Nilges über Bewundert viel und viel gescholten,
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Bewundert viel und viel gescholten, Ossian

  • Howard Gaskill / Wolf Gerhard Schmidt (Hg.): 'Homer des Nordens' und 'Mutter der Romantik'. James Macphersons Ossian und seine Rezeption in der deutschsprachigen Literatur. Bd. 4: Kommentierte Neuausgabe wichtiger Texte zur deutschen Rezeption. Berlin: Walter de Gruyter 2004. XVI, 850 S. Gebunden. EUR (D) 138,00.
    ISBN: 3-11-017937-7.
  • Wolf Gerhard Schmidt: 'Homer des Nordens' und 'Mutter der Romantik'. James Macphersons Ossian und seine Rezeption in der deutschsprachigen Literatur. Bd. 1+2. Bd. 1: James Macphersons Ossian, zeitgenössische Diskurse und die Frühphase der deutschen Rezeption. Bd. 2: Die Haupt- und Spätphase der deutschen Rezeption - Bibliographie internationaler Quellentexte und Forschungsliteratur. Berlin: Walter de Gruyter 2003. XXX, 1417 S. Gebunden. EUR (D) 218,00.
    ISBN: 3-11-017924-5.
  • Wolf Gerhard Schmidt (Hg.): 'Homer des Nordens' und 'Mutter der Romantik'. James Macphersons Ossian und seine Rezeption in der deutschsprachigen Literatur. Bd. 3: Kommentierte Neuausgabe deutscher Übersetzungen der Fragments of Ancient Poetry (1766), der Poems of Ossian (1782) sowie der Vorreden und Abhandlungen von Hugh Blair und James Macpherson. Berlin: Walter de Gruyter 2003. IX, 501 S. Gebunden. EUR (D) 98,00.
    ISBN: 3-11-017923-7.
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Many time I become a melancholical one. I know not whence it comes. [...] Then I go in woods, to streams [...]. And then a darkness comes down my soul; a darkness as thik as fogs in the October are.
[sic; Johann Wolfgang Goethe an seine Schwester Cornelia, 11. Mai 1766; zitiert bei Schmidt, Bd. 2, S. 726.]
[2] 

Die mäandrisch umfangreiche Forschung zu James Macphersons Ossian-Dichtung und ihrer Rezeption innerhalb der deutschsprachigen Literatur hat – trotz quantitativer Imposanz – ihrem bis heute noch immer gemeinhin unterschätzten Gegenstand bislang nie adäquat gerecht zu werden vermocht. Eine exemplarische, die komplexen ästhetischen wie philologischen Wirkungsbereiche des Werkes erstmals systematisch behandelnde und analysierende Darstellung für den gesamten deutschsprachigen Raum bezeichnete über lange Zeit hinweg ein dringendes, zumal literarhistorisches Desiderat. Angesichts einer veritablen »Ossianomanie« in den letzten Dezennien des 18. Jahrhunderts, 1 deren allgemeiner Kairos freilich bis in den Frührealismus hineinreicht und die für die Sturm und Drang-Bewegung insgesamt – keinesfalls vornehmlich nur im Werther – wie für die deutsche Romantik ästhetisch konstitutiv, ja existentiell und in gewissem Sinne ›epochenantizipierend‹ werden sollte, in Anbetracht auch einer weiteren, zwar zunehmend dezimierten, gleichwohl vorhandenen Ossian-Rezeption bis in die Postmoderne hinein darf eine einschlägige Monographie zu der Thematik gewiß als überfällig bezeichnet werden. Wolf Gerhard Schmidt hat sie nun vorgelegt – in einer wegweisenden, monumentalen Dissertation, die weit über die Grenzen dieser ›Textsorte‹ hinausgeht und die zweifelsohne zum Standardwerk avancieren wird.

[3] 

In seiner Studie differenziert Schmidt umsichtig zwischen den einzelnen Rezeptionsfeldern und wendet sich, nachdem zuvor instruktiv und gleichsam einführend Macphersons Poems of Ossian wirkungsästhetisch als autonomes Artefakt samt der darin enthaltenen potentiellen »Adaptionsmuster« (Bd. 1, S. 63) untersucht worden sind (Teil A), in einem zweiten Teil nun eingehend ebendiesen Wirkungsfeldern im deutschsprachigen Europa zu (Teil B).

