Nutt-Kofoth über Grimm-Briefausgaben: Abmalen vs. Lesen

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Rüdiger Nutt-Kofoth

Abmalen vs. Lesen oder
Handschriftentranskription vs. Textedition.
Zwei neue Grimm-Briefausgaben
als Konkurrenzunternehmen

  • Brüder Grimm: Werke und Briefwechsel. Kasseler Ausgabe. In kritisch-kommentierten Einzelbänden hg. im Auftrag des Vorstandes der Brüder Grimm-Gesellschaft e.V. [Abt.] Briefe. Bd. 2: Briefwechsel mit Ludwig Hassenpflug (einschließlich der Briefwechsel zwischen Ludwig Hassenpflug und Dorothea Grimm, geb. Wild, Charlotte Hassenpflug, geb. Grimm, ihren Kindern und Amalie Hassenpflug). Hg. und bearb. von Ewald Grothe. Kassel, Berlin : Verlag der Brüder Grimm-Gesellschaft e.V. 2000. 448 S. 36 Abb. Geb. DM 192,-. [im folgenden zitiert als K (Kasseler Ausgabe) 2]
    ISBN 3-929633-62-0.
  • Briefwechsel der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm. Kritische Ausgabe in Einzelbänden. Bd. 1: Briefwechsel zwischen Jacob und Wilhelm Grimm. Hg. von Heinz Rölleke. Teil 1: Text. Stuttgart: S. Hirzel Verlag 2001. 803 S. 1 Abb. Geb. DM 98,60. [im folgenden zitiert als S (Stuttgarter Ausgabe) 1]
    ISBN 3-7776-1109-3.


Die moderne Grimm-Forschung hat unzweifelhaft das Potential erkannt, das in einer Beschäftigung mit Leben und Werk von Jacob und Wilhelm Grimm liegt. So läßt sich an den Brüdern zeigen, wie sich ihre Werke als Teilnahme an einer literarischen Epoche und explizite Rückwirkung auf diese Epoche ("Sagen-" und "Märchen"-Sammlung) erweisen und zugleich den literarischen Horizont verlassen, indem (neben den Editionen mittelalterlicher Texte) mit der "Grammatik" und dem "Wörterbuch" jene Metatexte entstehen, die entscheidende Bausteine für die Entwicklung der Deutschen Philologie bilden. All dies läßt sich auch eingliedern in eine universitäre Institutionengeschichte, für die wiederum das Wissen um die Biographie der Brüder eine notwendige Voraussetzung ist; und wer weitergreifen will, darf eine solche Biographie zugleich als eine partielle Geschichte der politischen Zeitereignisse verstehen, in die die Brüder verwoben waren (>Göttinger Sieben<).

So kann man es nur als glücklich bezeichnen, daß nun der vollständige Briefwechsel der Brüder ediert wird, der etwa zur Hälfte bisher gänzlich unveröffentlicht ist, ansonsten vielfach fehler- und lückenhaft und — falls überhaupt — mit einem den heutigen Anforderungen oder dem derzeitigen Kenntnisstand nicht mehr genügendem Kommentar ausgestattet ist (S 1, S. 6). Eine solche Edition wird ganz augenscheinlich die Quellenlage für eine Aufarbeitung der oben angesprochenen Zusammenhänge erheblich verbessern.

Doch fraglich bleibt allerdings, ob man es auch als glücklich bezeichnen kann, daß diese editorische Arbeit gleich von zwei verschiedenen Seiten parallel unternommen wird: zum einen von der Kasseler Brüder Grimm-Gesellschaft und zum anderen von einem Wissenschaftlerkreis, der aus der Inventarisierung der Grimm-Briefe an der Humboldt-Universität in Berlin und unter maßgeblicher Beteiligung Ludwig Deneckes sowie des Wuppertaler Grimm-Spezialisten Heinz Rölleke erwachsen ist. Beiden Ausgaben liegen langjährige Vorarbeiten zugrunde, und die Kasseler Ausgabe strebt neben der Briefedition auch eine Edition der Werke an. 1

