Pethes über Danneberg und Vollhardt: Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert

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Nicolas Pethes

"Es ist gleich tödlich für den Geist,
ein System zu haben, und keins zu haben".
Ein Sammelband zur literarischen Gestalt
und Gestaltung von Wissen

  • Lutz Danneberg / Friedrich Vollhardt (Hg., in Zusammenarbeit mit Hartmut Böhme und Jörg Schönert): Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert. Tübingen: Niemeyer 2002. VI, 385 S. 14 schw.-w. Abb. Ln. Euro (D) 86,-
    ISBN 3-484-10843-6.


0. Philologie oder Epistemologie?

Im Schatten der Trias aus Historischer Anthropologie, Gedächtnisforschung und Medientheorie ist in letzter Zeit die Wissenschaftsgeschichte zum vielleicht spannendsten Betätigungsfeld im Rahmen der vieldiskutierten >kulturwissenschaftlichen Wende< der Literaturwissenschaft avanciert. Diese Diskussion ist in weiten Teilen an einer strikten Alternative orientiert, deren eine Seite – vertreten von einem traditionellen philologischen Selbstverständnis – der Trennung zwischen den >zwei Kulturen< Literatur und Wissenschaft das Wort redet, während die andere – informiert durch die französische Épistémologie und den amerikanischen New Historicism – ihre emphatischen Ineinssetzung im Medium der Diskursivität propagiert. Ob diese Alternative in dieser Ausschließlichkeit zwingend ist, fragt sich allerdings nachdrücklich. Der von Lutz Danneberg und Friedrich Vollhardt herausgegebene Sammelband jedenfalls bietet ein gelungenes Anschauungsbeispiel, wie man die Beziehung zwischen Naturwissenschaft und schöner Literatur untersuchen kann, ohne dabei das Gebot philologische Sorgfalt aus den Augen zu verlieren.

Die Herausgeber und Mitherausgeber des vorliegenden Bandes haben bereits in mehreren einschlägigen Publikationen Anregungen zu einem solchen Integrationsangebot gegeben.1 Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert tritt aber darüber hinaus mit dem Anspruch auf, sich von der Vielzahl der jüngeren Sammelbände zum Thema abzuheben. Zwar handelt es sich auch im vorliegende Fall um die Dokumentation einer obendrein schon etliche Jahre zurückliegenden Tagung. Vollhardt begründet die Verzögerung von sieben Jahren jedoch einleitend mit dem Bemühen, die Tagungsergebnisse in systematischer Form vorzulegen.

Als thematische Klammer habe allen AutorInnen dabei die Reaktion literarischer, publizistischer und populärwissenschaftlicher Vermittlungen auf die ausdifferenzierte Wissenschaftslandschaft des (langen) 19. Jahrhunderts vor Augen gestanden. Von dieser allgemeinen Klammer leitet Vollhardt drei spezifische Fragestellungen ab: Wie lassen sich die wissenschaftlichen Kontexte identifizieren, die Einfluß auf die Semantik, die Bildlichkeit und die Genres der Literatur haben und was läßt sich daraus für ein allgemeines Verständnis der Geschichte des Wissens und seiner gesellschaftlichen Funktionen lernen? Kann man umgekehrt der Literatur eine mit den Wissenschaften konkurrierende und deren Ausdifferenzierung gegebenenfalls kompensierende Selbstdeutung von Mensch und Gesellschaft entnehmen? Und wie kann schließlich die "poetische[...] Durchdringung des Wissens" (S. 6), wie sie sich in der steilen Karriere der Populärwissenschaft niederschlägt, analysiert werden?

1. Literarische Wissenfelder

Das sind zweifellos zentrale Fragestellungen. Daß der vorliegende Sammelband sie systematisch behandelt, erschließt sich allerdings nicht auf den ersten Blick: Es finden sich weder Sektionseinteilung noch lassen sich den Beitragstiteln Ordnungskategorien entnehmen, die über die Nennung von Wissenschaftsparadigmen, Autoren und Textgenres hinausgingen. Und dennoch kristallisiert sich die angekündigte Systematizität bei der Lektüre deutlich heraus.