[4] 

Die Pluralität und »Polyvalenz der Diskurse« (ebd.) als charakteristische Conditio sine qua non im Falle Ossians bedingt eine um der Übersichtlichkeit willen gesondert angeführte, historisch bisweilen freilich tatsächlich kontaminierte und einander wechselseitig befruchtende Beschäftigung der Rezipienten mit Macphersons Dichtung: systematisch exemplifiziert Schmidt in diesem noch generell gehaltenen Teil die deutsche »philologisch-historische« Rezeptionsebene, die auf die unmittelbar zuvor illustrierte britische und irländische Authentizitätsdebatte rekurriert, sodann modifizierte Ossian-Topoi des »ästhetisch-poetischen Diskurses«; schließlich werden der »ethisch-praktische« deutschsprachige Wirkungsbereich des Werkes sowie der »politisch-kulturelle Diskurs« analysiert. Als symptomatisch für die deutsche Ossian-Rezeption erweist sich, daß die Echtheitskontroverse gegenüber der ästhetischen Anverwandlung anders als im angelsächsischen Raum zurücktritt und von letzterer dominiert wird – teils aus Gründen unzureichender Sprachkompetenz, zumal aber jedoch aus primärem Interesse an Macphersons poetischen »Leerstellen« für die vornehmlich ästhetische Adaption (Schmidt folgt hier methodologischen Termini der Wirkungsästhetik Wolfgang Isers). Gleichwohl stellt Schmidts Nachzeichnung der deutschen philologischen Beschäftigung mit Ossian (hier wären zumal – pejorativ – Heinse, Bodmer, Adelung, August Wilhelm Schlegel und Talvj [Therese Adolfine Louise von Jacob], apologetisch vor allem emphatisch Herder und Jacob Grimm zu nennen) die erste zusammenhängende Untersuchung dieses Sujets dar. 2

[5] 

Beginnend mit dem Teil C (»Die Frühphase – Ossianrezeption im Umkreis der Aufklärung«) geht die Studie nun recht eigentlich chronologisch vor, wobei der Betrachtungszeitraum des vorwiegend poetischen Wirkungsbereiches sich von 1762, dem Jahr der ersten Publikation der Two Fragments of Ancient Poetry in deutscher Übersetzung, über die Hauptphase des Sturm und Drang (Teil D, ab hier im zweiten Band dokumentiert) und die Spätphase vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis in die unmittelbare Gegenwart hinein erstreckt (Teil E). Diese zwei Bände, gleichzeitig die eigentliche Dissertationsschrift, beschließt nach insgesamt 1132 Seiten ein Exkurs über die deutschen Gesamtausgaben der Poems of Ossian.

[6] 

Aufklärung und Empfindsamkeit:
Ossian als rhetorisch-topisches Motivreservoir

[7] 

Die erste deutsche Gesamtübersetzung von Macphersons Dichtung durch Michael Denis erscheint in den Jahren 1768 / 69 – humanistischer Tradition folgend (und als späterer Oppositionsimpetus des Sturm und Drang) noch in Hexametern übertragen. Schmidt demonstriert überzeugend, wie die ästhetische Ossian-Rezeption der Frühphase generell weniger poetisch innovativ und theoriebildend denn vielmehr unverändert mimetisch, dabei durch lineare Harmonisierung mit Homer determiniert ist (bei der pointierten Paraphrase »Homer des Nordens« handelt es sich freilich um eine kolportierte Äußerung Madame de Staëls). So integriert etwa Klopstock intertextuelle Verweise auf die Ossianischen Gedichte, die er frühzeitig und noch vor der deutschen Gesamtveröffentlichung des Werkes studiert, in seine Oden und sein erstes Bardiet [!] Hermanns Schlacht (z.B. Ossianische Echotopoi), hierbei – wie später noch Fouqué – Ossian in einem postulierten Pangermanismus gleichsam ›instrumentalisierend‹. 3 Als exemplarisch für eine die Frührezeption kennzeichnende »nationale Vereinnahmung« der Ossianischen Gesänge (Teil C, 1.4) widmet sich die Darstellung zumal auch der auf Macphersons Dichtung rekurrierenden Bardendichtung im engeren Sinne, d.h. vornehmlich den modisch-eklektischen ›deutschen Barden‹ Michael Denis und Karl Friedrich Kretschmann.

