Ott über Eisenberg: English sports

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Michael Ott

Eine Sportgeschichte ohne Körper

  • Christiane Eisenberg: "English sports" und deutsche Bürger: Eine Gesellschaftsgeschichte 1800 – 1939. Paderborn u.a.: Schöningh 1999. [zugl. Hamburg, Univ., Habiliationsschrift, 1996] 522 S. m. Abb. auf 24 Taf. Geb. € 70,60.
    ISBN 3-506-72220-4.

No sports

Die akademisch etablierte deutsche Geschichtswissenschaft hat sich über den modernen Sport bis vor einigen Jahren nur selten Gedanken gemacht: Er fiel meist durch die Aufmerksamkeitsraster der konkurrierenden historiographischen Paradigmen – von konventioneller Ereignis-, Politik- und Geistesgeschichte ohnehin, aber auch neuerer sozial-, kultur- und selbst alltagsgeschichtlicher Ansätze. Folglich wurde er, sieht man einmal von der Geschichte des Arbeitersports oder der Olympiade in Berlin 1936 ab, selten als geschichtlich bedeutsam wahrgenommen; ja er schien überhaupt kaum mehr zu sein als jenes harmlose Freizeitvergnügen, das man vielleicht selbst – aktiv oder passiv – am Wochenende betrieb.

Nicht zuletzt durch die Rezeption einer sensibleren anglo-amerikanischen Forschung hat sich im letzten Jahrzehnt die Situation geändert. "Das Studium von Sport und Spiel", schrieb 1987 der Althistoriker Michael B. Poliakoff, "ist kein belangloser Zeitvertreib, sondern gibt Auskunft über den Charakter, die Werte und Prioritäten einer Gesellschaft." 1 Und zwar vielleicht deshalb, so wäre hinzuzufügen, weil der Sport selbst keineswegs nur ein gegenüber den "eigentlichen" historischen Mächten und Prozessen sekundärer, "belangloser Zeitvertreib" ist, sondern eine Praxis, die solche Werte und Prioritäten einerseits in körperlicher, vorreflexiver Weise vermittelt, und sie andererseits in theatralen Spektakeln vor aller Augen "in Szene setzt". Die Frage ist allerdings, wie die Erforschung des Sports dieses Phänomen erfassen kann; in welche Relation man also das so separiert scheinende soziale Subsystem des Sports zu den Diskursen und Strukturen einer Gesellschaft setzt. 2

Mit Christiane Eisenbergs Habilitationsschrift ">English sports< und deutsche Bürger" liegt nun eine erste große Gesellschaftsgeschichte des Sports in Deutschland bis zum Beginn des zweiten Weltkriegs vor. Um das Fazit vorwegzunehmen: Die Antwort der Studie auf die methodische bzw. theoretische Problemlage bleibt zwar recht vage und ergänzungsbedürftig; der große Wert der Arbeit aber liegt darin, dass hier zum ersten Mal das Thema des Sports ganz für die Sozialgeschichte gewonnen und seiner Bedeutung angemessen dargestellt wird.

Eine Gesellschaftsgeschichte zwischen
England und Deutschland

In der knappen Einleitung skizziert die Autorin die methodischen und thematischen Schwerpunktsetzungen ihrer Studie: Es geht um eine Gesellschaftsgeschichte des Sports; die Untersuchung bezieht sich wesentlich auf bürgerliche Mittelschichten; und sie zielt nicht zuletzt auf einen Vergleich der Sportentwicklung zwischen dem "Mutterland des Sports" – England – und Deutschland.

Diese Schwerpunktsetzung ist in allen drei Punkten nichttrivial. Mit dem Schwerpunkt auf "Gesellschaftsgeschichte" wird Sport von seiner sozialen Bedingtheit her perspektiviert, also nicht primär z.B. von seiner subjektiven Erfahrung, kulturellen Eigenweltlichkeit oder erotischen Faszination. Das ist begründbar, denn Sport ist einerseits geprägt von (z.B. schichten- oder geschlechts-) spezifischen Sozialisationen; er repräsentiert aber auch soziale Ungleichheiten und bietet sozialen Distinktionen Ausdrucksraum. Und er wird schließlich – dank seines Massencharakters und seiner Internationalität – gesamtgesellschaftlich und politisch relevant, z.B. in der Veranstaltung von großen Sportwettkämpfen.