Nun müssen >Paralleleditionen< nicht unbedingt überflüssige Doppelarbeit und damit Ressourcenveschwendung sein, wie die Geschichte der germanistischen Edition gezeigt hat. Wie innovativ eine aus gänzlich anderer editionsphilologischer Perspektive ansetzende neue Edition sein kann, wurde am Beispiel der Frankfurter Hölderlin-Ausgabe deutlich, die zu erscheinen begann (1975 / 76), als die letzten Bände jener epochemachenden Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe von Friedrich Beißner (1943—1985) noch nicht vorlagen. Und auch die Killy / Szklenarsche Trakl-Ausgabe (1969) konnte noch nicht als wissenschaftlich überholt bezeichnet werden, als die neue Innsbrucker Trakl-Ausgabe (1995 ff.) die ersten Bände präsentierte. Schließlich war auch die Kritische Kafka-Ausgabe bei Fischer (1982ff.) noch nicht an ein Ende gekommen, als abermals eine anders geartete Ausgabe der gleichen Texte (1995 ff.) für eine direkte Konkurrenz sorgte. 2 Von allen diesen neuen Ausgaben kann gesagt werden, daß sie mit ihrem anderen Textverständnis und ihrer anderen Präsentation des Werktextes auch neue — je unterschiedliche — Perspektiven für die Literaturwissenschaft eröffnen.

Divergierendes Textverständnis in Briefeditionen
als Begründung von >Parallelausgaben<?

Was sich für Werkausgaben als fruchtbar für die Erörterung verschiedener Blicke auf den literarischen Text erweisen kann, erscheint für Briefausgaben auf den ersten Blick wenig sinnvoll. Die Divergenzen der genannten >Parallelausgaben< liegen zum einen gerade darin, daß sie ganz unterschiedlich mit den verschiedenen Fassungen und Vorstufen des fertigen bzw. letztfixierten Textes umgehen, also den Entstehungsprozeß an sich als Bestandteil des Werktextes verstehen. Zum anderen stellen diese Ausgaben den latenten Medienwechsel von der Handschrift zum autorisierten gedruckten Werktext ganz unterschiedlich in Rechnung. Nun lassen sich diese beiden Hauptkriterien für das andere Textverständnis der genannten neueren gegenüber den zugehörigen früheren Werkausgaben allerdings auf Briefausgaben gerade nicht übertragen.

Weder gehen einem Brief (in der Regel) derartige Vorstufen und Entwurfsprozesse voraus, allemal vielleicht ein einziges Konzept, noch erfährt er einen Medienwechsel, denn er bleibt an die Handschrift (bzw. das Typoskript etc.) gebunden. Die begrenzte Sphäre eines Austausches zwischen in der Regel zwei Personen verläßt der Brief jedoch erst in der (in aller Regel) postumen Publikation, durch die der private Text in die anonyme Öffentlichkeit gerät, also ein Publikum erhält, das bei seiner Entstehung und Verwertung durch den Briefschreiber gerade völlig ausgeschlossen war. Erst hier geschieht auch die Ablösung des Textes vom Autor durch den Medienwechsel in den öffentlich zugänglichen Druck in Drucklettern und damit die Auflösung des immanenten Privatcharakters, der sich eben auch in der persönlichen Handschrift manifestiert.

Wenn aber die entscheidenden Voraussetzungen, die die verschiedenen Editionen von Werktexten fruchtbar machen können, für die Briefedition nicht zutreffen, stellt sich natürlich die Frage nach der wissenschaftlichen Sinnträchtigkeit solcher >Parallelausgaben<, wie sie nun für die Grimms vorgelegt werden. Mit dieser Fragestellung soll ein Blick auf die Textkonstitution der beiden neuen Ausgaben gerichtet werden. Allein diese Fokussierung ermöglichen die vorliegenden Bände zur Zeit, denn von der Stuttgarter Ausgabe liegt bisher nur ein Textband vor, dem (neben der Sagenkonkordanz als Bd. 1.2) ein separater Apparatband mit dem Kommentar (Bd. 1.3) folgen wird. (Die anschließenden Bände sollen im übrigen Text und Apparat / Kommentar in einem Band bieten, indem der Apparat- / Kommentarteil sogar direkt an jeden Brief angeschlossen ist.) Ein Vergleich dieser Editionsteile, die die Kasseler Ausgabe schon in jedem Band präsentiert (den Kommentar in Fußnoten zum Text, die Angaben zur Überlieferung, Handschriftenbeschreibung und Datum in einem separaten Apparatteil), wie auch der in der Kasseler Ausgabe umfangreichen Register wird erst dann zu leisten sein.

