Parr über Berbig: Theodor Fontanes literarisches Leben

Rolf Parr

Theodor Fontanes literarisches Leben:
Buchstaben "V" und "Z"

Kurzrezension zu
  • Roland Berbig (unter Mitarbeit von Bettina Hartz): Theodor Fontane im literarischen Leben. Zeitungen und Zeitschriften, Verlage und Vereine. (Schriften der Theodor Fontane Gesellschaft, Band 3) Berlin, New York: Walter de Gruyter, 2000. XIII + 498 S. Geb. DM 168,-.
    ISBN 3-110-16293-8.


Ein Desiderat der Fontane-Forschung

Gibt es für Heinrich Heine, Thomas Mann, Bertolt Brecht und andere Autoren bereits seit längerer Zeit als umfassende Handbücher konzipierte Kompendien, so ist ein solcher, die bisherige Forschung übersichtlich zusammenführender Ort für Theodor Fontane bis vor kurzem Desiderat geblieben. Daß solche Kompendien heute auch gar nicht mehr ohne weiteres mit dem Ziel vollständiger Repräsentation des vorhandenen Wissens angegangen werden können, macht das gerade bei Kröner erschienene "Fontane-Handbuch"1 deutlich. Der darin vorgesehene Artikel über "Fontanes Beziehungen zu Zeitungen, Zeitschriften, Verlagen, Vereinen und Institutionen der Geselligkeit" wuchs sich auf Grund der Fülle des in den letzten fünfzehn Jahren2 gerade zu diesem Autor verfügbar gewordenen Wissens so schnell aus, daß daraus der vorliegende Band als separate Parallelpublikation zum kürzeren Handbuchartikel entstand.

Das jetzt vorliegende Ergebnis präsentiert sich als ein mit großem Aufwand recherchiertes und verläßliches Nachschlagewerk, das in mehr als neunzig Einzelartikeln erstmals nahezu vollständig die für Fontane spezifischen Daten und Fakten zu zwanzig Zeitungen, vierzig Zeitschriften, mehr als dreißig Verlegern und Verlagen und fünfzehn Gruppierungen, Vereinen, Institutionen und geselligen Kreisen an einem Ort zusammengetragen hat. Dabei konnte Berbig, einer der unbestritten besten Kenner der Fontanematerialien in den deutschen Archiven und Bibliotheken, von seinen vielfältigen Spezialforschungen profitieren, etwa von der Dokumentation der "Rundschaudebatte" zwischen Paul Lindau und Julius Rodenberg,3 der Edition des Fontane/Eggers-Briefwechsels4 und den für das "Handbuch literarisch-kultureller Vereine"5 geschriebenen Beiträgen.

Aufbau

Den einzelnen Abschnitten vorangestellt sind als Kopf jeweils Kurzcharakteristiken mit den wichtigsten Basisinformationen, die im nachfolgenden narrativen Teil dann erläutert, in Lebens- und insbesondere Arbeitskontexte Fontanes gestellt und schließlich auf die jeweils zur Debatte stehenden Werke Fontanes bezogen werden. Dies geschieht vornehmlich durch illustrierende Zitate aus Fontanes Briefwechseln und (nicht nur seinen) autobiographischen Schriften. Den Abschluß bilden bibliographische Informationen, die auf vielfältige Weise Arbeiten der Buchmarktforschung, der historischen Publizistik und der Sozialgeschichte mit spezifischer Fontanephilologie in Konnex bringen. Etwa Dreiviertel des Bandes nehmen dabei die Beiträge zu Zeitschriften und Zeitungen ein; Verlage und Verleger werden auf etwa siebzig, die Gruppierungen und Vereine auf sechzig Seiten abgehandelt.

