Ort über Nickel-Bacon: Schmerz der Subjektwerdung

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Nina Ort

Schmerzhafte "Biophilie"

  • Irmgard Nickel-Bacon: Schmerz der Subjektwerdung. Ambivalenzen und Widersprüche in Christa Wolfs utopischer Novellistik. (Studien zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Studies in Contemporary German Literature, 12) Diss. Uni Köln. Tübingen: Stauffenberg 2001. 320 S. brosch. EUR (D) 50,50.
    ISBN 3-86057-218-0.


In ihrer Dissertation interpretiert und vergleicht Nickel-Bacon die beiden Novellen Kein Ort. Nirgends und Kassandra von Christa Wolf mit dem Ziel, die bisher vorliegenden, "vereinfachenden" Interpretationen (vgl. S. 15 et passim) dieser Texte zu korrigieren und zu ergänzen. Sie konzentriert sich dabei auf das poetologische Verfahren und das Motiv der Subjektwerdung Christa Wolfs, ohne sich in die politischen Kontroversen um die viel gelobte und viel gescholtene Autorin einzuklinken. Die beiden ausgewählten Novellen gestatten es, sich explizit mit der introvertierten Auseinandersetzung einer Frau in verschiedenen, teilweise fiktional entworfenen Gesellschaftsformen zu beschäftigen, die weniger mit dem historisch-politischen Hintergrund des Schreibens der Christa Wolf zu tun haben, als vielmehr mit der individuellen und persönlichen Form der Selbstfindung und Selbstwerdung. Das Selbstbild, das auf diese Weise entworfen und entwickelt wird, bildet dann erst die Grundlage, auf der eine Selbstpositionierung in der historisch-politischen Wirklichkeit möglich sein könnte.

Diesen sehr komplexen und feingliedrigen Entwicklungslinien nachzuspüren ist Nickel-Bacons Anliegen, und ihr Verfahren ermöglicht es ihr, die in der Forschung übliche "These einer simplen Ablösung des Marxismus durch Romantik und Psychoanalyse" (S. 15) als reduktiv zurückzuweisen. In den beiden Erzählungen gehe es viel mehr um die Subjektwerdung der Frau in einem weiblich-feministischen, insbesondere aber psychologisch humanistischen Rahmen.

Theoretische
Vorüberlegungen

Die Dissertation ist im wesentlichen in zwei etwa gleich große "Hauptteile" gegliedert. Während es im ersten Hauptteil um theoretische Vorüberlegungen geht, die sich zum einen mit Christa Wolfs in Lesen und Schreiben sowie den Frankfurter Poetik-Vorlesungen entwickelten poetologischen Überlegungen, zum anderen mit allgemeinen Darstellungen des Kunst- und Subjektmodells im "realen Sozialismus" sowie in der Psychoanalyse und der "Humanistischen Psychologie", aber auch um Modelle feministischen Schreibens am Beispiel der écriture féminine beschäftigen, geht es im zweiten Hauptteil dann um die interpretative Relektüre der beiden Novellen im engeren Sinne.

Diese Gliederung fächert daher zunächst eine Vielzahl verschiedener theoretischer Modelle auf, die alle konstitutiv für das Schreiben Christa Wolfs sind. Die Themen – im wesentlichen marxistische respektive realsozialistische Kulturtheorie und -politik, Psychoanalyse bzw. "Humanistische Psychologie" sowie weibliche bzw. feministische Subjektwerdung – werden zunächst ausführlich vorgestellt und im zweiten Hauptteil dann an den konkreten literarischen Texten noch einmal durchgespielt. Die sich hierdurch ergebenden Wiederholungen helfen dabei durchaus, den Überblick zu bewahren.

Der erste Hauptteil ist seinerseits untergliedert in eine mit theoretischen Reflexionen durchsetzte Darstellung des Essays Lesen und Schreiben aus dem Jahr 1968. Hier werden verschiedene Subjektmodelle vorgestellt, die zur Selbstverwirklichung und Selbsterfahrung Christa Wolfs beigetragen haben. Der zweite Teil des ersten Hauptteils beschäftigt sich dann konkreter mit dem "Schreiben als weibliche Subjektwerdung" (S. 86), dargestellt an den Überlegungen Christa Wolfs in ihren Frankfurter Poetik-Vorlesungen aus dem Jahr 1983.