Die ersten beiden Beiträge behandeln zunächst zwei Wissensfelder, die für literarische Szenarien an der Wende zum 19. Jahrhundert zentral sind: Michael Titzmann verfolgt anhand eines umfangreichen Textkorpus die Relation zwischen anthropologischen Alterssystemen – dem entweder biologisch oder sozial fundierten Entwicklungsgang eines Menschenlebens – und literarischen Initationsgeschichten, zu denen als Subgattung der Bildungsroman gehört. Dabei kann er zeigen, wie das ethnologische Konzept der Transition in das Gattungsmuster einer triadischen Initation übersetzt wird. Zugleich betont Titzmannn die zentrale Widerständigkeiten dieser Adaption: Literarische "Texte interessieren sich nicht für die >normalen Entwicklungen< unter >sozial normalen Bedingungen<: sondern nur für die exzeptionellen Entwicklungen privilegierter Individuen" (S. 53). Sie fokussieren die Jugend vor allen anderen Altersstufen, lassen sexuelle Rivalität auf lebensweltlich sanktionierte Weise zu und sind generell davon geprägt, daß das Interesse am Individuum das wissenschaftlich zentrale Interesse an der menschlichen Gattung überwiegt: "Wo somit die Theorie eine fremdbestimmte (biologische und / oder soziale) Heteronomie des Prozesses betont, setzt dem die Literatur zumindest explizit die Fiktion selbstbestimmter Autonomie des Individuums entgegen." (S. 57)

Während die Literatur auf diese Weise ein Wissensfeld aufgreift, um es ihren narrativen und semantischen Bedürfnissen anzugleichen, bietet Manfred Engels Analyse romantischer Traumtexte ein Anschauungsbeispiel, wie die literarische Gestaltung naturphilosophischer Theorien auf das "Traumwissen der Zeitgenossen" (S. 89) zurückwirken kann. Als physiologisch-psychologisches Phänomen befindet sich der Traum an der Gelenkstelle des Leib-Seele-Problems und also auch auf dem Übergang von einer empirischen zu einer idealistischen Anthropologie. Der Traum ist eine Instanz des >ganzen Menschen<, die "einzige[...] Kontaktstelle zwischen den zwei Seiten der menschlichen Existenz – dem Bewußten und dem Unbewußten, dem Individuellen und dem Universellen" (S. 74) und macht so als "Ausdruck der menschlichen Doppelnatur" (S. 77) Karriere. Was das Wissen über den Traum aber im Besonderen auszeichnet ist, daß es auch formal "optimal kompatibel mit den Regeln und Bedürfnissen des literarischen Systems" (S. 88) ist. Insbesondere die Tatsache, daß Dichter Traumwissen nicht fingieren müssen, sondern Imaginäres als ihre "ureigene Domäne" (S. 80) betrachten, läßt den Traum zur zentralen Folie der romantischen Poetik werden, in der sowohl die Einheit von Ich und Nicht-Ich als auch das Prinzip der Metamorphose sinnlich erfahrbar gemacht und wissensbildend gestaltet werden.

2. Epistemologische Reflexionen

Solche hochfliegenden Ansprüche an die Poesie als Einheitsmedium allen Wisens waren Mitte des Jahrhunderts bereits unwiderruflich an die Autorität der positiven Wissenschaften verloren gegangen. Die folgenden drei Beiträge des Bandes zeigen auf, wie literarische Texte es nun unternehmen, zentrale epistemologische Probleme ihrer Zeit zu reflektieren.

Christian Begemann geht am Beispiel Adalbert Stifters der methodischen Bedeutung der Naturwissenschaften für literarische Darstellungsverfahren nach, die allerdings nicht als kritik- und anstandslose Angleichung mißzuverstehen ist:

Auf eine seltsame, nämlich weithin unbeabsichtigte Weise wird Literatur hier zu einem Experimentierfeld, in das >Wissen< nicht einfach als fixe Größe eingeht, sondern in dem es zugleich erprobt, auf seine Reichweite und Tragfähigkeit befragt und mehr oder weniger heimlich bezweifelt wird. (S. 93)