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Des Pudels eigentlichen Kern innerhalb der deutschsprachigen poetischen Wirkungsgeschichte beschreibt Schmidt im Umkreis des Sturm und Drang und – unter wesentlichen, veränderten Bedingungen – in der Romantik (das Diktum von Ossian als »Mutter der Romantik« stammt von Jean Paul und Uhland), wobei Macphersons Dichtung, bedingt durch ihre »doppelte Ästhetik« und ihren Reichtum an modifizierbarem Rezeptionspotential (passim), in beiden Fällen als epochenantizipierende ›Geburtshelferin‹ verstanden wird.

[9] 

Sturm und Drang:
Ossian als ›zweiter Shakespeare‹ und Urbild
des sentimentalischen Dichters

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Macphersons Ossian fungiert im Zuge eines ersten Perspektivwechsels mit Beginn des Sturm und Drang als kosmopolitisches Ideal des Naturpoeten, als natürlich-unverbildetes Originalgenie (vgl. auch die kontemporär zunehmende Bedeutung Shakespeares, die mit derjenigen Ossians koinzidiert und parallelisiert wird). Während seit dem Werther die ursprünglich empfindsame Affekt-Diätetik Macphersons pathologisiert erscheint, erfährt indessen auch Homer entgegen früherer Anschauungen eine gegenüber Ossian fundamentale poetische Kontrastierung, so daß letzterer, so Schmidt, in einem zweiten Perspektivwechsel zum Urbild des sentimentalischen Dichters avant la lettre avanciere (diese These vermag Schmidt im Rückgriff auf Schillers Ossian-Rezeption durchaus zu stützen; der späte Herder wird in seinem Aufsatz Homer und Ossian poetologisch ähnlich urteilen, wenn er Homer als objektiv, Ossian hingegen als subjektiv dichtend deklariert [zit. bei Schmidt, Bd. 2, S. 865]).

[11] 

Interessant in diesem Kapitel sind unter anderem Schmidts Nachweisversuche, auch den späteren Goethe, der sich von der »Ossianomanie« distanziert hat, mit der frühen Passion gleichsam in Goethes ›verdeckter Schreibweise‹ zu assoziieren. Die anregende These, daß Ossian die Harfner-Gestalt bedeutsam mitinspiriert habe (Bd. 2, S. 789), mag vielleicht nicht unwiderruflich und vollkommen definitiv belegbar sein, diejenige des Ossian-Einflusses auf Goethes Ästhetik der Dämmerung darf die bisherige Monopolstellung der bildenden Kunst auf diesem Gebiet jedoch gewiß beträchtlich relativieren und markiert hierin einen gänzlich neuen, richtungsweisenden und faszinierenden Befund. Zumal die Romantik, so legt Schmidt überzeugend dar, wird die Schleier- und Dämmerungsmetaphorik Ossianischer Provenienz verstärkt rezipieren und erkenntnistheoretisch funktionalisieren (Tieck, Fouqué).

[12] 

Emphatisch betont Schmidt, daß sich im Ausdruck »Wonne der Wehmut«, wie er etwa im Anton Reiser Karl Phillip Moritz’ (oder in Hölderlins Hyperion) begegnet, eine Übersetzung der Ossianischen joy of grief manifestiere, und korrigiert mithin, auf ältere, jedoch bis heute kaum wahrgenommene Forschungsergebnisse rekurrierend, die noch immer allgemeine Vermutung, die in Youngs Night Thoughts den Ursprung jener Worte sehen will. Wenn sich Karl Moor in Schillers Räubern über das »schlappe Kastraten-Jahrhundert« mokiert, das »zu nichts nütze, als die Taten der Vorzeit wiederzukäuen«, ist dies eine Ossian-Reminiszenz ebenso wie das in Schillers Dramen generell rekursive Augenrollen; 4 intertextuelle Detaildecouvrierungen wie diese erhellen durch die gesamte Studie hinweg die außerordentliche, wenngleich bisweilen sekundär oder gar tertiär vermittelte Resonanz von Macphersons Dichtung innerhalb der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur.

