Ort über Baltzer: Das Soziale des Sozialen

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Nina Ort

Das Soziale des Sozialen

  • Ulrich Baltzer: Gemeinschaftshandeln. Ontologische Grundlagen einer Ethik sozialen Handelns. (Alber Thesen Philosophie, Band 3) Freiburg/München: Alber 1999. 415 S. Kart. DM 78,-.
    ISBN 3-495-47913-9.


Aktuelle Zeichen- und Kommunikationstheorien gehen alle explizit oder implizit von einer radikal-konstruktivistischen Fundierung aus, der zufolge Wirklichkeit ein kognitiv-interpretatives Konstrukt ist, über das kommunikativ oder interaktiv Konsens hergestellt werden muß und in meist ausreichendem Umfang auch hergestellt werden kann. Dieser Konsens bezieht sich nicht nur auf das Wissen, das kommunikativ validiert wird, sondern eben auch auf die kommunikative oder interaktive Kooperation der an der Konsensbildung Beteiligten selbst. Konsens und Dissens sind für das Gemeinschaftshandeln der scientific community relevante Faktoren. Diese Prämisse hat sich allgemein durchgesetzt und scheint, wo sie nicht insgesamt angezweifelt wird, nicht mehr sonderlich klärungsbedürftig. Intuitiv scheint darüber Einigkeit zu herrschen, was man sich unter Gemeinschaftlichkeit und Konsens vorzustellen habe. Gemeinschaftshandeln, Normgeltung, Akzeptanz, Konsens sind positiv konnotierte Begriffe und gerade aus diesem Grunde seltsamerweise wenig hinterfragt. Soziales Handeln, Konsens und Übereinstimmung sind gut und wünschenswert, die Bedeutung der Begriffe scheinen klar zu sein, sie lösen Zufriedenheit aus: hier gibt es scheinbar nichts zu deuteln.

Die sozialontologische Studie von Ulrich Baltzer über Gemeinschaftshandeln belehrt den Leser eines besseren. Präziser, als es in dieser Arbeit vorgeführt wird, kann die Frage nach den Bedingungen, den Kriterien und den Konsequenzen sozialen Handelns und einer darauf aufbauenden Sozialethik wohl kaum nachgespürt werden. Gerade die kritische Begriffsanalyse ermöglicht es Baltzer allererst, darüber hinaus allgemeine Grundlagen einer Ethik des sozialen Handelns zu formulieren.

Zum Forschungsvorhaben der Arbeit

Nun zu sagen, Baltzer schlösse mit seiner Arbeit eine Forschungslücke, wird der eigentlichen Leistung dieser Arbeit kaum gerecht, insbesondere angesichts der häufigen Verwendung dieser Phrase als (bisweilen einziger) Rechtfertigung so mancher wissenschaftlicher Elaborate. Dennoch: Baltzer macht eigentlich erst deutlich, wie gravierend und wie groß diese Lücke tatsächlich ist. In einer Forschungslandschaft, die weitgehend auf Kommunikations- und Beobachtungsmodellen beruht, bedeutet ein Modell des sozialen Handelns als Gemeinschaftshandeln mehr, als nur die Schließung einer Forschungslücke. Tatsächlich stellt das "[…] Mißverhältnis zwischen der Wichtigkeit und Ubiquität sozialer Prozesse und der geringen Intensität der diesem Bereich gewidmeten ethischen Theoriebildung" (S.18) ein Problem nicht nur für die Soziologie oder die Philosophie dar, sondern eben für alle Disziplinen, die mit Kommunikations-, Beobachtungs- oder Interaktionsmodellen, das heißt, mit sozialen Modellen arbeiten. Soziales Handeln, Kommunikation und Beobachtung werden herkömmlicherweise zumeist als individuelle Operationen rekonstruiert, deren Sozialität oder Gemeinschaftlichkeit dann erst nachträglich appliziert oder einfach behauptet wird. Deutlich wird dies zum Beispiel insbesondere in der (Luhmannschen) Systemtheorie, in der beinahe zynisch davon gesprochen wird, daß Kommunikationen Anschlußhandlungen konditionieren oder eben nicht.