Doch gerade die Textkonstitution der beiden Ausgaben erlaubt eine Erörterung der Sinnträchtigkeit dieser >Parallelausgaben<, denn auf dieser Ebene lassen sich in der Tat ganz unterschiedliche Ansätze feststellen, die einen Anschluß an die Divergenzen der oben genannten >Werkparallelausgaben< ermöglichen.

Die Grimm-Briefe als Briefwechselausgabe:
Vorteile und Probleme einer Editionsform

Zunächst jedoch zu den Gemeinsamkeiten der beiden Ausgaben: Die Grimm-Briefe in der Form von einzelnen Korrespondenzen als Briefwechsel-Ausgabe zu edieren, erscheint aufgrund der Menge von etwa 30.000 (S 1, S. 5) oder gar 38.000 Einzelbriefen 3 als eine vertretbare Entscheidung. Der Nachteil, daß somit die Korrespondenzen aus dem sonstigen Briefzusammenhängen abgelöst sind, dürfte sich gegen den organisatorischen Vorteil einer flexibler zu gestaltenden Ausgabe in Einzelbänden die Waage halten.

Da jede Einzelkorrespondenz die Briefe und Gegenbriefe in ihrer chronologischen Abfolge in einem Band bietet, könnte es allerdings Schwierigkeiten bei der Einordnung sich überschneidender Briefe geben, die durch eine Publikation in je einem Band mit den An- und den Von-Briefen nicht entstehen würden. Doch scheint dieses Problem vernachlässigenswert, da von beiden Ausgaben durch die Ansetzung des Briefschreibers >Brüder Grimm<, also zweier Einzelpersonen als gemeinsamem Schreiber, ein Kollektiv als Briefschreiber verstanden wird (bis auf den speziellen Fall des Briefwechsels von Jacob und Wilhelm Grimm miteinander in S 1), das sich faktisch allerdings in je einzelne Absender / Adressaten auflöst. Da dann nicht nur die Korrespondenzen mit einem Partner, sondern mit ganzen Gruppen zusammengefaßt werden, 4 so daß die Bände statt Einzelkorrespondenzen eher also inhaltlich orientierte Bündelungen von Korrespondenzzusammenhängen bieten, erscheint auch die zusammenfassende Publikation solcher Einheiten in einem Band durchaus begründet.

Beide Ausgaben berücksichtigen auch verlorene Briefe, soweit sie erschließbar sind, im Textteil der Ausgabe; die Stuttgarter Ausgabe allerdings erst ab Bd. 2, im sehr früh konzipierten 5 Bd. 1 werden die verlorenen Briefe nur im Kommentar ausgewiesen (K 1, S. 800). Damit folgen beide Ausgaben den neueren Bestrebungen in der Diskussion um die Briefedition, durch die Erschließung verlorener Briefe einen weitmöglichst vollständigen Überblick über den Verlauf von Korrespondenzen zu ermöglichen. 6

Textkonstitution als editorisches Paradigma

Entscheidende Differenzen liegen nun in der Präsentationsform der edierten Texte vor. Die Stuttgarter Ausgabe ist einer herkömmlichen Textgestaltung verpflichtet, wie sie auch jenem allgemeinen Vorschlag für die Edition von Briefen entspricht. 7 Weil sich in den "Editorische[n] Grundsatzentscheidungen" der Stuttgarter Ausgabe schon die differentia specifica der Kasseler Ausgabe spiegelt, seien jene einleitenden Bemerkungen zur editorischen Verfahrensweise der Stuttgarter Ausgabe hier zitiert:

Die Edition gibt die Texte der Originale getreu wieder, vollzieht dabei allerdings konsequent den Medienwechsel von Handschriften des 18. und 19. Jahrhunderts zu gedruckten Antiquatexten. Auf die Nachbildung von Eigenheiten der Handschrift und der deutschen Schrift wird bewußt verzichtet; sie müßte unbefriedigend und unvollständig bleiben. Vielmehr liegt den Editionsrichtlinien der Gedanke zugrunde, gut lesbare und zitierbare Texte anzubieten, die nicht von editorischen Einblendungen und Sonderzeichen durchsetzt sind. (S 1, S. 799)

Der zweite Band der Kasseler Ausgabe formuliert dagegen: "Im Vordergrund stand die Absicht einer weitgehend textgenauen Edition, die den Buchstaben- und Zeichenbestand möglichst originalgetreu wiedergibt." (K 2, S. 51)

