der Staat hat von Haus aus etwas gegen den Sippenverbund und für die (heilige) Kernfamilie. Vereinfacht: "Die Stelle Gottvaters in der Heiligen Familie wird in der modernen Kleinstfamilie von Vater Staat eingenommen" (S.122). Genauer: Die Heilige Familie ist besonders dafür geeignet, in die "soziale Reproduktion einen ‚Schalter‘" einzubauen – sie enthält einen "Umschaltmechanismus zwischen innerweltlich- familialer und transzendenter Kopplung" (S.124). Der kompositionstechnisch wie ein Notlösung anmutende, mit "Theorien" betitelte zweite Teil ist aber nicht der Ort, die weitreichenden theoretischen Implikationen und Voraussetzungen dieses Sachverhaltes zu entfalten.

Die historische Verlaufsgeschichte im Überblick

Allerdings sind damit die theoretischen Eckpunkte für die historische Darstellung der abendländischen Familienstruktur bereitgestellt, auf die sich Koschorke im dritten Teil ("Konsequenzen") wirft. Zunächst schiebt er unter Berufung auf Peter Brown ("Macht und Rhetorik in der Spätantike") eine kursorische Beschreibung des christlichen Wegs zur Reichsreligion nach, skizziert dann mit Jack Goody ("Die Entwicklung von Ehe und Familie in Europa") den kirchlichen Kampf gegen die Bindungen des Verwandtschaftssystems. Mit der Erhöhung der Ehe zum Sakrament vermag die Kirche dann "trotz ihrer Gegnerschaft gegen alles Fleischliche [...] die Heiraten als Schaltstelle der sozialen Reproduktion unter ihren Einfluss zu bringen" (S.141). Die "protestantische Heilige Familie", die einerseits "das Vermächtnis der Heiligen Familie als eines von Sexualität freien Beziehungssystems" (S. 148) zu zerstören scheint, befindet sich andererseits gerade darum schon auf der Zielgerade zur neuzeitlichen Heiligung der Familie, weil sie eine "Vergeistigung der irdischen Verhältnisse", eine "Umleitung von Energien des Heiligen in die weltlichen Institutionen" (S. 149) leistet.

Auf dieser Zielgeraden kommt auch die Figur des Hausvaters an ihren Platz. Im Gefolge Luthers entsteht in der frühen Neuzeit eine "Hausväterliteratur" und eine reichhaltige "Metaphorik des sorgenden, nährenden, prüfenden, aber auch strafenden Vaters" als einer Instanz, in der der zukunftsträchtigen protestantischen Doktrin zufolge die "familienväterliche", die "landesherrliche" und die "kirchliche Aufsicht [...] Hand in Hand gehen". (S.154) Diese "bruchlose Übertragbarkeit von Vaterattributen durch alle sozialen Abstufungen hindurch" bahnt einer "Vereinheitlichung des Machtkörpers den Weg" (S.155), in der sich schon die moderne Entmachtung des Familienvaters anbahnt, weil er "nur noch kraft einer geliehenen, von einer höheren Gewalt sozusagen auf Abruf erteilten Vollmacht existiert" (S.173).

Erst an diesem Punkt kann die Heilige Familie wirklich Modellcharakter bekommen; erst an diesem Punkt kann Koschorke auch auf das Bild der Heiligen Familie zurückkommen. Das Mysterium der Mutter Gottes verwandelt sich in das "Geheimnis der natürlichen Mutterschaft" (S.160), und Genreskizzen etwa von Rembrandt zeigen, wie der "Familienalltag" von einer "‚stillschweigenden‘ Heiligkeit" (S.160) durchtränkt werden kann. Auch "Joseph kehrt zurück" (S.168): Die "Familiendarstellungen, in denen Joseph den Part des Haushaltsvorstandes und Ersatzvaters spielt", nähern sich "immer eindeutiger der gewöhnlichen Alltagswirklichkeit an" (S.169). Und die Heiligung des Kindes findet in der bürgerlichen Familie ebenfalls eine empirische Entsprechung, wie Koschorke schlagend darlegt: "es wird – seinem Idealtypus nach – Staatsbeamter" (S. 167).

Wenn die geheiligte bürgerliche Familie als Folge der Heiligen Familie gesehen wird, werden ihre bekannten unauflöslichen Komplikationen und ihre konstitutiven Unvereinbarkeiten in ein mitleidslos klares Licht getaucht. Zum einen kann der Platz des Vaters nur prekär sein. Zum andern läßt sich das Geschlechterverhältnis der bürgerlichen Ehe: "mit einer paradoxen Formel als Einschluß des Ausschlusses des Sexuellen beschreiben" (S.163). Welche Lasten für die Subjekte daraus entstehen, führt Koschorke folgerichtig anhand der Lektüre zweier literarischer Texte vor, in denen die Konstellation der Heiligen Familie innerhalb der geheiligten bürgerlichen Familie noch durchscheint: Rousseaus Nouvelle Héloise (S.177-186) und (sehr viel schlagender) Kleists Marquise von O. (S.195-202).