Baltzer entwickelt in seiner Arbeit zunächst eine Sozialontologie, die nicht nur "einfach >Gemeinschaftshandlungen< als eine eigenständige ontologische Kategorie" (S.20) beschreibt, sondern darüber hinaus auch die Teilhandlungen einzelner Personen "als eigenständige ontologische Kategorie [wahrnimmt], die nur das sind, was sie sind, weil sie als Relat einer Bezogenheit zwischen Handlungen verschiedener Personen gefaßt sind" (S.20). Auf diese Weise gelingt es ihm zu bestimmen, was der Einzelne tatsächlich für eine Handlung als Beitrag erbracht hat. Baltzers grundsätzliches Anliegen ist es demnach, darzulegen, "daß Gemeinschaftshandlungen wesentlich die Relation von Teilhandlungen sind und sich nicht von individuellen Handlungen herschreiben, denen das Gemeinschaftliche eine äußerliche Zutat ist", wobei nicht mehr "das Relat (die jeweilige Komponentenhandlung) sondern die Relation (die abgestimmte Bezogenheit der Teilhandlungen aufeinander) […] den Fokus der Betrachtung" (S.392) bilden sollen. Teilhandlungen können erst dann überhaupt als Bestandteile eines gemeinschaftlichen Tuns individuiert werden, bzw. es kann auf diese Weise festgestellt werden, ob Handlungen überhaupt Komponenten von Gemeinschaftshandlungen sind oder nicht.

Auf der Basis dieser Sozialontologie soll eine Ethik des sozialen Handelns rekonstruiert werden können, die nicht "das ideale Konzept irgendeines paradiesischen Endzustandes" (S.392) vorwegnehmen muß, und deren Normen nicht "quasi von >oben herab<, aus der überlegenen Einsicht des Ethikphilosophen, verordnet werden" (S.394), sondern von der sozialen Praxis her Normen erst erklären kann. Die ausführliche Analyse der sozialontologischen Struktur gemeinschaftlicher Handlungen bedingt somit die Skizzierung der Grundlinien einer Sozialethik sowie Empfehlungen als Leitlinien für Gemeinschaftshandeln insbesondere in problematischen oder konfliktuösen Situationen. "Fehlt dieser soziale Handlungsbezug, kann die schönste Norm bestenfalls einen kontrafaktischen Aussagesatz ergeben, ohne wirklich Norm zu sein" (S.394).

Zum Aufbau der Arbeit

Baltzers Arbeit ist in vier Teile gegliedert. Das erste Paar leistet einen kritischen Überblick über den Stand der Forschung zunächst über sozialontologische und, daran anknüpfend, über sozialethische Themen. Das zweite Paar entwickelt eigene Konzeptionen einer Sozialontologie und, daran anknüpfend, einer Sozialethik.

Im ersten Teil wird die grundsätzliche Frage nach Gemeinschaftshandeln gestellt. Mit welchen Kriterien unterscheiden gängige Theorien sozialen Handelns zwischen gemeinschaftlichem oder nur (individuellem) zufällig parallelem Handeln? Baltzer formuliert schwerwiegende Einwände gegen verbreitete Konzeptualisierungen (von denen ich hier nur stichprobenhafte Beispiele wiedergeben kann) wie beispielsweise der Annahme von "gemeinsamem Wissen". Denn streng genommen impliziert der Begriff des gemeinsamen Wissens einen infiniten Regreß (vgl. S.42) von Überzeugungen über Überzeugungen der am Gemeinschaftshandeln Beteiligten übereinander oder über das jeweilige vorauszusetzende Wissen, der logisch nicht zu begrenzen ist.

Als ebenso unzureichend erweist sich Searles Begriff der "Wir-Intentionalität" zur Beschreibung sozialen Handelns, da dieser verlangt, Gemeinschaftshandeln müsse bei den Beteiligten eine auf dasselbe Ziel ausgerichtete Intention voraussetzen. Erstens setzt Gemeinschaftshandeln aber überhaupt keine Intention voraus (denn beispielsweise auch zielloses Beisammensein im Freundeskreis genügt den Kriterien für Gemeinschaftshandeln), und zweitens gibt es Gemeinschaftshandlungen, bei denen sich der Charakter der Gemeinschaftlichkeit und die Intentionalität erst im Nachhinein herausstellen. Auch die Unterscheidung zwischen individueller Intention und kollektiver Intention, die, Searle zufolge, in Gemeinschaftshandlungen spezifisch verknüpft würden, hilft nicht aus diesem Dilemma heraus. Als Beispiel beschreibt Baltzer, im Anschluß an Searle, das gemeinschaftliche Zubereiten einer Soße:

Wenn Müller als Teil der Soßenzubereitung rührt, ohne daß Schmidt Anstalten machen würde, seinen Teil zur Zubereitung beizutragen [Zutaten in die Schüssel geben, N.O.], muß Müller sich fragen, was er da eigentlich tue. Er kann sich nicht damit beruhigen, daß er eben rühre, denn ein schlichtes Rühren hatte er nicht vor. Er wollte rühren, um mit Schmidt zusammen eine Soße herzustellen. (S.69)