Selbsterkundung setzt Christa Wolf um durch eine Abkehr des vom sozialistischen Realismus geforderten Schreibstils zugunsten ihrer Versuche, das schreibende und erzählende Subjekt zum Mittelpunkt des Schreibprozesses zu machen. Dies bedeutet, dass psychoanalytische Annahmen über verdrängte Bewusstseinsinhalte und Erinnerungen eine zentrale Stellung im selbstverwirklichenden Schreibprozess einnehmen, gleichwohl betont Nickel-Bacon von vornherein, Christa Wolf beziehe sich insbesondere auf "die Vielschichtigkeit subjektiven Erlebens, das sie jedoch nicht auf die Wahrnehmung der äußeren Wirklichkeit beschränkt, sondern auch auf Phantasien und Träume bezieht." (S. 25). Wichtig ist Nickel-Bacon die Feststellung, Christa Wolf teile "Freuds Reduktion der Phantasietätigkeit auf die Libido" (S. 26) nicht, sondern stünde "dem Menschenbild der Humanistischen Psychologie näher" (S. 27). 1

Solche individualistischen Selbsterkundungen widersprechen dem marxistischen Subjektbegriff des realen Sozialismus, von dem sich Christa Wolf selbst nur in zunächst tastenden Schritten distanziert. Diese emanzipatorischen Schritte beschreibt Nickel-Bacon in einem Exkurs über die sich im Laufe der Jahre immer wieder verändernde Kulturpolitik der DDR. Psychologisierend wird der "klassisch neurotische" oder "autoritäre Charakter" der DDR beschrieben, wobei Christa Wolfs Reaktion auf diesen bedeutet, dass ihre Selbstfindung ein "Weg der Selbsterkundung als Erkundung autoritärer Strukturen des Selbst" (S. 48) wird, die sie selbst verinnerlicht hatte. Dennoch bilde das "liberalisierte Realismuskonzept [...] den Hintergrund der Erzählprosa, um die es in dieser Arbeit geht." (S.57)

In einem weiteren Exkurs, der sich kritisch mit der Psychoanalyse Freuds auseinandersetzt, wird literarische Phantasie als "humane[s] Potenzial" (S. 59) rekonstruiert. Der prinzipielle Vorwurf an die Freudsche Psychoanalyse lautet hierbei, diese reduziere Kreativität auf pathologischen Prozesse. Demgegenüber hält Nickel-Bacon die Ansichten der Humanistischen Psychologie für angemessener, der zufolge es keine eigentliche Verdrängung gebe, sondern vielmehr ein zu integrierendes Potenzial: "Damit liegt ein positives Menschenmodell vor, das eine prospektive Modellierung des künstlerischen Schaffens erlaubt." (S. 63)

Zu kritisieren ist hierbei Nickel-Bacons affirmative und unkritische Übernahme der Humanistischen Psychologie und insbesondere der Frommschen Position, bei der man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, sie habe versucht, gleichsam in Christa Wolfs Psyche zu schlüpfen, um deren – mögliche – Frommrezeption nachzuvollziehen. Somit ist es dann auch undenkbar, dass Nickel-Bacon ein anderes Verständnis der Freudschen Psychoanalyse entwickeln kann, als das, welches sich aus der Perspektive ihrer Gegner ergibt, und die sich wohl in der Schule Erich Fromms insbesondere darauf bezieht, dass bei Freud der Psychismus als konfliktuös, reduktiv (Libidotheorie) und insgesamt negativ dargestellt werde, und dass sie die "natürlich gegebene[ ] Selbstvervollkommnungstendenz des einzelnen Menschen" (S. 69) sowie auch dessen grundsätzliche "Liebe zum Leben" (S. 75) verkenne. 2

Die Beschäftigung mit dem Unbewussten hat nicht, wie bei Freud, den Charakter der Reduktion auf unterdrückte Triebimpulse, sie hat vielmehr die prospektiv-finale Funktion einer Wiederentdeckung des eigenen Selbst und der persönlichen Authentizität. (S. 77)