Hochwald, Abdias und Nachsommer präsentieren die Koexistenz, Interferenz und Ablösung der vier konkurrierenden Naturkonzepte ihrer Zeit. Mythische, romantische, metaphysische und empirische "Wissensparadigmen, die sich im Österreich der Restaurationszeit ablösen bzw. noch nebeneinander existieren, reflektieren sich in fiktionalisierter Form in der Literatur und werden im Zuge solcher Fiktionalisierungen selbst noch einmal einer Diskussion ausgesetzt." (S. 106) Diese Diskussion führt Stifters Werk in der Weise, daß die vermeintlich klare, positive Grenzziehung zwischen dem mythisch-romantischen und dem klassifikatorisch-empirischen Naturbild verwischt:

Ob die Kultur selbst zur Ordnung der Natur gehört, ob sie Gewalt gegen diese darstellt, ob solche Gewalt bloße Zerstörung oder ob sie legitime Selbstbehauptung des Menschen ist, bleibt ebenso unerkennbar wie Ordnung, Plan und Sinn der Natur überhaupt. Stifter aber schreibt alles auf. (S. 116)

Dieser dokumentarische Charakter von Stifters Schreibweise ist es, der den naturwissenschaftlichen Totalitätsanspruch letztlich aushöhlt: Nur in der Kunst vermag diejenige Geschlossenheit noch einmal zu erstehen, die der wissenschaftliche Empirismus zunehmend fragmentarisiert: "Das Bemühen um die Ordnung der Dinge, das im Roman [sc. dem Nachsommer] an kein rechtes Ende kommt, ja geradezu in seiner Aussichtslosigkeit erkennbar wird, verlagert sich auf die Ebene des Textes selbst." (S. 124)

Diese spezifische Ungleichzeitigkeit zwischen szientifisch postulierten und ästhetisch aktualisierten Weltbildern unterstreichen nachdrücklich die beiden Beiträge zum wissenschaftlichen Perspektivismus von Liliane Weissberg und Gerhart von Graevenitz. Weissberg zeigt, wie die von der camera obscura garantierte feste Subjektposition des Blicks in der realistischen Ästhetik fortlebt, obwohl sich angesichts von Stereoskop, Kaleidoskop und Stroboskop die Trennung zwischen Betrachter und Welt technikgeschichtlich schon längst vollzogen hatte. "Die Literatur des Realismus zeigte ein Vertrauen in den objektiven Blick und mußte ihn bereits als überlebte Illusion nostalgisch festschreiben." (S. 135)

Während Weissberg die Erzählperspektive in Stifters Turmalin dabei als Beleg für das Aktivwerden des Sehorgans liest, betrachtet von Graevenitz anhand desselben Texts den "perspektivischen Konstruktivismus" (S. 159), wenn er das Feld der Anthropologie berührt. Einerseits folgen allegorische Darstellungen des Wissens vom Menschen demjenigen "schematisierten Perspektivismus, der historisch betrachtet, der mechanistisch-geometrischen Anthropometrie, also gerade keinem >ganzheitlichen< Anblick des Menschen, Vorschub geleistet hat." (S. 158) Andererseits muß der literarische Blick auf den Menschen diese epistemologische Vorgabe korrigieren, um dem ebenfalls anthropologisch geforderten imaginären "Einheitsbild" (S. 159) des Menschen genügen zu können. Sowohl bei Stifter als auch in Gottfried Kellers Sinngedicht werden diese Korrekturen aber unter Verwendung desselben Perspektivismus vorgenommen und also "die medialen Strukturen als Grundlagen der imaginären Wirklichkeitserzeugungen" (S. 188) reflektiert.

3. Schreibweisen des Wissens

Treten auf diese Weise die materiellen Bedingungen der Wissenskonstruktion in den Blick, so ist konsequenterweise nach den Techniken wissensvermittelnden Schreibens zu fragen. Diesem Aspekt widmet sich eine dritte Gruppe nun allerdings nicht mehr aufeinanderfolgender Aufsätze, die sich mit den Bezügen zwischen literarischer und wissenschaftlicher Schreibweise beschäftigen und dabei eine Genealogie des populären Wissens nachzeichnen.