Ganz anders verfährt Systemtheorie, da sie gerade Intentionalität, Einstellungen etc. aus der Theorie verbannt. Aus der Systemtheorie übernimmt Baltzer einzig den Begriff des Anschlußhandelns, wohingegen er das systemtheoretische Modell ansonsten als (logisch) inkonsistent verwirft. Für den relevanten Zusammenhang der Konzeptualisierung von Gemeinschaftshandlungen verweist Baltzer auf die Vieldeutigkeit des Begriffs der Handlung in der Systemtheorie, da erst "[…] das Anschlußhandeln der andern am sozialen Zusammenhang beteiligten Personen bestimmt, welcher Handlungszusammenhang entsteht und daraus auch, welche einzelnen Handlungen erfolgt sind" (S.88). Inwiefern Anschlußhandlungen aber gemeinschaftliches Handeln konstituieren sollen, bleibt völlig ungeklärt, da Systemtheorie eben nur thematisiert, ob Anschlußfähigkeit vorliegt oder nicht.

Der Ursprungsmythos
von der freien Zustimmung autonomer Subjekte

In seiner Auswertung der Forschungslage zu sozialethischen Fragestellungen weist Baltzer deutlich auf, daß Ethikmodelle, die zumeist aus Individualethiken hervorgehen, eine Sozialethik notwendig auf der Annahme von Symmetrie, Gleichheit und Gerechtigkeit zwischen sozial Handelnden gründen muß. Wird von dem Individuum ausgegangen, so ist es gar nicht möglich, eine Sozialethik zu formulieren, die Asymmetrie in gemeinschaftlichen Handlungsrelationen vorsieht. Baltzer bezieht seine Kritik zunächst auf Kant und zeigt, daß Kants Verständnis gemeinschaftlichen Handelns "im Sinne des methodologischen Individualismus" (S.107) allenfalls zu einem Konzept des "Parallelhandelns" führen könne. Denn danach "wäre eine gemeinschaftliche Handlung zu fassen als Summe der von den einzelnen Individuen gepflegten Intentionen, Vorstellungen und Verhaltensweisen hinsichtlich dieser Handlung" (S.107). Parallelhandlungen können jedoch weder die kontextuelle Verschiedenheit derselben Handlung erklären, noch das Erlernen neuer Verhaltensweisen beschreiben. Insbesondere versagt das Konzept des Parallelhandelns dort, wo der "Unterschied zwischen dem falschen Gebrauch einer Regel und dem Nichtgebrauch dieser Regel" (S.109) erfaßt werden soll. Insgesamt muß einer auf Individualethiken basierenden Sozialethik jedoch vorgehalten werden, daß sie der Tatsache nicht gerecht werden kann, daß Gemeinschaften grundsätzlich aus "ungleichen" Teilnehmern besteht und Gemeinschaftshandeln sich daher grundsätzlich aus asymmetrischen Relationen konstituiert. Diese wichtige Bobachtung der grundsätzlichen Ungleichheit der an Gemeinschaftshandeln Beteiligten sowie der einzelnen Teilhandlungen, hätte Baltzer möglicherweise noch ausdrücklicher hervorheben können.

Honneths Begriff vom "Kampf um Anerkennung" (vgl. S.134 ff.) geht zwar von Asymmetrie aus, zielt jedoch auf Anerkennung. Da Anerkennung als wechselseitige Anerkennung gedacht werden muß, kann letztlich auch diese nur symmetrisch konzipiert werden. Streng genommen läuft das Erfüllen von Erwartungen, um dadurch Anerkennung zu erreichen, überdies auf eine tautologische Figur hinaus:

Als Gemeinschaftsmitglieder würden alle diejenigen Personen von den anderen Mitgliedern >anerkannt<, die den Erwartungen genügen, d.h., sobald jemand die Erwartungen erfüllt, ist er ein Gesellschaftsmitglied. Hier wäre >Anerkennung< überflüssig, weil die Eigenschaft, als Gesellschaftsmitglied zu zählen, mit dem Erfüllen sozialer Erwartungen einhergeht. Die Mitgliedschaft in der Gesellschaft kann dann aber keine normativen Implikationen haben, weil ein Abweichen von den Erwartungen ohne Verlust der Mitgliedschaft unmöglich ist. (S.142)

Wenn Anerkennung anderenfalls auch bei unvollständigem Erfüllen von Erwartungen gewährt wird, wird "völlig unklar, wodurch Anerkennung motiviert ist und welche Rolle die sozialen Erwartungen noch spielen sollen" (S.143).