Das Abheben auf den "Buchstaben- und Zeichenbestand" markiert dabei die Verfahrensweise der Kasseler Ausgabe, die neben Sonderzeichen (z.B. Münzzeichen) nun insbesondere die spezifischen Zeichen der handschriftlichen deutschen Schrift zu erhalten versucht. So werden Geminationsstriche über m und n zur Verdoppelung dieses Buchstabens abgebildet oder die -en-Suspensionen am Wortende als Nicht-Text verstanden und als hinzugefügter kursiver Herausgebertext in eckigen Klammern verzeichnet. Insbesondere aber bleibt das lange s der deutschen Schrift in der Antiquatype der Edition erhalten. Die knappen Ausführungen zu den Editionsprinzipien der Kasseler Ausgabe in deren Bd. 1, auf den der Bd. 2 an dieser Stelle verweist, 8 haben dieses Verfahren zur Textkonstitution als "Prinzip des >Abmalens<" bezeichnet (K 1, S. 29).

Aufgrund dessen werden auch Streichungen und andere Änderungsbefunde direkt im Text und nicht erst im Apparat verzeichnet, wie es die Stuttgarter Ausgabe anstrebt (S 1, S. 802, doch dann hoffentlich vollständig, wie die Formulierung "wo der Herausgeber es für wichtig hält" nicht unbedingt nahelegt). Jedoch hätte man sich gewünscht, daß — wenn solche Einblendungen in den Text schon vorgenommen werden — diese nicht mit verbalisierten Herausgeberbemerkungen beschrieben würden. Solche den Lesefluß erheblich störenden Einblendungen in Kursive wie "geändert aus" oder "gestr." hätten problemlos durch einfache editorische Zeichen, für die seit Jahrzehnten Konventionen bestehen, dargestellt werden können. Überflüssig ist auch das bei ungewöhnlicher Syntax oder Orthographie hinzugefügte kursive "sic!", als dürfe der Leser nicht zunächst der editorischen Wiedergabe trauen, bevor er einen Druckfehler annimmt (Beispiele für alle Fälle: K 2, S. 59) — gleiches gilt für das in derselben Funktion gesetzte kursive Ausrufezeichen der Stuttgarter Ausgabe (z.B. S 1, S. 240f.).

Diese transkriptive Wiedergabeform führt durch die Beschreibung von Einzelbefunden allerdings auch zu einer Isolierung zusammengehöriger Änderungen, z.B.: "da sey eine Dame gewesen, [gestr.: die] aus dem Berlin, [gestr.: gekommen] [über der Zeile: die] sich viel mit dem König unterhalten" (K 2, S. 107). 9 Genetisch ließe sich das — z.B. in einem Apparat am Fuß der Seite — folgendermaßen darstellen:

System Woesler, Stufenapparat (eckige Klammern = Streichungen; Petittext = nicht noch einmal niedergeschrieben):

  1. gewesen, [die] aus dem Berlin [gekommen] sich viel mit dem König

  2. gewesen, aus dem Berlin, die sich viel mit dem König

(Das Komma nach "Berlin" ist offensichtlich erst in Textstufe (2) hinzugefügt worden.)

System Zeller (vereinfachte Version ohne Ortsangaben), synoptischer Apparat (eckige Klammern = Streichungen, in Folgezeile nicht mitzulesen; leere Stelle der unteren Zeile unter nicht gestrichenem Text = unveränderter Text der Grundzeile, also mitzulesen; letztgültiger Text fett gekennzeichnet):

gewesen, [die] aus dem Berlin [gekommen] sich viel mit dem König

, die

Solche genetischen Zusammenhänge muß der Benutzer nun allerdings selbst herstellen. Wünschen würde man sich auch eine gesonderte Kennzeichnung von Sofortkorrekturen, deren Differenz von Spät- / Durchsichtskorrekturen gerade auch vom Adressaten wahrzunehmen ist. Solche Befunde über spontan abgebrochene Formulierungen bzw. reflektiert vorgenommene Änderungen sind somit Bestandteil des abgeschickten Brieftextes und gehören letztlich zur Mitteilung des Absenders an den Empfänger dazu.