Eckhard Höfner stellt in seiner Rekonstruktion des Szientismus in der realistischen Literatur Frankreichs fest:

Realitätserfassung und somit -darstellung wird im 19. Jahrhundert zunehmend zu einem Reflexions- und Methodenproblem, das die französische Literatur [...] in einer Auseinandersetzung mit der / den (Natur-)Wissenschaft(en) lösen will. (S. 219)

Die Literatur der Zeit thematisiert Wissenschaftsfragen wie die Vererbung, rückt Figuren wie den Mediziner in den Vordergrund, reflektiert anhand von auktorialer Erzählhaltung und erlebter Rede epistemologische Perspektivenprobleme und tendiert schließlich zur evolutionstheoretisch informierten Zyklusbildung in Form der synchronen Taxonomie von Balzacs Comédie humaine und der diachronen Genealogie von Zolas Rougon-Macquart. Während diese Werkzyklen sich einerseits am Primat der Biologie wie an der analytischen Methodik der Beobachtung orientieren, trägt ihre freie "Produktion von Hypothesen" (S. 200) zugleich zum öffentlichen Verständnis der neuen Wissenschaften vom Leben bei.

Dieses öffentliche Bild wird in der Folge zunehmend überlagert von der populären Wissenschaftsprosa, deren Folge Katharina Grätz als "Szientifizierung der gesamten Kultur" (S. 241) identifiziert. Unter dem Deckmantel einer rezipienten- und nicht länger sachorientierten "Gemeinverständlichkeit" (S. 242) leistet Ernst Haeckel die "Übertragung biologistischer Modelle auf Gesellschaft und Kultur" (S. 243). Indem dabei wissenschaftliche Ergebnisse der "allgemeinsprachlichen Verstehensmöglichkeit" (S. 247) wie der "Relation zur Erfahrungswirklichkeit" untergeordnet werden, entpuppt sich "Haeckels Monismus [...] als ein weitgehend sprachliches Produkt." (S. 252)

Es handelt sich dabei, wie abschließend Horst Thomé verdeutlicht, um eine Sprache, die der Vermittlung von Weltanschauungen dient und am Beginn des 20. Jahrhunderts einen neuen Texttyp konstituiert: "Weltanschauungsliteratur" (S. 358) von Autoren wie Bölsche, Weininger oder Hitler kombiniert und plausibilisiert inhomogene Wissenselemente und kondensiert sie zu einem Kompensationsangebot für diejenigen heilsgeschichtlichen Erwartungen, die vom Positivismus abgesetzt, nicht jedoch ersetzt werden konnten. Hierzu bedient sich die Weltanschauungsliteratur mit vollen Händen aus der literarischen Tradition: Sie folgt einem Romanschema und neigt zur massiven Personalisierung des Autor-Ichs, das sich "gleichsam die Wahrheitsmächtigkeit des Dichters [erschleicht]" (S. 358) und nur auf diese Weise zum glaubwürdigen Garanten einer utopischen Gemeinschaft von Gleichgesinnten werden kann: "Im >Bund< stoßen Textorganisation und gesellschaftliche Praxis aneinander". (S. 375)

4. Literaturgeschichte des Wissens

Diese Wirkmächtigkeit traditioneller literarischer Fomen und Deutungspraktiken für das vermeintlich so szientifische Weltbild an der Wende zum 20. Jahrhundert unterstreichen die vier Beiträge des Sammmelbandes, die vorführen, auf welche Weise Literatur die Geschichte des Wissens eigenständig zu ergänzen vermag.

Noch Emile Du Bois-Reymonds Ablehnung des Wissenschaftlers Goethe wird in Ulrich Charpas aussagelogischer Analyse als ex post rationalisierende Wissenschaftskritik kenntlich, die der literarischen Tradition aber nicht zu entkommen vermag. Insofern Du Bois-Reymond Goethe biographisch, menschheitsgeschichtlich und hinsichtlich seiner anachronistischen Faust-Figur attackiert, übersieht er das Spekulativ-Ästhetische seiner eigenen Argumentation: "Du Bois-Reymonds Versuch, die Goethesche Naturforschung aus dem Bezirk >objektiver< und >empirischer< Wissenschaft zu verbannen, vollzieht sich ironischerweise in der Hauptsache als personalisierende und >rahmen<-orientierte Polemik." (S. 239)