Wer die Verweise in den Einzelabschnitten genau verfolgt, mag gegen dieses Buch für einen Augenblick einwenden wollen, daß viele Informationen ja doch schon in den Kommentarteilen der großen Fontaneausgaben bei Nymphenburger, Hanser und im Aufbauverlag zu finden sind. So richtig dieser Befund sein mag, wäre dem entgegenzuhalten: Wer sich jemals aus einer solchen Ausgabe die Informationen zu Zeitschriften wie "Die Eisenbahn" oder "Der Soldaten-Freund" zusammensuchen mußte oder jemals über den Zusammenhang von "Berliner Figaro" und der Eulenspiegelsymbolik des "Tunnels über der Spree" nachgedacht hat, wird für das jetzt von Berbig und Hartz vorgelegte Kompendium dankbar sein. Es bietet zwar selbst erst ansatzweise Forschung zu den sozialgeschichtlichen Voraussetzungen von Fontanes Schreiben, stellt aber eine wichtige Grundlage für zukünftige Arbeiten auf diesem Gebiet dar, kann sie vielleicht sogar stimulieren.6 Wie fruchtbar etwa eine genaue Analyse der "öffentlichkeitsgeschichtlichen Rahmenbedingungen des Poetischen Realismus" gerade auch für Theodor Fontane ist, hat nicht zuletzt Rudolf Helmstetters wichtige Untersuchung über die "Geburt des Realismus aus dem Dunst des Familienblattes" gezeigt.7

Implizite Theorie

Daß der Leser keine weitergehenden theoretischen Reflexionen zur Literaturgeschichtsschreibung des literarischen Lebens zu erwarten hat, zeigt das (zu) bescheidene "Dargestellt von Roland Berbig" in der Titelei deutlich an. Indirekt kommt eine theoretische Dimension aber dennoch ins Spiel, wenn Berbig betont, wie wichtig es sei, "den Gesamtzusammenhang präsent zu haben" und "nicht nur Einzelteile aus dem Komplex herauszugliedern und zu beschreiben". So verwirft er in der "Vorbemerkung" zunächst den immerhin im Titel zu findenden und gerade solchen "Gesamtzusammenhang" signifizierenden Begriff "literarisches Leben" als im "Gebrauch [...] inflationär und dadurch unscharf" und ersetzt ihn durch das Bild "von einem Netzwerk [...], dessen einzelne Fäden nur Sinn im Zusammenhang mit den tausend anderen machen".8

Der 'Netzwerk'-Gedanke wird dann in zweifacher Weise auf Fontane bezogen: "Wer Fontane in seinem komplizierten Lebens-, Bildungs- und Schriftstellerweg und seine eigenwillige Werkstruktur verstehen will, muß über die Kenntnis dieses Netzwerks verfügen" und zwar deshalb, weil Fontane selbst auf seiner Basis operiert hat, denn "kaum ein Schriftsteller im 19. Jahrhundert [...] bewegte sich in diesem Geflecht in vergleichbarer Vielgestaltigkeit, kaum einer hat es so zutreffend und einsichtsvoll reflektiert wie er" (S.V). Damit wird der Blick wiederum auf den Netz-Zusammenhang gelenkt, wenn auch jetzt auf Fontane hin perspektiviert. Eine Seite weiter liest man dann aber: "Die vier Kapitel sind relativ streng gegliedert. Sie wollen nicht durch eine umständliche Gesamtdarstellung allgemeine Überblicke bieten, sondern auf gedrängtem Raum über Einzelphänomene berichten", was dann noch einmal bekräftigt wird: "Die Welt, in die dieses Buch führen will, ist viel zu komplex, um vollständig porträtiert werden zu können" (S.VI).

Die generelle Krux an der Vorstellung eines nicht strukturell, sondern interaktionistisch gedachten 'Netzwerk' scheint zu sein, 'literarisches Leben' einerseits als unüberschaubare Summe von Einzelinteraktionen zu begreifen und die Notwendigkeit ihrer qualitativen (auswertenden) Akkumulation zu erkennen, andererseits genau davor aber sofort wieder zurückschrecken zu müssen, da diese Gesamtheit nie rekonstruiert werden kann (weshalb nach theoretischen Alternativen zu fragen wäre, was aber nicht die Aufgabe eines Nachschlagewerks sein kann).