Hierbei muss allerdings die Frage gestattet sein, woher jene Authentizität denn kommen solle, die es wiederzuentdecken gelte. Vielleicht muss man diese Frage an die Humanistische Psychologie zurückgeben, die bei völlig anderer Vorgehensweise und Zielgebung in der Theorie, die Freudsche oder Lacansche Psychoanalyse zwar ablehnen, aber eigentlich nicht kritisieren kann. Denn insbesondere hinsichtlich des theoretischen Amalgams aus Psychoanalyse, Soziologie, Religion und Marxismus, aus dem Erich Fromms Modell sich zusammensetzt, kann man sagen, dass die Ziele seiner Theorie, nämlich kreative Potenziale im Menschen zu befreien, und die Ziele und Aufgaben der Psychoanalyse einfach keine Vergleichsbasis haben.

Christa Wolf schlägt hier, so Nickel-Bacon, einen Weg ein, der einen Kompromiss darstellt zwischen den Vorstellungen der gesellschaftlichen Entwicklung des realen Sozialismus und der Betonung des "Eigenwert[s] der einzelnen Persönlichkeit" (S. 82). Dabei berufe sich Christa Wolf durchaus auf das Unbewusste, "doch ist das in Lesen und Schreiben entworfene Unbewusste nicht Triebnatur, sondern emotionales Potenzial, das dem empfindsamen Subjekt prinzipiell zugänglich ist." (S. 84.)

Weibliches Schreiben

In den Frankfurter Poetik-Vorlesungen entwickelt Christa Wolf neue Erzählstategien, wobei Texte als "ästhetische Gewebe" aufgefasst werden, die offene, heterogene Strukturen bilden, die es erlauben "lebendige Erfahrung" aufzuschreiben, und auf diese Weise den "Diskurs des kulturkritischen weiblichen Schreibens" (S. 87) sowie des "zivilisationskritischen feministischen" Schreibens zu ermöglichen. Gleichzeitig weicht der Optimismus aus Lesen und Schreiben einer pessimistischen Zeitdiagnose einer "destruktiv werdende[n] Rationalität und instrumentalem Denken" (S.89), die Nickel-Bacon in Zusammenhang mit der Zivilisationskritik von Adorno und Horkheimer, vor allem in der Dialektik der Aufklärung sieht. Diesem Buch wird deswegen ein eigener Exkurs gewidmet.

Aus ihm übernimmt Nickel-Bacon eine "Denkfigur", die "auch auf das Verhältnis von Mann und Frau bezogen [wird], wobei die Frau dem Natürlichen, der Mann der Zivilisation zugeordnet wird." (S. 94) Christa Wolf wehre sich gegen die "Degradierung zum Objekt" (S. 97) durch Selbsterfahrung, auch der leidvollen Selbsterfahrung des Schmerzes, der aus dieser Degradierung resultiert. In diesem Zusammenhang widmet Nickel-Bacon einen weiteren Exkurs Erich Fromms Anatomie der menschlichen Destruktivität, da sie dessen Ideen über die "Selbstverwirklichung durch Liebe und schöpferische Tätigkeit" (S. 99) sowie seinen Begriff der "Biophilie" für zutreffende Beschreibungen der Poetologie Christa Wolfs hält. Feminismus und Marxismus seien für Christa Wolf die Basis, auf der sie ihre Utopie der "unterdrückten weiblichen Liebe zum Leben und für die ganze Menschheit" (S. 110f.) aufbaue. Insbesondere die Kassandra-Figur eigne sich zur Darstellung des Schmerzes "über die soziokulturell bedingte Verletzung der weiblichen Würde" (S. 113).

In einem Exkurs über die écriture féminine wird auf wenigen Seiten Lacan ins Spiel gebracht, zugleich aber auch Julia Kristevas Interpretation des psychoanalytischen Modells, wobei Nickel-Bacon konstatiert, Kristeva dynamisiere "den starren Subjektbegriff Lacans" (S. 119) – eine starke Behauptung, insbesondere, da der angeblich starre Subjektbegriff Lacans nicht näher besprochen wird. Lacan wird jedenfalls grundsätzlich missverstanden, wenn Nickel-Bacon schreibt, "für Lacan [stellen] Einbrüche des Unbewussten in die Sprache grundsätzlich eine Störung der als homogen angesetzten symbolischen Ordnung [dar] und [müssen] daher ausgeschlossen werden" (S. 120). Ausgehend von diesem Missverständnis beschreibt Nickel-Bacon die Bedeutung der Kreativität, die aus dem Chaos des Unbewussten befreit werden könne, und die auch Christa Wolf als Basis weiblichen Schreibens diene.