In einem mit "Christus und Ödipus. Freuds Coup" (S. 203) betitelten Schlußspurt versucht Koschorke noch den Sprung von der "christlichen Passion zur ödipalen Rivalität" zu schaffen. Aber der Sprung kann beim knapp bemessenen Raum nur etwas kurz geraten. Schon der Vorschlag: "Statt die Heilige Familie rückwirkend mit Freudschen Kategorien zu beschreiben, wäre es [...] sinnvoller, umgekehrt den historischen Ort der Psychoanalyse näher zu bestimmen", glänzt nicht gerade vor Originalität. Und die Hinweise, dass das Ödipus-Modell die "fundamentale Unterscheidung zwischen sinnlicher (Eros) und übersinnlicher Liebe (Agape) rückgängig" mache, dass es der psychoanalytischen Theorie gelungen sei, die "kulturelle Imagination vollständig umzupolen" (S.214) und dass die "Kulturtheorie um 1900" den "historischen Sieg des Christentums" widerrufe (S.215), können auch als vorläufige Auskünfte nicht befriedigen. Der Vollständigkeit halber sei noch bemerkt, dass Koschorke seinen Versuch über die Heilige Familie und ihre Folgen der Vollständigkeit halber mit einem Ausblick auf die "Restfamilien im Wohlfahrtsstaat" (S.216) beschließt, in dem "die Medien und die Labors" als weitere Agenturen vorgestellt werden, die die Vaterposition prekär machen und den "Vater ‚vor Ort‘ [...] eine Art Josephs-Existenz" führen lassen (S.217). Wenn man will, kann man sagen, dass die gentechnischen Labors die "Erlösung aus der Gefangenheit des Fleisches" (S.219) verheißen. Aber das ist ein anderes Fleisch.

Nicht den richtigen Ton angeschlagen

Koschorkes Versuch Die Heilige Familie und ihre Folgen ist, so könnte man resümieren, ein ausgesprochen lesenswertes Buch. Aber es ist auch ein ärgerliches Buch. Und zwar vor allem deswegen, weil man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, der Verfasser wäre in der Lage gewesen, es besser zu machen. Insofern handelt es sich um einen vorschnellen Versuch. Koschorke ist es gelungen, verschiedene Themen und Beschreibungsebenen so miteinander zu verknüpfen, dass auch bereits Bekanntes in neuem, erkenntnisförderndem Licht erscheint, aber es fehlt seinem Versuch die letzte Bemühung um Durchdringung (was es dem unaufmerksamen Leser leicht, dem aufmerksamen Leser aber schwer macht). Überspitzt gesagt: Es wird an keiner Stelle wirklich klar, wo das Thema der Heiligen Familie und ihrer Folgen eigentlich genau aufhört und auf welcher Ebene es zusammengehalten wird. So hätte auch nur eine methodologische Reflexion ergeben können, dass die methodische Herangehensweise in diesem Fall durch das Thema selbst vorgegeben ist, das nur unter einem bestimmten Blickwinkel überhaupt als ein sinnvolles Thema auftaucht.

Man wird das Gefühl nicht los, dass sich der Verfasser nicht immer auf der Höhe seiner eigenen Problemstellung befindet und hinter seinen Möglichkeiten zurückbleibt. Zu viel Verschiedenes wird angesprochen, aber nicht ganz zu Ende geführt oder nur oberflächlich miteinander verknüpft. Daher kann der Hinweis auf den knappen Raum nicht verfangen. Hätte sich Koschorke nur auf seinen Gedankengang konzentriert, hätte er so manches kürzen oder weglassen, und dafür dann zentrale Überlegungen genauer ausführen, entfalten und vor allem von verschiedenen Seiten beleuchten können. Letztlich ist es auch eine Frage des angeschlagenen Tones, der nicht ganz einheitlich und im Ganzen gewiß kein essayistischer Ton ist. Möglich allerdings, dass der Ton eines Versuchs beim breiteren Lesepublikum keinen Anklang gefunden hätte.


Dr. Michael Niehaus
Ruhr-Universität Bochum
Lehrstuhl für Neugermanistik, Ästhetik und Medien
Universitätsstr. 150
D-44801 Bochum

Ins Netz gestellt am 11.12.2000.

Copyright © by the author. All rights reserved.
This work may be copied for non-profit educational use if proper credit ist given to the author and IASLonline.
For other permission, please contact IASLonline.

Sie finden den Text auch angezeigt im Portal LR - Literaturwissenschaftliche Rezensionen.


Weitere Rezensionen stehen auf der Liste neuer Rezensionen und geordnet nach

zur Verfügung.

Möchten Sie zu dieser Rezension Stellung nehmen? Oder selbst für IASLonline rezensieren? Bitte informieren Sie sich hier!


[ Home | Anfang | zurück ]