Pieper über Bogdal / Korte: Grundzüge der Literaturdidaktik

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Irene Pieper

Orientierend, aber gelegentlich konturlos: Literaturdidaktik in Grundzügen

  • Klaus-Michael Bogdal; Hermann Korte (Hg.): Grundzüge der Literaturdidaktik. München: dtv, 2002. 329 S., kart., EUR (D) 11,50
    ISBN 3-423-30798-6.


Einführungen und Handbücher haben Konjunktur: Offensichtlich gibt es einen Markt für die überschaubaren Bändchen, die das Versprechen im Titel tragen, den Weg durch eine zunächst mehr oder weniger unbekannte Wissenschaft zu bahnen oder zumindest einige Schneisen zu schlagen. Nach Elisabeth Paefgens Monographie "Einführung in die Literaturdidaktik" (1999) folgt 2002 die Herausgeberschrift "Grundzüge der Literaturdidaktik", wenige Monate später die "Deutsch Didaktik. Leitfaden für die Sekundarstufe I und II" (hrsg. v. Michael Kämper-van den Boogaart, Berlin 2003). Auf Seiten der Sprachdidaktik wäre zu nennen die "Sprachdidaktik Deutsch. Eine Einführung" von Wolfgang Steinig und Hans-Werner Huneke (Berlin 2002) und jüngst das nicht mehr ganz so handliche Handbuch "Didaktik der deutschen Sprache" (hg. von Ursula Bredel, Gesa Siebert-Ott, Hartmut Günther u.a., Paderborn u.a., 2003). Offensichtlich begegnet dem Orientierungsbedürfnis der angesprochenen Leserschaft ein disziplinärer Impuls nach Erschließung des eigenen Feldes und nach Standortbestimmung. Signifikant ist dabei schon, dass der zu besprechende Band die Nähe zur Literaturwissenschaft betont, während die Deutsch Didaktik den Gegenstandsbereich Deutschunterricht fokussiert und Sprache und Literatur integriert.

Die Herausgeber stellen hier den mehrfach neuaufgelegten "Grundzügen der Literaturwissenschaft" (Hg. Heinz Ludwig Arnold und Heinrich Detering, München: dtv, 1996) eine Einführung an die Seite, die die Literaturdidaktik als eine "eigene Fachdisziplin" innerhalb der Literaturwissenschaft verortet. Die "Grundzüge der Literaturdidaktik" wollen die Themenfelder der relativ gesehen jungen Wissenschaft abstecken und Einblick in die aktuelle Forschungssituation geben. Als Sammelband mit Beiträgen vieler namhafter LiteraturdidaktikerInnen konzipiert, bilden die "Grundzüge" zugleich die Ausdifferenzierung – oder auch Heterogenität – der Disziplin ab.

Die Zielgruppe reicht dem Anspruch nach über künftige und derzeitige LehrerInnen und die entsprechenden AusbilderInnen hinaus: Der Band will alle an der "Vermittlung von Literatur in Gesellschaft und Kultur" Interessierten ansprechen. 1 Den Überblick über die zu bearbeitenden Gebiete organisieren die Herausgeber in fünf Hauptkapiteln, die ihrerseits die Nähe zum – landläufig als >Hauptanwendungsfall< der Literaturdidaktik betrachteten – Literaturunterricht verdeutlichen: Gegenstand und Geschichte (I), Grundlagen des Literaturunterrichts (II), Basiskonzepte für den Literaturunterricht (III), Literaturgeschichte und literarische Gattungen (IV, auf den Kontext des Unterrichts hin angelegt) und Methodenfragen (V). Schon diese Gliederung des Bandes schränkt den Adressatenkreis dann doch wieder ein auf diejenigen, die am Umgang mit Literatur im institutionellen Kontext der Schule interessiert sind. Literarisches Lesen und entsprechende Vermittlungsbemühungen außerhalb des Deutschunterrichts werden lediglich in Hinblick auf ihre Bedeutung für den Literaturunterricht und die individuellen Voraussetzungen der SchülerInnen in den Blick genommen.

Die Rezension liest ausgewählte Beiträge in Hinblick auf Aufgaben und Perspektiven der Literaturdidaktik und des Literaturunterrichts.