Eisenberg geht es somit um die Vermittlung "systemischer" und "lebensweltlicher" Perspektiven auf den Sport; und es geht ihr um eine "Vergesellschaftungsgeschichte", also die Analyse des Sports als einer der "Ligaturen" (Dahrendorf), welche die in funktionalen und sozialen Differenzierungen auseinanderfallende Gesellschaft zusammenhält. Der Vergleich mit der Religion, den sie – mit Bezug auf Georg Simmel – an dieser Stelle andeutet, ist mehr als evident, wenn man sich nur Pierre de Coubertins Charakteristik des Sports als "Religion der Muskelkraft" in Erinnerung ruft oder an die magisch-rituellen Praktiken von "Fan-Gemeinden" des Fußballs denkt. Eine systematische Entwicklung dieses Vergleichs bleibt allerdings leider aus.

Stattdessen begründet die Autorin in eher konventionell sozialgeschichtlicher Manier die Einschränkung des Fokus' ihrer Untersuchung auf die bürgerlichen Mittelschichten (männlichen Geschlechts). Das ist zwar insofern begründbar, als der Diskurs über die "Jedermann"-Angelegenheit Sport bzw. ihre proletarische Verwurzelung längst als "Mythos" (S. 16) durchschaut ist. Doch gerade der medialen Verbreitung dieses Mythos weiter nachzugehen, wäre möglicherweise interessanter gewesen, als unter Verweis auf eine anders gelagerte "Realität" (nämlich, dass der Adel "längstens bis 1918" und "Jugendliche und Arbeiter frühestens seit 1918" – also doch wohl im Untersuchungsfeld der Arbeit – "eine nennenswerte Rolle im Sport" gespielt hätten (S. 16)) bzw. aus Gründen der besseren Anschlußfähigkeit an Bürgertumsforschung alles Andere als dieses Bürgertum aus der Untersuchung a priori auszuschließen: Gerade die – historischen – Ausschlüsse (von Proletariern, Frauen, Juden, Behinderten) aus bestimmten Sportarten bzw. die spätere "falsche" Integration oder Illusion der Integration der "Volksgemeinschaft" hätte man sich eher als Gegenstand denn als Prämisse der Arbeit gewünscht.

Unproblematischer ist dagegen die komparatistische Perspektive, nicht zuletzt, da der Sport bis in die Gegenwart ein internationales Übertragungs- und Übernahmephänomen (mit allerdings erheblichen Kontextualisierungseffekten) darstellt. Gerade die Beschreibung von derartigen Übertragungen – und das erweist die Studie auch im weiteren – ist für die soziale Spezifik und Funktion des Sports erhellend. Allerdings wird für das 20. Jahrhundert der englischen Sportentwicklung vergleichsweise sehr wenig Platz eingeräumt, so dass ein wirklicher Vergleich – z.B. was die Militarisierungsprozesse betrifft – kaum möglich ist.

"English sports" und der
"Sport vor dem Sport" in Deutschland

Die ersten Kapitel der Arbeit bieten jedoch eine gerade in den Differenzen aufschlußreiche, wenngleich sich manchmal stark im historischen Detail verlierende Geschichte der Entstehung des "Sports" bis zur Jahrhundertwende um 1900, als dieses Wort im deutschen Sprachgebrauch überhaupt erst Wurzeln zu schlagen begann.

Die Differenzen und Entwicklungen sind hier im Detail nicht nachzuzeichnen; Eisenberg erweist sich dabei als profunde Kennerin der englischen Sozialgeschichte besonders des 19. Jahrhunderts und der durch Urbanisierung und Industrialisierung bedingten alltagskulturellen Entwicklungen. In ihnen transformierten sich die frühneuzeitlichen, von Adel oder aber Unterschichten betriebenen "sports" von Geschicklichkeitsspielen, Tierkämpfen und Vorformen sportlicher Disziplinen (wie Boxen oder Cricket) in Praktiken der – häufig städtischen – middle class bzw. der Jugendlichen auf public schools und Universitäten, die auch Lebensführungsrelevanz besaßen und schließlich die für den Habitus der gentlemen zentrale Bedeutung von fairneß und >Sportsgeist< hervorbrachten. Demgegenüber standen die philantropischen Pädagogen und insbesondere die Turnbewegung in Deutschland unter ganz anderen sozialen (klarer männerbündlerischen) und politischen (antifranzösischen) Vorzeichen.