Auf diese Weise entwickelt Christa Wolf eine Poetologie, die durchaus als neomarxistisch zu bezeichnen sei, wobei diese neomarxistische Position mit feministischen, humanistischen und psychoanalytischen Aspekten angereichert sei; unter psychoanalytischen Aspekten sind wiederum die Annahmen der Humanistischen Psychologie zu verstehen. Eine Ästhetik der Vieldeutigkeit entwickelt Christa Wolf durch das gewebeartige Schreiben, wobei heterogene Aspekte "pluralistisch-demokratisch" und nicht "hierarchisch-unterordnend" (S. 144) entfaltet werden.

Narrative Subjektmodelle:
Günderrode, Kassandra
und Christa Wolf

Der zweite Hauptteil beginnt mit einer Untersuchung der narrativen Subjektmodelle in Kein Ort. Nirgends. Nickel-Bacon beschreibt dabei gemäß ihrer Interpretation der Dialektik der Aufklärung den bürgerlichen Salon als den "Ort, an dem die festgelegten Rollen des selbstentfremdeten Mannes und der verdinglichten Frau" S.159) auftreten, in strenger Abgrenzung zu den beiden Außenseiter-Figuren Günderrode und Kleist, sowie der Erzählinstanz, die sich zwischen diesen beiden Außenseiterpositionen nicht eindeutig zuordnen lässt. Während Kleist im Versuch seine Identität zu erringen scheitert, verweigert Günderrode radikaler jeden Anpassungsversuch an die Gesellschaft und versteht den Schmerz, den ihre Außenseiterposition mit sich bringt, als "menschliches Potenzial" (S. 163).

Nickel-Bacon wiederholt nun in der konkreten Interpretation der Novelle Kein Ort. Nirgends ihre im ersten Hauptteil herausgearbeiteten theoretischen Befunde. Immer wieder stellt sie beispielsweise fest, dass Christa Wolf das Freudsche Modell des konfliktuösen Psychismus, der zwischen Triebnatur und Sublimierung hin- und hergerissen ist, um eine "historische Dimension" (S.167) erweitere und gesellschaftliche Zwänge für eben diese psychischen Konflikte verantwortlich mache. Adorno / Horkheimer und Erich Fromm dienen ihr dabei als Verfechter psychoanalytischer Theorien, die weniger "reduktiv" seien als die von Freud aber auch Lacan. 3 Die Weigerung Günderrodes und in gewisser Weise auch Kleists, sich in die konventionellen Rollenschemata einzufügen, beschreibt Nickel-Bacon ebenfalls in expliziter Ablehnung der Freudschen Psychoanalyse: "Ihr [Christa Wolfs; N.O.] Konzept der Leidenschaft entspricht eher der Modellierung durch Erich Fromm, der Leidenschaften durch das existentielle Bedürfnis motiviert, sich in der Welt "zu Hause zu fühlen"." (S. 171)

Günderrode sei es schließlich, die zu Authentizität gelange, zu einer "demokratischen Persönlichkeitsstruktur" (S. 182) – im Gegensatz zu dem "psychoanalytisch fundierten hierarchischen Persönlichkeitsmodell" (ebd.) – und zwar indem sie ihren Gefühlen folgt. "Als theoretischer Hintergrund dieser Erzählstrategie tritt feministische Zivilisationskritik an die Stelle des Marxismus, Selbsterfahrung an die Stelle von Klassenkampf." (S. 197) Günderrodes Selbstmord wird daher als "Akt der Freiheit" (S.204), konkret als "Akt der Befreiung vom Objektstatus" (S. 205) und noch mehr, als "letzte Dichtung" und "in Ästhetik transponiert" (S. 208) gedeutet. Weibliche Authentizität beschreibt Nickel-Bacon schließlich als "Hinwendung zum (weiblichen) Kreativitätsprinzip der Versöhnung und Integration." (S. 212.)