Unter den Schlagwörtern von "Liberalismus" und "Kommunitarismus" werden die Geltungsbereiche von Normen als Grundlage gemeinschaftlichen Zusammenlebens diskutiert, denn Allgemeingültigkeit von ethischen Normen, wie sie der Liberalismus fordert, ist eine weitere aus der Individualethik notwendig resultierende Forderung. Zwar beschränkt demgegenüber der Kommunitarismus die Gültigkeit von Normen auf jeweilige konkrete Gemeinschaften, ihm mangelt es indes an einem Konzept genuin gemeinschaftlichen Handelns.

Baltzers Kritik an den von ihm vorgestellten sozialontologischen und sozialethischen Modellen möchte ich als unbestechliche Kritik bezeichnen, die weder von Sympathien oder Antipathien für oder gegen bestimmte Theorien gefärbt wird, noch vorgebracht wird, um den eigenen Ansatz zu profilieren. Die Kritik zeichnet sich ganz im Gegenteil durch eine sehr rational-logische Analyse der Modelle aus, die stets darauf bedacht ist, unbeirrt Inkonsistenzen oder Widersprüche aufzudecken und Folgefehler hochzurechnen. Dabei weist Baltzer unzureichende Erklärungsmodelle deutlich und scharf zurück, ohne jedoch im geringsten polemisch zu werden. Erst seine ebenso kühle und logische wie luzide Analyse von Modellen sozialen Handelns macht deutlich, wie aufgrund unreflektierter Begriffsverwendungen sich in diese Modelle subtile Folgefehler einschleichen, die zu teilweise gravierenden oder gar fatalen Konsequenzen führen, mit denen man möglicherweise "das krasse Gegenteil von dem [bewirkt], was bezweckt ist" (S.354).

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Das Ergebnis dieser ebenso ausführlichen wie umsichtigen Analysen bestehender Modelle macht deutlich, daß eine zu formulierende Sozialontologie mit einer Bestimmung des Konzepts einer sozialen Handlung eigentlich noch einmal ganz von vorne beginnen muß. Baltzer stellt deswegen den Begriff der Gemeinschaftlichkeit in den Mittelpunkt seiner Untersuchung und zeigt damit auf, das es nicht hinreicht, Gemeinschaftlichkeit als Ziel (gemeinschaftlicher) Handlungen zu formulieren. Gemeinschaftshandeln zeichnet sich vielmehr durch genuin aufeinander "abgestimmtes" Handeln aus (vgl. S.168 ff.).

Gemeinschaftshandlungen setzen sich also aus individuell verschiedenen Beiträgen zusammen, die durch Abstimmung aufeinander zwar von Beginn an gemeinschaftlich sind, deren jeweiliges Ergebnis jedoch weniger als Ziel formuliert (da es ja auch nicht-intentionales Gemeinschaftshandeln geben kann), sondern erst ex post evaluiert werden kann. Die Ontologie sozialen Handelns wird am Beispiel einer dezidiert asymmetrischen und nicht-intentionalen Beziehung zwischen Mutter und Kind exemplifiziert, die deutlich macht, daß gemeinschaftliches Tun stets von Abstimmungsreaktionen begleitet wird, die Abweichungen im Teilhandeln eines oder mehrerer Beteiligter kompensieren können.

Mit dem Begriff des >Passens< bzw. der >Abstimmung< eröffnet sich einerseits ein weites Feld von Problemen, nämlich was als >passend<, >angemessen<, >abgestimmt< gilt, denn von vornherein dürfte klar sein, daß diese Begriffe kontextabhängig sind, gilt doch beim Marschieren im Gleichschritt etwas anderes als >angemessene< Abstimmungsreaktion als in unserem Beispiel der Affektbestimmung zwischen Mutter und Kind. (S.169)

Das Konzept der abgestimmten Anschlußhandlungen erlaubt es, die Kontextualisierung von Gemeinschaftshandeln darzustellen, ohne diese behavioristisch als Handlungen nach bestimmten Verhaltensmustern zu rekonstruieren, da sich nur kontextuell erweist, ob eine Handlung als passend empfunden wird oder nicht. Die Kontextualisierung ermöglicht es ihrerseits dann, Episoden (nach Goffman) und Rahmen von Gemeinschaftshandlungen zu beobachten und aus diesen abzuleiten, welche Handlungen überhaupt einer Gemeinschaftshandlung zuzuordnen sind und welche nicht (– die also Individualhandlungen oder anderen Gemeinschaftshandlungen zuzuordnen wären). Innerhalb einer Episode ist es dadurch möglich zu zeigen, wie sich Gemeinschaftshandlungen erst im Verlauf zu dem entwickeln, als was sie im Ergebnis dann vorliegen.