Der Vermittlungsauftrag
als "Orientierungspunkt" der Literaturdidaktik

In seinem grundlegenden Beitrag "Literaturdidaktik im Spannungsfeld von Literaturwissenschaft, Schule und Bildungs- und Lerntheorien" 2 modelliert Bogdal die Literaturdidaktik als eine Wissenschaft in Konstitutionsverhältnissen, d.h. als eine solche, die in die Praxis anderer Wissenschaften eingreife (mit Althusser; 12 / 13) und so Anschlussmöglichkeiten schaffe. Der Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik weist er einen gemeinsamen Aufgabenbereich im Zusammenhang der institutionellen Vermittlung von Literatur zu. Beide "legen Archive des Wissens über Literatur an und sichern ihren Fortbestand, sie leisten einen wichtigen Beitrag zum kulturellen Gedächtnis der Gesellschaft und geben die elaborierten Fähigkeiten im Umgang mit komplexen sprachlich-ästhetischen Gebilden weiter, die literarische Werke nun einmal sind" (13). Während allerdings die Literaturdidaktik den Vermittlungsauftrag zum "Orientierungspunkt" ihrer Arbeit gemacht habe, habe die Literaturwissenschaft ihn verdrängt (13). Was sie statt dessen tut, ist für die Literaturdidaktik nach Bogdal dennoch unverzichtbar, denn die "literaturwissenschaftlich fundierte Vermittlungstätigkeit bildet das Zentrum der Literaturdidaktik" (15). Die Literaturwissenschaft leistet folglich die systematische Erforschung des Gegenstands Literatur, auf der die Didaktik aufbaut.

Mit dieser Gegenstandsorientierung sind zwar die Erforschung von Leseprozessen und Vermittlungsmethoden nicht überflüssig, aber eine Rangfolge ist schon impliziert, zumal nur über diese Orientierung die Germanistik insgesamt wie die Literaturdidaktik im besonderen ihren Beitrag zum Erwerb einer "Medienkulturkompetenz" leisten kann. Darin, so Bogdal, bestehe die künftige Aufgabe (12; 16). Die besondere Leistung literarischen Lesens in der kulturellen Kommunikation sieht Bogdal gegenwärtig noch – mit Eggert – in der Ausprägung einer eigenen Form von "Intellektualität" (16). Bogdal orientiert sich offensichtlich weniger am Prozess des Erwerbs literarischer Rezeptionskompetenzen als an einer Zielperspektive, die hochkulturellen Geist atmet, auch wenn er einräumt, dass die kulturelle Bedeutung von Literatur ebenso im Fluss ist wie der Begriff der Bildung angesichts des gesellschaftlichen Wandels neu gefasst werden müsste (wie bleibt allerdings offen).

Überhaupt gerät der Vermittlungsauftrag der Literaturdidaktik kompliziert, etwa wenn man mit Bogdal das Verhältnis von Literaturdidaktik und Schule bedenkt. Letzterer komme auch die Aufgabe des "Ausgleich[s] der kulturellen Standards" und der "Angleichung kulturellen Wissens" zu, was sich angesichts der gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklung als schwierig herausstellt. Bogdal schließt sich Analysen an, die in eine "poststrukturalistische Literaturdidaktik" und die Bearbeitung von Literatur in Hinblick auf die mediale Machart von Texten münden. Kennzeichen der Gegenwart seien Brüche innerhalb der Kultur, vor allem aber auch eine veränderte Wahrnehmungsweise heutiger Schüler und Schülerinnen, die mit Erlebnisorientierung umschrieben werden kann und der es, folgt man dem Verfasser, an historischer und psychologischer Tiefe fehlt.

Bogdal beobachtet einen grundsätzlichen Wandel in der (Alltags-)Ästhetik weg von symbolischer Repräsentation hin zu Simulation. Angesichts dieser Diagnose ist die Lesbarkeit der literarischen Überlieferung erst mühsam wiederherzustellen. Dieses Ziel bleibt bei Bogdal unaufgebbar und ist auch Maß für Impulse aus Bildungs- und Lerntheorien. Letztere dürften die Literatur nicht auf einen Anreger der kognitiven Entwicklung reduzieren. Was der Literaturdidaktik schließlich bleibt, ist die Frage danach, "was die Vermittlung von Literatur heute für die Lebensentwürfe der Individuen erbringt und worin Literatur weiterhin unersetzbar ist" (29).