Ähnlich verhält es sich mit der weiblichen Subjektwerdung und Autorschaft in der Novelle Kassandra. Auch dieser narrativ komplexe und mehrdeutige Text sei in der literaturwissenschaftlichen Forschung bislang nur reduktiv, insbesondere literatursoziologisch oder aber feministisch interpretiert worden. Auch erwähnt wird die Lacansche Kassandra-Rezeption, die Nickel-Bacon als "meist emphatische[ ] Wiedererkennungen Lacan'scher Subjektkritik" (S. 217) beschreibt. Gegen die in der Kassandra-Rezeption geäußerten Vorwürfe, die Erzählung bleibe hinter den in den Poetik-Vorlesungen gemachten Versprechen zurück, nimmt Nickel-Bacon Christa Wolf in Schutz, indem sie auf die "möglicherweise ästhetisch produktive Spannung" (S. 220) hinweist, die hieraus für das Kassandra-Projekt insgesamt erwüchse, und die sich in der heterogenen und teilweise widersprüchlich organisierten Novelle fortsetze.

Kassandra durchlaufe verschiedene Stadien der Subjektwerdung, die allesamt Versuche darstellen, sich innerhalb des patriarchalischen Herrschaftsprinzips in einer angemessenen Rolle wiederzufinden und letztendlich in Selbst- und Realitätsverlust enden. In "hysterisch-psychotische[n] Anfälle[n]" (S. 234) artikuliert sich Kassandras "unterdrücktes Selbst" (ebd.), wobei allerdings unklar bleibt, wie Hysterie und Psychose als ein Krankheitsbild verstanden werden könnten, denn kurz darauf wird Kassandra als "psychotische Hysterikerin" (S. 238) bezeichnet. 4

Auch hier geht es jedenfalls wieder darum, dass Kassandra verdrängte Inhalte aus dem Unbewussten ins Bewusstsein hebt und somit allmählich zu ihrer Authentizität findet, diese Inhalte werden aber wiederum nicht "als verdrängter Trieb im Sinne der Psychoanalyse" (S. 241) verstanden, sondern als "die Integration von Unbewusstem und Bewusstem, von Gefühl und Vernunft." (ebd.) Schließlich lasse Christa Wolf ihre Kassandra-Figur allerdings die weibliche Identität zugunsten einer "menschliche[n] im Sinne des Humanismus und der Würde aller Menschen" (S. 242) aufgeben, die, so Nickel-Bacon, dem Frommschen Konzept der "Biophilie" entspreche. Erst angesichts des Todes und damit jenseits aller sozialen Bindungen kann Kassandra für sich selbst sprechen (vgl. S. 261). Die Todeserwartung ermöglicht auf diese Weise die Selbstwerdung Kassandras. Nickel-Bacon weist darauf hin, dass Kassandra erst durch die Erzählung zu dieser Position gelange und nicht, wie in der "literaturwissenschaftlichen Rezeption verkürzt wird" (S. 265), von vornherein todesbereit sei.

Nickel-Bacon beruft sich auf feministische Theoretikerinnen wie Kristeva und Bronfen um darzustellen, inwiefern weibliches Schreiben "gefährlich" sei (vgl. S. 271) und Kassandra nur "im Kontext feministischer Theoriebildung und einer Schreibpraxis in der Tradition Ingeborg Bachmanns" (S. 278) verstanden werden könne.

Tendenziell ordnet Nickel-Bacon die von ihr so kritisierten Freudschen Kategorien und pathologischen Schwächen den Männern zu, die Frommsche "Biophilie" wird als typisch weiblich dargestellt. Auch wenn "in Kassandra humanistische Subjektutopie und totale Resignation angesichts einer mörderischen Zivilisation" (S. 293) nebeneinander stehen, so muss man sich doch fragen, ob nicht ein wenig kritische Distanz zu diesem auf Geschlechterkampf beruhenden Gesellschaftsmodell eingenommen werden sollte.