Daß der Kommentar in der Kasseler Ausgabe am Fuß der Seite gleich mitgeliefert wird, erspart so manches umständliche Blättern in hinteren Regionen des Bandes, doch widerspricht es dem Prinzip der zeichengetreuen Wiedergabe der Brieftexte, daß die Verknüpfungen zwischen Brieftext und Kommentar mittels Fußnotenziffern hergestellt werden, die noch aus der Einleitung her bis zum Ende (bis Nr. 2275) durchgezählt werden. Nicht nur stören diese Ziffern den Lesefluß im Text doch sehr, sondern sie sind nun explizit kein zum Brieftext gehöriges Zeichen, durchziehen diesen aber fortwährend. Das hätte sich doch mittels einer Zeilenzählung, auf die sich der entsprechende Kommentar am Fuß der Seite bezöge, vermeiden lassen.

Das lange s und die Antiquaschrift

Eine der größten Auffälligkeiten der Kasseler Ausgabe ist die Verwendung des langen s der deutschen Schrift in der Antiqua der Edition, falls es auch im Brieftext an dieser Stelle verwendet ist. Die Wiedergabe des s als langes oder rundes s je nach seiner Position im Wort ist eine Eigenheit der deutschen Schrift bzw. der Fraktur. Doch kann sich die Ausgabe auf die Handschrift Jacob Grimms berufen, der nach seiner Umstellung von der deutschen auf die lateinische Schrift 1821 / 24 zunächst noch das lange s an den Positionen benutzt, die durch die deutsche Schrift vorgegeben sind, dies jedoch 1832 / 33 aufgibt, 10 außer bei der Zusammensetzung von langem und rundem s für ß, transkribiert in der Edition als Abfolge von langem und rundem s. Jedoch ist die Beibehaltung dieser Differenzierung keine Grimmsche Eigentümlichkeit, sondern z.B. auch noch in verschiedenen deutschen Antiqua-Drucken bis ins 20. Jahrhundert hinein festzustellen und verliert sich endgültig erst dann. 11

Die Kasseler Ausgabe begründet die Beibehaltung des langen s mit der "lautlichen Relevanz" (K 1, S. 30). Jedoch läßt sich die lautliche Differenz gerade nicht im Zeichen der deutschen Schrift erkennen. So kann das lange s — neben den hochsprachlichen palatoalveolaren Reibelauten in st und sch — an Stellen mit stimmhaftem (>lesen<, >sehen<) wie stimmlosem s (>lassen<, >fasten<) vorkommen und repräsentiert damit keinen originären phonetischen Unterschied zum stimmlosen runden Schluß-s (>Königs<). Ulrich Hussong vermutet dagegen, daß Jacob Grimm durch die Benutzung des langen s in der lateinischen Schrift die Hervorhebung des Mittelbandes aufgrund der reduzierten Unterlängen in dieser Schrift abmildern wollte. 12

Bleiben so die Begründungen nicht stichhaltig oder nur Vermutungen, ergeben sich auch von anderer Seite Bedenken. Ließe sich nämlich bei Jacob Grimms Schriftwechsel immerhin auf eine gewisse (wenn auch bisher nicht sicher erkannte) Bedeutung der Trennung des heutigen s in rundes und langes s auch noch in der lateinischen Schrift verweisen — deren Beschreibung in der Einleitung der Edition einen ausreichenden Ort gefunden hätte —, so macht diese gleiche Differenzierung bei Schreibern der deutschen Schrift eher einen verwirrenden Eindruck. Da die Kasseler Ausgabe auch diese Texte in Antiqua mit langem s abdruckt, wird hier eine scheinbare Besonderheit markiert, die in der ursprünglichen deutschen Schrift des Briefes gar keine ist, sondern die Normalität.

Für eine den Vorstellungen der Herausgeber entsprechende zeichengetreue Wiedergabe hätte da allerdings nur ein Druck in Fraktur geholfen. Dann wären die optischen Unterschiede auch im Sinne des >Abmal<-Prinzips augenfällig geworden. Oder man hätte gleich den Weg gehen können, den Hans Zeller nun für seine Meyer-Briefausgabe beschritten hat: (neben den Faksimiles) eine zeichen- und zeilengetreue diplomatische Umschrift, die dann die Räumlichkeit der Korrekturen auch räumlich wiedergibt. 13 Hier nähert sich die Edition in der Textkonstitution allerdings der reinen Transkription an; und diesen Schritt wollten die Kasseler Editoren dann doch nicht vollständig gehen. So reproduzieren sie z.B. auch nicht den Zeilenfall der Handschrift, markieren allerdings den Seitenwechsel.