Hier bietet sich Baltzer die Möglichkeit, die durch Kripke und Wittgenstein bekanntgewordene "Regelfolgeproblematik" zu überdenken. Gegen das in dieser Debatte geführte Argument, Normativität könne erst innerhalb sozialer Handlungen gegeben sein und diese Normativität basiere auf Konsens, macht Baltzer geltend, daß das soziale Moment nicht im Übereinstimmen (Konsens) besteht, da die einzelnen Teilhandlungen ja unterschiedlich (auch in ihren Intentionen) sein und eben nicht symmetrisch konzipiert werden können, wie dies der Konsens-Begriff nahelegt. "Richtig und Falsch [als Kriterien des Regelfolgens, N.O.] sind demnach keine Begriffe, die sekundär mit Handeln verknüpft wären oder in Form einer Klassifikation Handeln aufgeprägt würden, sondern sind Größen, die aus Handlungen erwachsen" (S.214 f.). Hier erweist sich die Stringenz der Baltzerschen Konzeption abgestimmter – und gegebenenfalls korrigierender – Anschlußhandlungen, da mit ihr dargestellt werden kann, "daß es Korrekturen geben muß, damit es Normativität geben kann" (S.215).

Übereinstimmung und Konsens werden üblicherweise als Grundlage von sozialem Handeln konzipiert. Hierdurch wird jedoch "das Soziale selbst zum Explanandum" (S.244) von "richtigem" oder "falschem" Regelfolgen. Diesem von Baltzer kritisierten Konzept zufolge dürfen Handlungen aber "keinen Gemeinschaftsbezug haben, weil aus diesen individuellen Handlungen, vermittels des Konsenses, gemeinschaftliches Handeln allererst konstituiert werden soll" (S.244). Baltzer differenziert zwischen einem schwachen und einem starken Konsens-Begriff, wobei der schwache aus seinem Entwurf von Gemeinschaftshandeln notwendig ausscheiden muß, da er nur die Gleichartigkeit einzelner Handlungen konstatiert (nicht aber erklärt) und somit im Grunde nur Parallelhandeln zum Thema hat.

Aber auch der starke Konsens-Begriff, der die Übereinstimmung von Gemeinschaftsmitgliedern darüber angibt, wie in bestimmten Situationen zu handeln sei, genügt ebenso wie der Begriff der Normatitvität nicht zur Beschreibung von Gemeinschaftshandeln, da auch er wieder von individuellen Einzelhandlungen ausgeht.

Konsens formuliert aus sozialethischer Sicht ein Ideal, daß es erst zu erreichen gilt. Von diesem Ideal auszugehen, würde aber bedeuten, einerseits zahllose Sonderregeln für solche Fälle formulieren zu müssen, in denen die Komponenten des so gedachten Konsensbegriffs (Freiheit, Gleichheit) nicht erfüllt sind, oder andererseits den Begriff insgesamt fallenzulassen, da ein Konsensbegriff ohne den Begriff von Dissens sinnlos bzw. überflüssig wird.

Um der im Konsens-Begriff implizierten Symmetrie zu entgehen, setzt Baltzer wiederum seine Konzeption des abgestimmten Handelns ein und zeigt damit, "daß die Akte, die den Konsens konstituieren, selbst gerade nicht schlicht gleichartig sind" (S.254):

Der Konsens entsteht, indem jeder Beteiligte einerseits sich am zu produzierenden Gesamtgeschehen orientiert und andererseits aus diesem Grunde sein Verhalten auf das Verhalten der anderen so einrichtet, daß deren Tun in derselben Weise individuiert wird, nämlich als auf das herzustellende Gesamte gerichtet und deshalb auf die anderen Teilhandlungen abgestimmt. Und diese Abstimmung ist es, die sich der Parallelität entzieht. (S.254)

Diese Darstellungen ermöglichen es Baltzer, im folgenden konservative und innovative Mechanismen im Gemeinschaftshandeln zu rekonstruieren. Evolution von Gemeinschaftshandeln kann dabei exakt durch die individuierten Teilhandlungen und die daraufhin abgestimmten Anschlußhandlungen beschrieben werden, die sich im Falle innovativen Handelns die Schwankungsbreite zunutze machen können, und die im Falle konservativen Handelns durch Ausgleichs- oder Korrekturhandlungen kompensiert werden.