Fazit

Überzeugend stellt Nickel-Bacon den komplizierten und vielschichtigen Prozess der Subjektwerdung in Christa Wolfs Novellistik als einen schmerzhaften dar. Die im Untertitel ihres Buchs genannten "Ambivalenzen und Widersprüche" hingegen werden nicht deutlich. Zwar gelingt eine Relativierung und Differenzierung der Subjektwerdung, die verschiedene Aspekte und Schattierungen zwischen den großen Themen Marxismus und Psychologie aufzeigt, die eigentlichen Widersprüche finden sich indessen eher in der Diskussion der der Wolfschen Poetologie zugrunde liegenden Theorien.

Als reduktiv erscheint mir hierbei die durchgängige Konstruktion von Oppositionen theoretischer Vorannahmen – dichotomisiert werden insbesondere Patriarchat, Männlichkeit, Rationalität, Freudsche Psychoanalyse, gesellschaftliche Praxis mit den Attributen des Despotischen, Hierarchischen, Autoritären, Verdrängenden versus Humanismus, Weiblichkeit, Natürlichkeit und Emotionalität, Humanistische Psychologie mit den Attributen des Demokratischen, Heterarchischen, Potenziale Fördernden. Eine derartige Dichotomisierung erscheint einigermaßen suggestiv, zumal nirgends plausibilisiert wird, inwiefern beispielsweise die Freudsche Psychoanalyse im politischen Sinne "undemokratisch" sei, oder inwiefern etwa die DDR, das Patriarchat, die Freudsche Psychoanalyse und die westliche Zivilisation gleichermaßen "autoritär" seien.

Als die Theoretiker, die auf Christa Wolfs Werk Einfluss gehabt haben mögen, bezeichnet Nickel-Bacon insbesondere Adorno und Horkheimer sowie Erich Fromm. Worin ihre Arbeit nicht überzeugt, ist die kritiklose Übernahme ihrer Annahmen. Dadurch gerät das Buch zu einem Plädoyer für die Gesellschaftskritik der Frankfurter Schule sowie der Humanistischen Psychologie bzw. des "Biophilie"-Begriffs von Erich Fromm. Mehr noch, unter der Perspektive dieser Theorien und bis in die Begrifflichkeit hinein formuliert Nickel-Bacon ihrerseits Kritik beispielsweise an der Kulturpolitik der DDR und der patriarchalischen Gesellschaft.

Meines Erachtens wäre es sinnvoller gewesen, aus einer kritischen Distanz das von diesen Theoretikern beeinflusste Schreiben Christa Wolfs zu erklären, als – dieser Eindruck drängt sich schließlich auf – ihr Schreiben durch die eigene Affirmation dieser Theorien zu rechtfertigen. Der grundsätzlich interessante Ansatz, Christa Wolfs Poetologie und ihre Novellistik vor dem Hintergrund dieser Theorien zu rekonstruieren leidet unter dieser kritiklosen Perspektivierung.


Dr. Nina Ort
Ludwig-Maximilians-Universität
Institut für deutsche Philologie
Schellingstraße 3
80799 München
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Ins Netz gestellt am 02.01.2004
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Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Natalia Igl.


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Anmerkungen

1 In einer Fußnote merkt sie an, dass es Belege dafür gebe, "dass die Humanistische Psychologie seit den späten sechziger Jahren auch in der DDR bekannt war und praktiziert wurde" (S. 18), und dass der Name Erich Fromm jedenfalls im Literaturverzeichnis von Christa Wolfs Frankfurter Poetik-Vorlesungen angegeben werde.   zurück

2 In der Gegenüberstellung werden dann Marxismus wie Psychoanalyse als Theorien beschrieben, deren Subjektmodelle eher "autoritär" oder "hierarchisch", das der Humanistischen Psychologie hingegen "demokratisch" organisert sei.   zurück

3 Inwieweit Adorno / Horkheimer sich als Theoretiker nicht-reduktiver Psychoanalyse profiliert hätten, wird nicht näher erklärt.   zurück

4 Meines Wissens taucht der Begriff "psychotische Hysterie" nur bei C.G. Jung auf, wohingegen sich der Begriff der "hysterischen Psychose" bei Freud und in weiten Bereichen der Psychoanalyse etabliert hat.   zurück