Sport in der wilhelminischen Kultur
und im ersten Weltkrieg

In der Beschreibung des "Kulturkontakts", also der deutschen Übernahme >sportlicher< Praktiken gewinnt die Studie durch detailgenaue Charakterisierung einzelner Disziplinen und Milieus viele mentalitätsgeschichtliche Einsichten und vermag Fragen zu klären, auf die man nie gekommen wäre. Warum heißt Borussia Dortmund "Borussia"? Neben solchen einzelnen Aspekten (wie eben der sportlichen Zitation der etablierten studentischen Verbindungskultur, oder dem Eindringen der Kriegsmetaphorik in den sportlichen Diskurs, der Bedeutsamkeit von Tennis für die Eheanbahnung usw.) geht es in der Beschreibung des "Kulturkampfs" (S. 250ff.) zwischen Turnern und Sportlern letztlich um die Frage der Modernisierungseffekte des Sports sowie um seine Allianzen mit Militarismus und Nationalismus.

Aufschlußreich sind hierfür die Streitigkeiten im Vorfeld der deutschen Olympia-Bewerbung für 1916, welche die Arbeit differenziert darstellt. Turnen und Sport standen dabei für durchaus gegenläufige Vorstellungen, für gänzlich unterschiedliche Körper-Ästhetiken und auch für differente Sozialbeziehungen (der Turner hatte sich der Gemeinschaft einzuordnen, war nicht auf den Rekord, sondern am Durchschnitt seiner Gruppe orientiert, hatte dem "Vorturner" zu folgen usw.).

Ähnlich ambivalent wie die Konfrontation dieser Praxis mit dem leistungsorientierten Sport verlief die Internationalisierung, welche paradoxerweise den Athleten als Repräsentanten seiner Nation allererst erzeugte. Während die Olympiade somit offiziell der Völkerverständigung diente, harmonierte sie insgeheim hervorragend mit den nationalistischen Strömungen am Vorabend des ersten Weltkriegs. Die Indienstnahme des Sports in diesem Krieg – sei es in Wettkämpfen an der Heimatfront oder im Feldheer – und die "Fortsetzung des Kriegs mit anderen Mitteln" (S. 323ff.) in Freikorps, Wehrverbänden und Sportvereinen seit 1919 demonstriert schließlich die eminente politische Bedeutung, die der Sport inzwischen gewonnen hatte.

Von Weimar nach Berlin

Die Studie folgt dieser Linie zunehmender politischer Relevanz und auch staatlicher Einflußnahme auf die Sportentwicklung in den abschließenden Kapiteln deutlich (vielleicht zu deutlich), indem nun sehr stark auf die Institutionen (wie dem "Deutschen Reichsausschuß für Leibesübungen") und ihre Vertreter (wie Carl Diem) bezogen die weitere Entwicklung referiert wird. Sie gelangt dabei zu einigen überraschenden Einschätzungen; so wird – im Gegensatz zu landläufigen Vorstellungen, die vielleicht zu sehr von der Aufmerksamkeit zeitgenössischer Autoren wie Brecht oder Musil für den Sport gelenkt sind – die Zeit der Weimarer Republik als eine beschrieben, in der der Sport "Glanz und Glamour" eher verliert (S.438). Vor allem aber dürfte die Interpretation der Olympischen Sommerspiele 1936 in Berlin überraschen, die sich dezidiert gegen geläufige Interpretationen dieser "Spiele unterm Hakenkreuz" (Horst Ueberhorst) richtet.