Fazit

Dem Band geht es nicht darum, eine einzelne Autoren vergleichende oder gar übergreifende Sozialgeschichte der Literatur zu betreiben. Den Anspruch auf "Gesamtzusammenhang" (S.V) wird ein Kompendium wie das vorliegende nicht einlösen können. Diese Aufgabe muß es an den Leser delegieren, der vor allem ein nach Querverbindungen suchender und sich der ausführlichen Register (der Personen, der Publikationsorgane, der Verlage, der Gruppierungen, Vereine und Institutionen und schließlich der Werke Fontanes) bedienender Forscher sein wird. Wer präzise Informationen zu Fontanes literarischem Leben mit Blick auf Verlage, Verleger, Vereine und insbesondere die Periodika sucht, dem sei dieses Buch wärmstens empfohlen, auch für jede über Fontane hinausgehende Beschäftigung mit der Literatur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts überhaupt.


PD Dr. Rolf Parr
Universität Dortmund
Fakultät 15
Institut für deutsche Sprache und Literatur
Emil-Figge-Str. 50
D-44227 Dortmund

Ins Netz gestellt am 27.02.2001

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Anmerkungen

1 Christian Grawe/Helmuth Nürnberger (Hg.): Fontane-Handbuch. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag, 2000.   zurück

2 Fünfzehn Jahre dann, wenn man als wichtigen Einschnitt in der Fontaneforschung das Erscheinen der Beiträge der Potsdamer Fontane-Konferenz von 1986 setzt (Otfried Keiler/Peter Schäfer [Hg.]: Theodor Fontane im literarischen Leben seiner Zeit. Beiträge zur Fontane-Konferenz vom 17. bis 20. Juni 1986 in Potsdam. Berlin: 1987).   zurück

3 Roland Berbig/Josefine Kitzbichler (Hg.): Die Rundschau-Debatte 1877. Paul Lindaus Zeitschrift "Nord und Süd" und Julius Rodenbergs "Deutsche Rundschau". Dokumentation. Bern: Peter Lang, 1998.   zurück

4 Roland Berbig (Hg.): Theodor Fontane und Friedrich Eggers. Der Briefwechsel. Mit Fontanes Briefen an Karl Eggers und der Korrespondenz von Friedrich Eggers mit Emilie Fontane. (Schriften der Theodor Fontane Gesellschaft, Bd. 2) Berlin, New York: Walter de Gruyter, 1997.   zurück

5 Wulf Wülfing/Karin Bruns/Rolf Parr (Hg.): Handbuch literarisch-kultureller Vereine, Gruppen und Bünde 1825-1933. (Repertorien zur Deutschen Literaturgeschichte 18) Stuttgart, Weimar: Metzler, 1998.   zurück

6 Desiderat in der Fontaneforschung wäre etwa eine umfassende Monographie zu den Verlegerbeziehungen, wie sie für Wilhelm Raabe mit der Dissertation von Ulrike Koller (Wilhelm Raabes Verlegerbeziehungen. [Palaestra, Bd. 296] Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1994) vorliegt.   zurück

7 Rudolf Helmstetter: Die Geburt des Realismus aus dem Dunst des Familienblattes. Fontane und die öffentlichkeitsgeschichtlichen Rahmenbedingungen des Poetischen Realismus. München: Wilhelm Fink, 1997. - Vgl. die Besprechung von Günter Butzer unter http://www.iasl.uni-muenchen.de/rezensio/liste/butzer.htm.   zurück

8 Aber ist mit der Rede vom "literarischen Leben" in der Forschung nicht häufig genau diese Vorstellung vielfältig miteinander verknüpfter Interaktionen verbunden?   zurück