In vergleichbarer Weise dekonstruiert Peter Matussek die ebenfalls am Faust ausgerichteten kritischen Lesarten zu Hugo von Hofmannsthals Der Tor und der Tod. Dem Vorwurf, Hofmannsthal habe Goethes Drama schlicht und schlecht plagiiert, stellt Matussek eine intertextuelle Relektüre entgegen, die aufzeigt, wie "die zum Bildungsgut mortifizierten Schichten [...] Reminiszenzen an immer frühere [wecken], und daraus bezieht der Dramentext seine animistische Qualität" (S. 333): Ebenso, wie im Drama die Begegnung mit dem Tod belebende Wirkung hat, muß bei Hofmannsthal "auch die literarische Sprache sterben, um den mortifizierten Gedächtnisraum der Schrift, dem sie angehört, zu neuem Leben zu erwecken" (S. 320). Durch die Folie von Goethes Faust wird so das Gedächtnistheater Giordano Brunos lesbar und die Literatur zum Schauplatz der grundlegenden Bedingungen allen Wissens: des Gedächtnisses.

Das ausgehende 19. Jahrhundert ist aber auch Zeuge, wie das Erinnerungsvermögen nicht länger rhetorisch oder magisch-anamistisch metaphorisiert, sondern experimentalpsychologisch vermessen wird. Thomas Borgard zeichnet in diesem Zusammenhang nach, wie die "Vorstellungsmechanik" und die "fragmentierte Psyche" (S. 294) in Musils Die Verwirrungen des Zöglings Törleß dort weiterzuschreiben beanspruchen, wo die Psychologie vor Freud nicht hinzulangen vermochte. Insofern Musils Frühwerk bewußtseinspyschologische Prozesse literarisch ausgestaltet, betreibt er den programmatischen Versuch einer Verwissenschaftlichung der Literatur.

Wissen in fiktiven Texten kann damit den Status einer wissenschaftlichen Hypothese gewinnen. Daß eine derartige Herangehensweise aber nicht in eine Marginalisierung der Literatur münden darf, die nurmehr als Kopie oder Forschreibung der Wissenschaften angesehen (wenn nicht gar geschrieben) wird, macht Walter Erharts Lektüre des Geschlechterdiskurses in der décadance-Literatur deutlich.

Wissenschaftshistorische Literaturforschung hat nach Erhart von dem genuinen Potential des neuen Paradigmas auszugehen, das alte Kontextproblem der Sozialgeschichte – Wie gelangt Textäußeres in Textinneres? – von vorneherein vermeiden zu können. Insofern Wissen stets selbst als Text vermittelt wird, ist die Zirkulation von Wissen zwischen Literatur und Wissenschaft medial fundiert:

Der Austausch des naturwissenschaftlichen >Wissens< zwischen den dafür vorgesehenen Einzeldisziplinen und den Erzählmodellen der >schönen< Literatur [...] bringt einen Geschlechter-Text zum Vorschein, der die Wissenschaftsgeschichte durchsichtig macht für einen in ihr selbst eher verborgenen Diskurs (S. 265).

Keineswegs ist diese generalisierte Textualität aber mit szientifischer Einheitlichkeit zu verwechseln. Ganz im Gegenteil vermag Erhart anhand von Thomas Manns Buddenbrooks und Richard Beer-Hofmanns Der Tod Georgs zu zeigen, wie fiktionale Texte die biologistische Hypothese von der Degeneration des Männlichen mit der einen Hand inszenieren können, um sie mit der anderen als wissenschaftliche Fiktion kenntlich zu machen: "Die Medizingeschichte enthüllt hier selbst eine mythische Geschlechter-Erzählung" (S. 275). Indem nicht nur die Literatur die Wissenschaft belehnt, sondern erstere letzterer zugleich die Perspektive des Fingierens unterstellt, wird so das grundsätzliche Potential einer wissenschaftshistorischen ">Poetik der Kultur<" (S. 283) erkennbar: Die Analyse, wie literarische Texte der Wisssen konstruieren verdeutlicht, daß auch die Naturwissenschaften auf Konstruktionen angewiesen sind und entlarvt ihren positivistischen Anspruch damit als – durchaus literarische – Fiktion.