Eisenbergs Argumente, die in der These münden, die Spiele müßten "weniger als nationalsozialistische Propagandaveranstaltung denn als eine Auszeit des Regimes" (S. 441) gesehen werden, vermögen allerdings nicht recht zu überzeugen. Ohne Zweifel haben einige Interpreten zu wenig zwischen den Spielen selbst und ihrer suggestiven Inszenierung in Riefenstahls Olympia-Film unterschieden. Aber dass gerade die relative Abwesenheit von NS-Propaganda (während der Spiele wurden bekanntlich antisemitische Plakate entfernt und der Stürmer für einige Wochen nicht an den Kiosken verkauft) auch einem spezifischen Kalkül gehorchen konnte, dass also der "schöne Schein" vielleicht nur eine durchaus kalkulierte "Auszeit" einer bestimmten Propaganda bedeutete, aber keineswegs eine "des Regimes", kommt zu wenig in den Blick. Eisenberg ist stattdessen bemüht, die Beteiligten, die "schöne Spiele" in Erinnerung behielten, und die "Eigenwelt des Sports" (S. 415) zu rehabilitieren.

Diese Bemühung schießt freilich übers Ziel hinaus. Die olympischen Spiele sind bei weitem nicht der einzige Fall, dass Beteiligte Ereignisse oder Zeiträume als subjektiv schön, erfüllend und weitgehend "politikfrei" erfuhren, die aus anderer Perspektive ("von oben", wie Eisenberg systembezogene Beobachtungen etwas schematisch nennt) alles andere als politisch unschuldig waren. Ganz ähnliches ließe sich für die von Eisenberg referierten Sportaktivitäten bei "Kraft durch Freude" gegen ihre weitgehend positive Darstellung einwenden: Gerade das scheinbar apolitische Reservat produzierte bekanntlich die Zustimmung zum ganzen System mit, andernfalls hätte es eben (aller Polykratie im NS-Herrschaftssystem zum Trotz) nicht lange bestanden.

Ein – von Eisenberg nicht erwähntes – Beispiel, wie die "Eigenwelt des Sports" in Konflikt mit dem NS-System kommen konnte, wenn diese latente Zustimmung oder Nicht-Resistenz nicht mehr gegeben war, hätte sich in der Lebensgeschichte des Radrennfahrers Albert Richter finden lassen, der bei der WM 1934 in Leipzig den Hitlergruß verweigerte und beim Versuch, in die Schweiz auszureisen, in der Sylvesternacht 1939 in einem Polizeigefängnis in Lörrach sehr wahrscheinlich ermordet wurde. 3 Ein solches Schicksal ist mit der von Eisenberg entwickelten These, dass sich die "zivile Sportgeselligkeit" "innerhalb des nationalsozialistischen Herrschaftssystems zu einer Enklave der Normalität" (S. 441) entwickelt habe, nicht nur wenig zu vereinbaren; es stellt letztlich auch die Frage, was die Verfasserin unter "Normalität" in einem totalitären Herrschaftssystem überhaupt versteht.

Eine Sportgeschichte ohne Körper

Das Problem, wie die "alltäglichen" Bereiche scheinbar apolitischer "Normalität" vielleicht gerade über Körperpraktiken indirekt politisch durchdrungen werden konnten, und die vielleicht noch prekärere Frage, ob hier auch weiterwirkende Modernisierungsprozesse stattfanden, liegen außerhalb des Horizonts der Studie. Überblickt man abschließend die weit über 400 Textseiten umfassende Darstellung, bleiben somit neben dem Eindruck der beachtlichen Leistung, die Gesellschaftsgeschichte des Sports im behandelten Zeitraum anschaulich und dicht an den Quellen vorgestellt zu haben, auch grundsätzlichere Einwände, die aus den methodischen Prämissen resultieren.