Schließlich kann Baltzer aufgrund dieser Konzeption gemeinschaftlichen Handelns zwischen emphatischem Gemeinschaften und Zweckverbänden differenzieren, und erläutert am Beispiel dieser Differenz seine Annahme, daß Gemeinschaftshandeln nicht notwendig intentional sein muß. Wo emphatisches Gemeinschaftshandeln auf die Personenkonstellation der Beteiligten abhebt und deren gemeinschaftliches Tun sich in der schlichten Gemeinschaftlichkeit erfüllen kann ("Es ist egal, was wir unternehmen, oder ob wir überhaupt etwas unternehmen, Hauptsache wir sind beisammen!"), so ist nicht-emphatisches Gemeinschaftshandeln auf die Handlungsepisode konzentriert, wobei es unerheblich ist, wer an dieser Episode beteiligt ist. (vgl. S.284)

Die Prinzipien einer Sozialethik

Auf der Grundlage der so formulierten Sozialontologie baut Baltzer seine Sozialethik auf und stellt vier Prinzipien vor, die als Gerüst dieser Sozialethik fungieren. Das erste Prinzip stellt die bereits erwähnte Episodengliederung dar, die es allererst möglich macht, Handlungen als zu einer Gemeinschaftshandlung zugehörig zu beschreiben oder aber davon abzugrenzen.

Das Prinzip des "Bestandschutzes" (vgl. S.294 ff.) besagt im Kern, daß jede "(nicht-verbotene) Gemeinschaftshandlung […] gleichermaßen erhaltenswert [sei], um die normative Dimension überhaupt zu eröffnen oder erhalten zu können" (S.298). Das Prinzip des Bestandschutzes impliziert somit ein Prinzip des Minderheitenschutzes (vgl. S. 299), ohne dieses aber absolut festzuschreiben. Prinzipiell erhaltenswert sind Gemeinschaftshandlungen deswegen, da sie erforderlich sind, wenn es Normativität geben soll. Ein derart abstrakt formuliertes Prinzip bietet den Vorteil eines großen Spielraumes zur Beurteilung von Gemeinschaftshandlungen. Zwar sind dabei prinzipiell alle Gemeinschaftshandlungen wünschenswert, die nicht (ethisch) verboten sind, dennoch kann im Einzelfall entschieden werden, ob eine Gemeinschaftshandlung unterbleiben soll, um einem ethisch besser beurteilten Gemeinschaftshandeln Platz zu machen.

Ergänzt wird dieses Prinzip durch das Prinzip der "größtmöglichen Vielfalt" (vgl. S.299) von Gemeinschaftshandlungen, das neue und möglichst vielfältige Gemeinschaftshandlungen anregt. Die Begründung dieses Prinzips erfolgt wiederum durch logische Argumentation. Gesetzt die Situation, es gäbe zwei Gemeinschaftshandlungen, so sollte aufgrund des Prinzips des Bestandschutzes, eine der Gemeinschaftshandlungen nur entfallen, wenn dafür die andere erhalten bleibt. Hier werden aber beide Gemeinschaftshandlungen so aufeinander bezogen, daß von einem einzigen, übergeordneten Gemeinschaftshandeln gesprochen werden kann: Gemeinschaftlich wird abgestimmt, welche der beiden Gemeinschaftshandlungen zugunsten welcher anderen aufgegeben werden soll. "Zwei Gemeinschaftshandlungen sind eins und damit besser als keins. Mit demselben Argument läßt sich nun der Vorzug von drei Gemeinschaftshandlungen gegenüber zweien zeigen usw." (S.300)

Schließlich formuliert das Prinzip der "Umformung faktischer Handlungsbezüge in explizites Gemeinschaftshandeln" (vgl. S.302) allgemeiner die Kontextualisierung verschiedener Gemeinschaftshandlungen. Insofern vermutlich die meisten Handlungen Auswirkungen auf andere Handlungen haben, scheint es demnach empfehlenswert, diese Interdependenzen als übergeordnete aufeinander abgestimmte Gemeinschaftshandlungen aufzufassen und zu behandeln.

Leitlinien zur Auflösung von Konflikten

Anders als die Prinzipien sozialethischen Handelns verstehen sich die Leitlinien, die Baltzer als Empfehlungen dafür entwickelt, wie im Falle der Kollision innerhalb von oder zwischen verschiedenen Gemeinschaftshandlungen nach Maßgabe der Prinzipien vorgegangen werden könne.

Auch Kollisionen müssen folgerichtig, so sieht es der Entwurf Baltzers vor, kooperativ, das heißt, im Rahmen einer übergeordneten Gemeinschaftshandlung gelöst werden:

Die Auflösung [von Kollisionen von Gemeinschaftshandlungen, N.O.] wird nicht von ethischen Forderungen ausgehend übergestülpt, sondern erwächst aus einer sozialethisch begründeten Vorgehensweise, die den sachlichen und sozialen Erfordernissen der spezifischen Kollision Rechnung trägt, welche ja letztlich auch den Grund für die Komplexität des Kollisionsfalls bilden. […] Eine sozialethisch gerechtfertigte Kollisionsauflösung erfordert, daß diese als kooperativer Prozeß von den Beteiligten durchgeführt wird. (S.344 f.)