[13] 

Romantik:
Nachtkult und Solipsismus

[14] 

Im Zuge der Romantik setzt sich die bereits mit Herder beginnende »Tendenz zur Suspension des politisch-kulturellen Diskurses« fort (mit Ausnahme Friedrich Schlegels und Fouqués) – ebenso wie eine stetig virulenter werdende Ästhetisierung der ethischen Ossian-Rezeption (Schmidt, Bd. 2, S. 877). August Wilhelm Schlegels berühmte Polemik gegen Macphersons Dichtung aus dem Jahre 1800, die bis auf den heutigen Tag noch als symptomatisch für die schwindende Popularität des Werkes begriffen wird, steht, so demonstriert Schmidt, in diametralem Gegensatz zu der dichtesten Publikationsrate über Ossian nicht etwa im letzten Drittel des 18., sondern in der ersten Dekade des 19. Jahrhunderts. Im Hinblick auf die Transzendenzlosigkeit und die kompensatorisch dominierende Erinnerungskultur kann Hegel in seinen Vorlesungen über die Ästhetik denn auch entsprechend konstatieren, daß Ossian gleichsam das erste »romantische Epos« markiere (zit. bei Schmidt, Bd. 1, S. 8). Die empfindsam diätetische Affektsublimierung der Vorlage (joy of grief) wird zunehmend substituiert durch einen kultivierten narzißtisch-selbstreflexiven Leidensgenuß, und

[15] 
[t]atsächlich erscheinen viele Naturevokationen in Texten dieser Epoche fast wie ossianische Derivate. Das gilt für die Nebel-, Wolken-, Mond- und Geistermetaphorik, die Beschreibung moosiger Gräber und Heidelandschaften sowie die Darstellung existentieller Einsamkeitserfahrungen unter Verwendung von Echoeffekten oder absoluter Klanglosigkeit. Es sind also nicht nur die sublimen und empfindsamen Patterns, die reproduziert werden, sondern auch die melancholischen und – als deren Übertretung – die destruktiv-nihilistischen (u.a. bei Kleist, Tieck und Fouqué). In diesem Zusammenhang stellt die gothic novel, die ihrerseits von Macpherson inspiriert ist, eine bedeutende intertextuelle Vermittlungsinstanz dar. (Schmidt, ebd.)
[16] 

Bedingt durch Macphersons »Ästhetik der Ambivalenz« (passim) werden Ossianische Topoi unter veränderten Auspizien in der nachfolgenden Dichtung selektiv applizierbar, so daß wie vormals im Sturm und Drang nunmehr auch in der Romantik der Ossian-Rezeption – mittel- oder unmittelbar – eine weit größere Bedeutung zukommt als gemeinhin angenommen. Daß man in vereinzelten Fällen vielleicht auch an einer beständigen Omnipräsenz und Einflußnahme der Ossianischen Gedichte zweifeln dürfte, schmälert freilich gewiß nicht die in summa höchst verdienstvolle, sich auf überaus reiches Quellenmaterial berufende und insgesamt schlichtweg bahnbrechende Darstellung. Daß der behandelte Gegenstand bislang fundamental unterschätzt wurde und völlig zurecht von einer geradezu »Ossianische[n] Periode« 5 innerhalb der deutschen Literatur gesprochen werden darf – hierzu zählen bei weitem nicht nur Ossian als Jugend- und vermeintlich allzu kurzweiliges Modephänomen –, erhellt die Studie immer wieder.

[17] 

Ossian-Rezeption bis heute:
Verlust der Mitte

[18] 

Der letzte Teil von Schmidts umfangreicher eigentlicher Dissertation fällt aufgrund des zunehmend verminderten Ossian-Fiebers notwendigerweise ein wenig ›kurz‹ aus, enthält mit der Analyse von Franz Spundas einziger deutscher Übersetzung des Werkes im zwanzigsten Jahrhundert (erschienen 1924) und seiner magisch-idealistischen, essentiell an Ossian orientierten Ästhetik in der Nachfolge des Expressionismus jedoch einen bedeutsamen, gleichsam ›post-klimaktischen‹ Glanzpunkt. Zum 200. Todesjahr Macphersons – dies jedoch zufällig – erscheint schließlich im Jahre 1996 der experimentelle Ossian-Roman Gila Prasts, der in meist kaum rudimentärer Handlung und Syntax freilich nur noch durch die monotone Wiederholung des Protagonistennamens und vereinzelte fragmentarische Assoziierungen (Schlachtfeld, Gefährten, Wolken, Echo etc.) in Juxtapositionen an den keltischen Barden gemahnt:

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Ossian erschien Er haben der Gewässer
landen Feuer der Sprühe vorwärts es war das
letzte mal gelesen in der Hügelkette viele
sterben auf dem Gesicht der Engel Ossian
als Ossian erschien als junges Gesicht lose
umhangen sieben tote Gefährten Ossian
Verbeugung aufrecht hören Schlagende
zeichnen Angst aus dem Herz als Ossian
dunkel Gewand im Morgen umhängend
angenehmer Wache beizeiten zu Tage wenn
Siege Schönheit einer Wolke
Schlachtfeld Zürnen Gott Ossian Bruder.
(Zit. bei Schmidt, Bd. 2, S. 1132.)
[20] 

Bände 3 und 4 (Quellenbände)

[21] 

Der den zweiten Band beschließende Exkurs über die deutschen Gesamtausgaben der Poems of Ossian erweist sich als hilfreich zumal im Hinblick auf Schmidts dritten Band, der aus einer kommentierten Neuausgabe deutscher Übersetzungen der Fragments of Ancient Poetry, der Poems of Ossian sowie der Vorreden und Abhandlungen von Hugh Blair (hier v.a. der Critical Dissertation) und James Macpherson selbst besteht. Die Bände 3 und 4 verstehen sich mithin als komplementäre Zugänglichmachung von teilweise nur schwer akzessiblen Primär- und Sekundärtexten.

[22] 

Aus den insgesamt 14 ins Deutsche übertragenen Gesamtausgaben der Ossianischen Gedichte wählt Schmidt im dritten Band nun nicht etwa die Erstausgabe von Michael Denis, sondern die Übersetzung von Schillers Jugendfreund Johann Wilhelm Petersen aus dem Jahre 1782 aus, in die überdies Goethes Gesänge von Selma unverändert integriert sind. Die Frage, ob statt dessen nicht vielleicht eher die für die deutschsprachige Ossian-Rezeption so bedeutsame Übertragung von Denis hätte gewählt werden können, ist vielleicht ein wenig heikel, doch begründet Schmidt seine Wahl überzeugend unter Hinweis auf Denis’ nachfolgend stark kritisierte Hexameterform und den sich der measured prose Macphersons (Inversionen, Asyndeta und Elisionen) weit eher annähernden Sprachduktus Petersens. Diese Übersetzung stellt zudem den einzigen vollständigen ›Sturm und Drang-Ossian‹ dar, ist somit exemplarisch für die Rezeption der eigentlichen Hauptphase und in ihrer reizvollen Stilistik, die Macpherson in der Tat sehr nahe kommt, wunderschön flüssig zu lesen. Da sie keinen der theoretischen Begleittexte enthält, wird Band 3 komplettiert durch den zusätzlichen Abdruck deutscher Übersetzungen von Hugh Blairs Preface zu den Fragments, seiner Critical Dissertation, Macphersons Fingal-Vorrede, derjenigen zur fourth edition und der zweiten Dissertation sowie schließlich auch der 1766 anonym publizierten Fragments of Ancient Poetry.

[23] 

Der vierte, wiederum sehr umfangreiche Band bietet eine abschließende kommentierte Auswahl relevanter Texte und Auszüge zur deutschsprachigen Ossian-Rezeption von den Anfängen bis in die Postmoderne. Die abgedruckten Rezeptionszeugnisse sind repräsentativ für Schmidts Hauptthesen der Dissertation (Ossian als Originalgenie, Urbild des sentimentalischen Dichters, »Mutter der Romantik« [›progressive Universalpoesie‹], Prototyp des last of the race) und vermögen diese nachdrücklich zu stützen. Von besonderem Interesse sind hier zumal zwei Erstdrucke von Jugendwerken Ludwig Tiecks: Iwona. Eine ossianische Skizze (ca. 1791) und Ein Gesang des Barden Congal (ca. 1792 / 93) – Schmidt druckt darüber hinaus zwei bibliographisch bislang nicht nachgewiesene Texte ab – sowie einzelne Passagen aus Joseph Roths Roman Radetzkymarsch (1932), der noch nie mit Macphersons Dichtung in Verbindung gebracht wurde, gleichwohl verblüffende Ossian-Reminiszenzen enthält (so beispielsweise die Vorstellung vom eigenen aussterbenden Geschlecht verbunden mit einer daraus resultierenden Evokation der joy of grief).