Der wichtigste zuerst: Über weite Strecken hat Christiane Eisenberg eine detailgenaue Studie über Sportfunktionäre, Sportverbände, Sportdiskurse und Sportlermilieus geschrieben; über Sport als körperliche Praxis und seine Faszination als solche Praxis allerdings erfährt man so gut wie gar nichts. Das mag daran liegen, dass die Autorin – früher selbst aktive Sportlerin und mehrfache deutsche Jugendmeisterin im Schwimmen – diese Faszination einfach voraussetzt; trotzdem ist das völlige Ausblenden der Korporalität angesichts der gegenwärtigen Hochkonjunktur der Körperkategorie in den Kulturwissenschaften mindestens überraschend. Denn selbst wenn man den Diskussionen um die "Wiederkehr des Körpers" 4 als Bezugspunkt posttraditionaler Identität oder als kulturwissenschaftliche Leitkategorie skeptisch gegenübersteht: Wo sollte denn über den Körper und seine soziale und politische Relevanz zu sprechen sein, wenn nicht in einer Geschichte des Sports?

Dabei wäre diese Kategorie ja keineswegs nur im Sinn einer phänomenologischen "Körpergeschichte" von Interesse; hierbei ergäbe sich in der Tat die Gefahr eines ahistorischen Kurzschlusses, wie Eisenberg andeutet (S. 12). Vielmehr ginge es um Sport als eine jener historisch spezifischen Körperpraktiken, wie sie beispielsweise Pierre Bourdieu analysiert hat, über die eine Homologie subjektiver Erfahrungen und objektiver sozialer Strukturen hergestellt wird, ein "Evident-Werden" der jeweils fundamentalen symbolischen Differenzen (wie männlich-weiblich, aristokratisch-bürgerlich-proletarisch oder auch "arisch"-jüdisch) durch Körper-Rituale, die diese scheinbar bestätigen, die Inkorporierung der jeweiligen Verhaltens- und Wahrnehmungsdispositive und ihre Verfestigung zu Formen des Habitus.

Die Studie kommt an einigen Stellen solchen Prozessen durchaus nahe, so wenn z.B. über die differenten Körper-Ästhetiken der "Turner" und der "Sportler" oder das Phänomen der "Maschinen-Sportler" gehandelt wird. Doch bleiben die "dichten Beschreibungen" hier oberflächlich, und weder Mentalität noch Habitus, und übrigens – einleitenden Referenzen zum Trotz – auch nicht das Geschlecht, werden in irgendeiner Weise analytisch genutzte Kategorien. Es spricht nicht gerade für die theoretische Aufgeschlossenheit der deutschen Sozialgeschichte, wenn diese, in der Soziologie, der gender-Forschung und beispielsweise auch der Literaturwissenschaft seit Jahren diskutierten offenkundigen Problemlagen überhaupt nicht in die Perspektive der Arbeit rücken. In dieser Arbeit haben Körper keine Geschichte.

Gerade die fast eineinhalb Jahrhunderte, welche die Untersuchung umfasst, sind aber der Zeitraum, in dem sich der gesellschaftliche Umgang mit dem Körper, seine Beanspruchung, Rekreation, Ernährung, Untersuchung oder bildliche Darstellung so radikal verändert haben wie nie zuvor. Die Industrialisierung, Urbanisierung und durchgreifende Technisierung der Lebenswelt verursachten ja nicht nur Verwerfungen der Sozialstruktur und die berüchtigte Freisetzung aus Traditionen, sondern auch völlig neue Körperverhältnisse, Neucodierungen körperlicher Leistung, Natürlichkeit, Schönheit, Geschlechtlichkeit usw. Gerade eine an den "Vergesellschaftungsprozessen" interessierte Sozialgeschichte müßte den Sport doch auch in eine solche Perspektive sozialer Körperkonzepte rücken und nicht nur als Mittel zu anderen Zwecken (wie Repräsentieren oder Heiraten) oder als Funktionärspraxis untersuchen.