Transkription, Zeichenedition, Textedition

In gewisser Weise bleibt die Kasseler Ausgabe auf halbem Wege zwischen rein dokumentativer Transkription und Textedition stehen. Während die Transkription nur eine Hilfe zur Lesung des Originals ist, also eigentlich die Lesung des Original(manuskript)s als ihr zu vermittelndes Ziel meint, löst die Textedition bewußt den Text von seinem ursprünglichen Textträger ab und präsentiert den Text, nicht das Manuskript, als Ziel ihres Editionsverständnisses. Dazwischen steht die Kasseler Ausgabe und präsentiert Zeichen der Manuskriptes in Umgebungen einer Textedition — und macht eines schwer, wenn nicht unmöglich: ohne spezielle Sonderfonds diese Ausgabe korrekt zu zitieren.

Die Stuttgarter Ausgabe legt mit ihrem Textband dagegen das Bild einer konsequenten Textedition vor, doch wird man hier den zugehörigen Apparatband abwarten müssen, ob nicht andererseits zu sehr der handschriftliche Befund, die Änderungsvorgänge, in den Hintergrund gedrängt wird (s.o.). Überhaupt bildet die Qualität des Kommentars bei Briefausgaben einen der gewichtigsten Punkte für deren wissenschaftliche Relevanz. Hier steht der Vergleich der Stuttgarter mit der Kasseler Ausgabe noch aus. Sinn und Unsinn solcher >Parallelausgaben< werden sich schließlich erst dann ermessen lassen. Die paradigmatischen Unterschiede in der Textkonstitution zeigen jedoch, daß auch die Briefedition die Entwicklungen, die verschiedene neuere Werkeditionen genommen haben, intensiv reflektiert — und möglicherweise berechtigter als jene umsetzt, indem sie sich explizit auf den Dokumentcharakter des Briefs berufen könnte. 14


Dr. Rüdiger Nutt-Kofoth
Akademie der Wissenschaften zu Göttingen
Goethe-Wörterbuch
Arbeitsstelle Hamburg
Von-Melle-Park 6
D-20146 Hamburg

Ins Netz gestellt am 08.01.2002
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Anmerkungen

1 Zum Werkplan s. Bernhard Lauer: Überlegungen zur Vorbereitung einer kritisch-kommentierten Ausgabe der Werke der Brüder Grimm. In: Jahrbuch der Brüder Grimm-Gesellschaft 6 (1996), 2000, S. 175-180. — Zur Entstehungsgeschichte der Stuttgarter Ausgabe mit den vorbereitenden Arbeiten seit 1991 s. das Vorwort in S 1, S. 6—8 und Informationen unter www.grimmnetz.de.    zurück

2 Hölderlin: Sämtliche Werke. Große Stuttgarter Ausgabe. Hg. von Friedrich Beißner [und Adolf Beck]. 8 Bde. in 15. Stuttgart: Cotta [seit 1951: Kohlhammer, Cotta; seit 1968: Kohlhammer] 1943—1985; Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. >Frankfurter Ausgabe<. Hg. von D.E. Sattler. Frankfurt a.M.: Roter Stern [seit 1985: Basel, Frankfurt a.M.: Stroemfeld, Roter Stern] 1976 ff.; Bd.: Einleitung, Frankfurt a.M.: Roter Stern 1975; Georg Trakl: Dichtungen und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. von Walther Killy und Hans Szklenar. 2 Bde. Salzburg: Otto Müller 1969; Georg Trakl: Sämtliche Werke und Briefwechsel. Innsbrucker Ausgabe. Historisch-kritische Ausgabe mit Faksimiles der handschriftlichen Texte Trakls. Hg. von Eberhard Sauermann und Hermann Zwerschina. Basel, Frankfurt a.M.: Stroemfeld, Roter Stern 1995 ff.; Franz Kafka: Schriften Tagebücher Briefe. Kritische Ausgabe. Hg. von Jürgen Born, Gerhard Neumann, Malcolm Pasley und Jost Schillemeit unter Beratung von Nahum Glatzer, Rainer Gruenter, Paul Raabe und Marthe Robert. Frankfurt a.M.: S. Fischer 1982 ff.; Franz Kafka: Historisch-Kritische Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte. Hg. von Roland Reuß und Peter Staengle. Basel, Frankfurt a.M.: Stroemfeld, Roter Stern 1995 ff.   zurück