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Gesamtbeurteilung

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Bei einer derart materialreichen Untersuchung eines in sich so vielfältig komplexen Gegenstandes mögen sich gewiß leicht Strukturierungsprobleme ergeben, die Schmidt mit größtmöglicher Umsicht und Klarheit in seiner Darstellung jedoch gar nicht erst aufkommen läßt. Vor diesem Hintergrund darf der vielleicht etwas zu ausführliche einleitende Methodologie-Teil sicher nicht nur als gerechtfertigt, sondern auch als notwendig erscheinen, da die deutschsprachige Ossian-Rezeption sich in der Tat aus diversen grundlegenden »Diskursen« formiert, die bisweilen miteinander korrelieren, und der gewaltige Betrachtungszeitraum sich über zwei Jahrhunderte erstreckt. In seiner vorbildlichen Studie verliert Schmidt nie den Ariadnefaden, und daß sich hier und dort vielleicht auch Überschneidungen und Wiederholungen ergeben mögen, liegt angesichts einer solch engagierten und voluminösen Darstellung mit weitgehendem Totalitätsanspruch freilich in der Natur der Sache. Ein wenig unbehaglich mögen die teilweise anglisierende Diktion (Ossianische »Patterns«) und ein bisweilen reichlicher Gebrauch von modisch-methodologischen Termini wirken (Ossian als »Diskursivitätsbegründer«, vertikal-horizontales »Transgressionspotential«), auf welch letztere sich im vorliegenden Falle allerdings vielleicht nicht ohne weiteres verzichten ließe.

[26] 

Schmidts erstmalig systematische, stringente Untersuchung der Thematik geht formal wie inhaltlich weit über das hinaus, was der früheren Forschung in diesem Bereich zu konzedieren wäre, und macht, man darf wohl sagen, nicht zuletzt auch durch textinterpretatorisches Einfühlungsvermögen vieles auf diesem Gebiet bisher Geleistete zur Makulatur. Es ist eine ausnehmend zukunftsweisende Dissertation, die ihr Verdienst als eigentliche ›Textsorte‹ bedeutend übertrifft, den zu Unrecht unterschätzten Stellenwert Ossians in der deutschsprachigen Literatur nun erst eigentlich berichtigt und für jeden, der sich literaturwissenschaftlich hiermit beschäftigen möchte, unentbehrlich werden wird: »Oßian ist es werth, daß man ihn ganz durchliest«. 6 Gleiches, so möchte man ergänzen, gilt für Schmidts Monographie.



Anmerkungen

Anonyme Rezension zu drei deutschen Ossian-Übersetzungen, 1808 (zitiert bei Schmidt, Bd. 1, S. 1 und passim).   zurück
Schmidt selber argumentiert angesichts des »zeitgenössische[n] Verständnis[ses] von Text- und Editionstreue« (Bd. 1, S. 14 f.) in bezug auf Macphersons partiell übersetzendes, adaptierendes und neudichtendes Werk engagiert gegen das – ihm anachronistisch erscheinende – Verdikt »Fälschung«.   zurück
Vgl. Klopstocks Brief vom 31. Januar 1769 an Gleim: »Ossian war deutscher Abkunft, weil er ein Kaledonier war« (zitiert bei Schmidt, Bd. 1, S. 508). Klopstocks später »rückläufiges Interesse an Ossian« sieht Schmidt so auch in der zunehmenden Gelehrtenskepsis bezüglich Authentizität und germanischstämmiger Provenienz des Werkes begründet (ebd., S. 522).   zurück
Der Terminus »Vorzeit« findet sich zum ersten Mal überhaupt in Denis’ Ossian-Übersetzung (»times of old«) und wird von Klopstock in den Oden-Autographen übernommen; Schmidt, Bd. 2, S. 850 und passim.   zurück
So Friedrich von der Hagen im Jahre 1816 über Jean Pauls Romane, welch letzterer Macphersons Dichtung zumal als gleichsam potenzierte ›Sphärenmusik‹ rezipiert (zit. bei Schmidt, Bd. 2, S. 881 und passim).   zurück
Anonyme Rezension zum ersten Band von Denis’ Ossian-Übertragung, 1768 ( zit. bei Schmidt, Bd. 1, S. 9).   zurück