Wenig anschlußfähig für Kulturwissenschaften erscheint die Arbeit ferner durch ihren Mangel an Reflexion auf die mediale Vermittlung des Sports. Im untersuchten Zeitraum entwickeln sich nahezu alle wesentlichen medialen Verstärkungs- und Rückkopplungssysteme des Sports von der Zeitung bis zum Film sowie die für den modernen Sport und seine Geschichte unabdingbare Photographie. Nicht dass nicht gelegentlich auf diese Phänomene hingewiesen würde; allein die ausgewerteten Zeitungstitel füllen fast zwei Seiten des Quellenverzeichnisses. Nur sind sie hier eben "Quellen", und wird auf Struktur und Verbreitung dieser Medien und ihre Rückwirkung auf die sportliche Praxis selbst höchst selten ein Augenmerk gelegt. Möglicherweise funktionieren jene "Ligaturen" der posttraditionalen Bürgerwelt, von denen der Sport eine ist, jedoch gerade durch diese spezifischen Medien, und weniger (oder zumindest nicht nur) durch eine Zugehörigkeit im sozialen Nahbereich (z.B. im Verein), wie die Untersuchung implizit voraussetzt.

Das geniale Rennpferd

Künftige kulturgeschichtliche Forschungen zum Sport müßten diesen hier unterrepräsentierten Fragen wohl mehr Beachtung schenken. Denn liest man Texte von Literaten wie Brecht oder Musil zum Sport, wird sehr schnell deutlich, dass sie weniger auf sportliche Ereignisse als auf den medialen Raum und die medialen Diskurse reagieren, die vom Sport bestimmt werden. Die schockierende Erfahrung von Ulrich, Protagonist in Musils "Mann ohne Eigenschaften", von einem "genialen Rennpferd" lesen zu müssen, mag das abschließend verdeutlichen:

[E]ines Tages hörte Ulrich [...] auf, eine Hoffnung sein zu wollen. Es hatte damals schon die Zeit begonnen, wo man von Genies des Fußballrasens oder des Boxrings zu sprechen anhub, aber auf mindestens zehn geniale Entdecker, Tenöre oder Schriftsteller entfiel in den Zeitungsberichten noch nicht mehr als höchstens ein genialer Centrehalf oder großer Taktiker des Tennissports. Der neue Geist fühlte sich noch nicht ganz sicher. Aber gerade da las Ulrich irgendwo, wie eine vorverwehte Sommerreife, plötzlich das Wort "das geniale Rennpferd". Es stand in einem Bericht über einen aufsehenerregenden Rennbahnerfolg, und der Schreiber war sich der ganzen Größe seines Einfalls vielleicht gar nicht bewußt gewesen, den ihm der Geist der Gemeinschaft in die Feder geschoben hatte. Ulrich aber begriff mit einemmal, in welchem unentrinnbaren Zusammenhang seine ganze Laufbahn mit diesem Genie der Rennpferde stehe. Denn das Pferd ist seit je das heilige Tier der Kavallerie gewesen, und in seiner Kasernenjugend hatte Ulrich kaum von anderem sprechen hören als von Pferden und Weibern und war dem entflohn, um ein bedeutender Mensch zu werden, und als er sich nun nach wechselvollen Anstrengungen der Höhe seiner Bestrebungen vielleicht hätte nahefühlen können, begrüßte ihn von dort das Pferd, das ihm zuvorgekommen war. 5


Dr. Michael Ott
Universität Münster
Institut für deutsche Philologie II
Domplatz 20-22
D-48143 Münster
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Ins Netz gestellt am 14.05.2002
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Anmerkungen

1 Michael B. Poliakoff: Kampfsport in der Antike. Das Spiel um Leben und Tod. Zürich und München: Artemis 1989 (orig. New Haven 1987), S. 10f.   zurück

2 Vgl. z.B. für eine hier naheliegende "Spiel"-Praxis die außerordentlich anregende Monographie von Horst Bredekamp: Florentiner Fußball. Die Renaissance der Spiele. Calcio als Fest der Medici. Frankfurt / M.: Campus 1993.   zurück

3 Vgl. Renate Franz: Der vergessene Weltmeister. Das rätselhafte Schicksal des Kölner Radrennfahrers Albert Richter. Unter Mitarb. v. Andreas Hupke u. Bernd Hempelmann. Köln: Emons 1998.   zurück

4 Vgl. Gunter Gebauer / Christoph Wulf (Hg.): Die Wiederkehr des Körpers (es NF 132) Frankfurt / M.: Suhrkamp 1982.   zurück

5 Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Roman, I. Buch, Reinbek: Rowohlt 1987, S. 44.    zurück