Zum anderen gilt es, möglichst viele Handlungen in ein Gemeinschaftshandeln zu integrieren, das heißt, die Grenzen oder den Rahmen einer Episode möglichst weit zu fassen oder gegebenenfalls zu erweitern. Dies ermöglicht es, Handlungen eventuell allererst als Beiträge zu einem bestehenden Gemeinschaftshandeln zu erkennen, das heißt, bestimmte (Ein-)Wirkungen als genuine Teilhandlungen eines gemeinsamen Handelns zu rekonstruieren. Die Logik der Leitlinien ergibt sich dabei exakt aus den formulierten Prinzipien der Sozialethik.

Umgekehrt dienen auch Verbote von Teilhandlungen oder Gemeinschaftshandlungen als ganze dazu, den oben formulierten Prinzipien zu entsprechen. Sie werden also nur dort notwendig, wo der Bestand oder die Vielfalt von Gemeinschaftshandlungen bedroht oder wo Gemeinschaftshandelns (mit denselben Folgen) parasitär ausgenutzt wird.

Um Kollisionen von Gemeinschaftshandlungen gemäß der hier dargestellten Leitlinien aufzulösen, wird jeweils ein Paradigma benötigt, unter dem die kollidierenden Gemeinschaftshandlungen überhaupt miteinander verglichen werden können, anders ausgedrückt, um das Durchsetzen einer Gemeinschaftshandlung und das damit verbundene Verzichten auf das andere Gemeinschaftshandeln miteinander verrechnen zu können. Diese Paradigmen, die im konkreten Kollisionsfall vermutlich sehr abstrakt sein werden, können kontextuell konkreter gefaßt werden:

Anders als bei einer Universalisierung, die ein formales Kriterium unabhängig von dem jeweiligen Anwendungsfall postuliert, wird das hier vorgeschlagene ethische Verfahren der Tatsache gerecht, daß wir in unterschiedlichen Lebensbereichen äußerst differente Kriterien zur Rangfolgenbildung anwenden und für angemessen halten. (S.338)

Wird demgegenüber Rangfolgenbildung als ein übergeordnetes Gemeinschaftshandeln aufgefaßt, so bedeutet der Verzicht der einen Gruppe Gemeinschaftshandelnder zugunsten der anderen Gruppe nun einen eigenständigen, kooperativen Beitrag zu einem neuen Gemeinschaftshandeln, das nämlich das Zustandekommen des anderen Gemeinschaftshandelns durch abgestimmtes Teilhandeln unterstützt.

Am Beispiel zweier Extremformen regional gebotener Kooperation, dem Parasitismus und der Abtreibung, wird das Modell der Sozialethik zum Schluß noch einmal einer Prüfung unterzogen und Sanktionen und deren Zuordnung auf die Beteiligten als Folge sozialethisch unzulässiger Handlungen diskutiert.

Exkurs: Das Fehlen der Systemtheorie
in der Theorie des sozialen Handelns

Baltzer widmet seiner Kritik an der Systemtheorie nur 10 Seiten. Angesichts der Prominenz und Popularität von (Luhmannscher) Systemtheorie als einer Theorie sozialer Systeme, erlaube ich es mir an dieser Stelle, im Ausgang meiner Lektüreeindrücke, kurz darzustellen, inwiefern dieses Buch verdeutlicht, daß es Systemtheorie an einer wesentlichen Komponente mangelt: Sie ist eine Theorie sozialer Systeme, die unfähig ist, das Soziale des Sozialen zu beschreiben.

Insofern Systemtheorie ausdrücklich nicht ontologisch argumentiert ist sie natürlich für die Frage nach einer Sozialontologie (geschweige denn einer Sozialethik) nicht zuständig. Zumindest die Luhmannsche Systemtheorie hat hier zur Konkretisation des Begriffs der "Anschlußhandlungen" außer allgemeinen Annahmen wie der von struktureller Kopplung oder von Formen der Interpenetration zwischen Systemen wenig anzubieten. Außer der prinzipiellen "Intention" des je eigenen Systemerhalts durch Autopoiesis kann darüber hinaus Systemen auch nur schwer ein differenzierter Begriff von Intentionalität oder Motivation, geschweige denn von Ethik oder Moral von Systemoperationen zugedacht werden. In das Modell von Baltzer übersetzt würde dies bedeuten, daß ein soziales System schlicht und tautologisch Autopoiesis betreibt, um sich selbst zu erhalten.