3 Brüder Grimm: Werke und Briefwechsel. Kasseler Ausgabe. In kritisch-kommentierten Einzelbänden hg. im Auftrag des Vorstandes der Brüder Grimm-Gesellschaft e.V. [Abt.] Briefe. Bd. 1: Briefwechsel mit Herman Grimm (einschließlich des Briefwechsels zwischen Herman Grimm und Dorothea Grimm, geb. Wild). Hg. und bearb. von Holger Ehrhardt. Kassel, Berlin: Verlag der Brüder Grimm-Gesellschaft e.V. 1998 [im folgenden zitiert als K 1], S. 6 (Vorwort zur Briefausgabe von Wolfgang Windfuhr und Martin Lauer).   zurück

4 Vgl. die Titelei von K 1 und K 2 sowie den angekündigten Band S 2: Briefwechsel der Brüder Grimm mit Karl Bartsch, Franz Pfeiffer und Gabriel Riedel (Anzeige in S 1 nach S. 803).   zurück

5 Vgl. schon Ulrike Marquardt: Zur Edition des Briefwechsels zwischen Jacob und Wilhelm Grimm. In: Der Brief in Klassik und Romantik. Aktuelle Probleme der Briefedition. Hg. von Lothar Bluhm und Andreas Meier. Würzburg: Königshausen & Neumann 1993, S. 83—91.   zurück

6 Vgl. Siegfried Scheibe: Probleme "erschlossener Briefe". In: Der Brief in Klassik und Romantik (Anm. 4), S. 13—26.   zurück

7 Vgl. Winfried Woesler: Vorschläge für eine Normierung von Briefeditionen. In: editio 2 (1988), S. 8—18, bes. S. 14—16.   zurück

8 Leider sind auch nur in Bd. 1 die editorischen Zeichen erklärt. In noch folgende Bände sollte auf jeden Fall eine zusammenfassende Aufstellung dieser Zeichen eingefügt werden, sonst bleibt es mühsam, die Bände separat zu benutzen.   zurück

9 Im Originaldrucktext vorhandene Langes-s-Schreibungen und Fußnotenziffern im Zitat nicht berücksichtigt.   zurück

10 Siehe K 2, S. 51, dort mit Verwechselung der Änderungsrichtung, aber richtigem Verweis auf die Beispiele in der zugehörigen Anm. 164.   zurück

11 Vgl. z.B. Friedrich Beck: Schrift. In: Die archivalischen Quellen. Eine Einführung in ihre Benutzung. Hg. von Friedrich Beck und Eckart Henning. (Veröffentlichungen des brandenburgischen Landeshauptarchivs 29) Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger 1994, S. 163—206, hier S. 205.   zurück

12 Ulrich Hussong: Beobachtungen zur Handschrift von Jacob Grimm. Zugleich Überlegungen zur Edition von Autographen des 19. Jahrhunderts. In: Archiv für Diplomatik Schriftgeschichte Siegel- und Wappenkunde 45 (1999), S. 423—440, hier S. 429.   zurück

13 C.F. Meyers Briefwechsel. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. von Hans Zeller. Bern 1998ff.; mit den Faksimiles der Handschriften: Bd. 1: Conrad Ferdinand Meyer [—] Gottfried Keller. Briefe 1871 bis 1889. Bearb. von Basil Rogger, Stefan Graber, Kurt Werder und Hans Zeller. Bern 1998; die Folgebände ohne Faksimiles.   zurück

14 Vgl. Winfried Woesler: Der Brief als Dokument. In: probleme der brief-edition. Kolloquium der Deutschen Forschungsgemeinschaft Schloß Tutzing am Starnberger See 8.—11. September 1975. Referate und Diskussionsbeiträge. Hg. von Wolfgang Frühwald, Hans-Joachim Mähl und Walter Müller-Seidel. (deutsche forschungsgemeinschaft. kommission für germanistische forschung. mitteilung II) Bonn-Bad Godesberg: Deutsche Forschungsgemeinschaft; Boppard: Boldt 1977, S. 41—59.   zurück