5. Fazit

Ist nun ausgehend von einer solchen Beispielsanalyse Wissen grundsätzlich als rhetorisch-imaginäre Konstruktion zu betrachten? An derartigen methodischen oder konzeptuellen Verallgemeinerungen ist es dem Sammelband weniger gelegen, als an einem Panorama der verschiedenen Formen des Wechselspiels zwischen Gehalt, Funktion und Darstellung von >Wissen in Literatur<. Zu einem systematischen Panorama organisieren sich die Beiträge dabei allerdings nur implizit. Die Konzeption des Bandes artikuliert sich, vergleicht man sie mit den zahlreichen programmatischen Publikationen der letzten Jahren zum Thema, eher zurückhaltend und löst die angekündigte "systematische Hinsicht" (S. 6) in kein methodisches Angebot um.

Bedenken gegenüber der von Erhart in diesem Sinne aufgegriffenen Fügung "Poetik der Kultur" mag man – und zwar eher was den Begriff >Poetik< als was den der >Kultur< betrifft – berechtigt vorbringen. Sie jedoch in ihren forschungspraktischen Implikationen probeweise durchzudeklinieren, kann dennoch produktiv sein. Gerade der vorliegende Band liefert hinreichend Anzeichen dafür, daß eine solche kritische Ausdifferenzierung des kulturpoetischen Ansatzes sich weit besser mit dem der traditionellen Philologie arrangieren ließe, als manche Krisendiagnose der letzten Jahre dies wahrhaben möchte.

Die Beiträge von Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert jedenfalls machen deutlich: Wissen und Literatur, Wissenschaftsgeschichte und Philologie schließen einander nicht aus, sondern sind vielmehr in der Lage, die blinden Flecken des jeweils anderen Feldes zu illustrieren und zu kompensieren. Die Wissenschaftsgeschichte lehrt, woher sich das Wissen der Texte schreibt, die Philologie, daß es sich auch anders schreiben ließe. Eine >kulturwissenschaftliche Wende< in Gestalt eines Paradigmenwechsels der Philologien, von dem einleitend die Rede war, ist daher weder zu befürchten noch utopisch zu verklären. Vielmehr ist den Beiträgern des Sammelbandes das gemeinsame Plädoyer zu entnehmen, die idealtypische – wissenschaftspolitisch aber nach wie vor wirkmächtige – Trennung zwischen den >zwei Kulturen< zu überwinden, ohne die Relationen zwischen ihnen dabei als Einheit eines Diskurses mißzuverstehen.

Das kann nur in Form differenzierter interdisziplinärer Lektüren geschehen, und von diesen bietet der Band von Vollhardt / Danneberg hinreichend viele. Daß er die grundsätzliche Crux der wissenschaftsgeschichtlich orientierten Literaturwissenschaft – nur einzelne Autoren und Epochen auswählen und gegenüber bisherigen Modellen der Literaturgeschichte rekontextualsieren zu können – nicht auflösen kann, sei ihm als Sammelband nicht zum Vorwurf gemacht. Die relative Willkür (keinmal Büchner!) und Gewichtung (mehrfach Stifter) der behandelten Autoren, die deutlichen Lücken vor allem mit Blick auf die angelsächsische Literatur sowie die fehlenden Anschlüsse an einige zentrale wissenschaftlichen Traditionslinien im Literatursystem (wie Magnetismus, Psychiatrie, Ökonomie) sind weniger als Mängel eines einzelnen Buches zu lesen, denn als Aufgabe, eingespielte literaturgeschichtliche Zusammenhänge und Lesegewohnheiten im Lichte der Epistemologie zu revidieren.


Dr. Nicolas Pethes
Universtät Bonn
Germanistisches Seminar
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Ins Netz gestellt am 09.09.2003
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Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Nina Ort.


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Anmerkungen

1 Vgl. Hartmut Böhme / Lutz Danneberg / Jörg Schönert / Friedrich Vollhardt (Hg.): Vom Umgang mit Literatur und Literaturgeschichte. Positionen und Perspektiven nach der "Theoriedebatte". Stuttgart 1992. – Karl Richter / Jörg Schönert / Michael Titzmann (Hg.): Die Literatur und die Wissenschaften 1770–1930. Stuttgart 1997. – Lutz Danneberg / Jürg Niederhauser (Hg.): Darstellungsformen der Wissenschaften im Kontrast. Aspekte der Methodik, Theorie und Empirie. Tübingen 1998.   zurück