Schwerwiegender ist meines Erachtens, daß Systemtheorie kein Begriff des Sozialen im Sinne von Gemeinschaftlichkeit zur Verfügung steht. Baltzer nennt als ein Beispiel das Marschieren von Soldaten, bei dem jeder Marschierende seinen Marschierbeitrag ständig mit dem Marschieren der anderen korrigierend abstimmen muß, damit ein gemeinschaftliches Marschieren zustandekommt. Systemtheorie wäre nun allenfalls fähig, "gelungenes Marschieren" zu beobachten, also das erfolgreiche Ergebnis einer Gemeinschaftshandlung. Aus dem Tritt geratenes Marschieren würde Systemtheorie dann eben gar nicht als Marschieren beobachten. Systemtheorie sieht demnach keine Theoriestelle für die konstituierenden Teilhandlungen von Gemeinschaftlichkeit vor. Somit wird aber geradewegs jener "hypertrophe Anspruch allgemeiner und ewiger Prinzipien" (vgl. S.395) im Sinne von Möglichkeitsbedingungen weiterhin erhoben, da Systemtheorie symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien voraussetzen muß, anhand derer die Funktionalität der Teilhandlungen dann validiert werden kann. Die generalisierten Kommunikationsmedien, die hierbei die Abstimmung von Teilhandlungen leisten, lassen somit zwar in den Blick geraten, wenn gleichartige Handlungen erfolgen, können aber genau das Gemeinschaftliche dieser Handlungen nicht beobachten.

Zum Abschneiden von Bärten

Mit seiner Arbeit unternimmt Baltzer m.E. nicht weniger, als eine Art Grundgesetz für soziales Handeln, für Gemeinschaftshandeln zu entwerfen. Nicht zuletzt deswegen ist dieses Buch, bei aller kritischen Schärfe, durchgehend positiv und konstruktiv. Darin liegt der ebenso bestechende wie beeindruckende Aspekt seiner Arbeit, da aufbauend auf den hier definierten Grundlagen sozialen Handelns ein Katalog von Leitlinien (die Baltzer als Empfehlungen anbietet) erarbeitet werden, die bündig ineinandergreifen und mit zwingender Logik auseinander hervorgehen. Sozialethisches Handeln kann nach diesen Vorschlägen gewissermaßen wie unter Zuhilfenahme einer logischen und dennoch luziden Matrix validiert werden, wenn nur mit der gebotenen logischen Strenge argumentiert wird.

Der Vergleich mit dem Grundgesetz erscheint mir auch aus dem Grund gerechtfertigt, als das Grundgesetz gewissermaßen als Metagesetz, als Rahmen für unsere Gesetzgebung rekonstruiert werden könnte: in diesem Sinne formuliert auch Baltzer einen sozialethischen Rahmen, innerhalb dessen "regionale", das heißt, kontextuierte ethische Urteile über Gemeinschaftshandeln gefällt werden können. Dabei erfüllt Baltzer mit seiner eigenen Argumentation eine weitere wissenschafts-ethische Forderung, nämlich die von Ockhams Rasiermesser. Seine Analyse und Rekonstruktion einer Sozialontologie und -ethik wird dadurch elegant, daß sie auf einigen wenigen perfekt ineinandergreifenden logischen Schlüssen aufbaut, die keine Zusatzregeln benötigen.

Gemeinschaftshandeln bzw. die Grundlagen einer Ethik sozialen Handelns betrifft nicht zuletzt die Wissenschaft und die scientific community, insbesondere dann, wenn sie, wie in aktuellen wissenschaftlichen Sichtweisen inzwischen üblich, ohnehin weniger mit der Annahme objektiv gültiger Wahrheiten und daraus resultierender Normerwartungen operiert, sondern von der Notwendigkeit einer kommunikativ und mithin sozial zu erreichenden Konsensbildung ausgeht. Baltzers Buch ist ein Beitrag zum Verständnis von Gemeinschaftshandeln, das nicht auf einen normativen, abstrakten und letztlich idealistischen Konsensbegriff angewiesen ist, wie ihn beispielsweise Habermas und Apel unter dem Begriff der &;quot;Diskursethik" stipulieren, die aber, wie Baltzer bemerkt, "einen großen Teil unseres sozialen Lebens, das (gerechtfertigt) durch Ungleichheit gekennzeichnet ist, nicht adäquat erfassen." (S.354)

Eine letzte Anmerkung und ein letztes Lob gilt der sorgfältigen Einrichtung des Buches, das sich durch angenehmes Papier und schönen Satz auszeichnet – zunehmend eine Seltenheit am wissenschaftlichen Buchmarkt.


Dr. Nina Ort
Institut für deutsche Philologie
Ludwig-Maximilians-Universität München
Schellingstraße 3
D-80799 München

Ins Netz gestellt am 10.07.2001
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