Damit wird es freilich jetzt erst spannend: Was heißt Arbeit am kulturellen Gedächtnis in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation? Und wie lässt sich mit der Orientierung an einem entsprechenden Konzept literarischer Bildung der Anspruch einlösen, diese Arbeit "auf allen Schulstufen und in allen Schularten von der Hauptschule bis zur Berufsschule" zu tun? Müsste nicht eine entwicklungspsychologische Betrachtung mit der Diagnose gegenwärtiger Wahrnehmungsmuster verschränkt werden? Oder stellt sich die Frage nach der Enkulturationsfunktion von Literaturunterricht erst für die Sekundarstufe?

"Grundlagen des Literaturunterrichts":
Literarische Sozialisation

Das folgende Kapitel bietet vier verschiedene Perspektiven, die die Voraussetzungen des Unterrichts beleuchten: Werner Grafs Beitrag "Literarische Sozialisation" geht – auf den Spuren der "Lesegenese" – konkreten Lektürepraktiken von Kindern und Jugendlichen nach. Die entscheidende Erweiterung der Lesetätigkeit in Hinblick auf Stoffe und Modi überführt er im Schlussteil in eine aus jeweils sechs Komponenten bestehende Konzeption von literarischer Rezeptionskompetenz in Hinblick auf fiktionale und nicht-fiktionale Texte. Grafs rein deskriptiv gewonnener Kompetenz-Begriff, der in Hinblick auf den Gegenstand zwischen literarischen Texten und Sachtexten unterscheidet, verliert an Unterscheidungskraft, wenn auch schon "instrumentelles Lesen zur gezielten Informationsbeschaffung" (58) der literarischen Rezeptionskompetenz zugeschlagen wird. Gerade aus der Perspektive der Sozialisation bietet es sich wohl eher an, mit einem Modell von "Lesekompetenz" zu arbeiten 3, ohne die Schnittmengen zwischen dieser und einer literarischen Kompetenz zu ignorieren.

Grafs Beitrag sollte aber wohl weniger an der Modellierung von Kompetenz-Begriffen gemessen werden, zumal seine vorrangige Quelle, die retrospektiv verfassten Lektüreautobiographien von Studierenden, über konkrete Textkompetenzen kaum Auskunft geben können. Der Gewinn dürfte gerade für Einsteiger in die Lesesozialisationsforschung darin liegen, dass sie hier einen Einblick in die für die Lesegenese bestimmenden Faktoren erhalten und zumindest Antwortansätze zu Bogdals eingangs formulierter Frage finden, warum eigentlich lesen. Zudem zieht nun endlich die Perspektive des Erwerbs ein, wenn Graf die Kindheitslektüre mit dem primären Zug des Sich-Versenkens-in-eine-Welt von der differenzierten Jugendlektüre und ihren Krisen unterscheidet.

Arbeit am Kanon

Vom Subjekt zur textgegenständlichen Grundlage des Literaturunterrichts führt Hermann Korte, der auf 17 Seiten gewinnbringenden Einblick in die "Historische Kanonforschung und Verfahren der Textauswahl" bietet. Wenn Literaturdidaktik Arbeit am kulturellen Gedächtnis betreibt, kommt der Kanonfrage entscheidende Bedeutung zu. Korte beobachtet in Hinblick auf Gestalt und Bedeutung des Kanons dessen mehr und mehr individuelle Ingebrauchnahme und Flexibilisierung. Er interpretiert diesen Befund jedoch nicht kulturpessimistisch, sondern sieht eher die Chance, auf die ethnische und kulturelle Vielfalt mittels einer Kanon-Revision einzugehen und neue Rezeptionskontexte bereit zu stellen, die aus dem Medienwandel Kapital schlagen.

Lässt sich die Arbeit am kulturellen Gedächtnis mit der Individualisierung kanonischer Lektüre überhaupt noch vereinbaren? Eine Andeutung findet sich bei Korte: Der Kanon offeriere nun Angebote, "die der Kanonadressat annehmen kann oder auch nicht. Damit wird Kanon-Wissen entweder institutionelles Wissen (für diverse Prüfungssysteme) oder ein bloßes Potenzial zur Selbstfindung und Selbstdarstellung, das zu aktivieren oder zu verwerfen Sache des einzelnen Individuums ist" (68). Seine vorgängige Funktion als Stifter kultureller Kontinuität hat der Kanon damit freilich eingebüßt.

Über Korte hinausgehend, könnte allerdings ein differenzierteres Modell der Selbstfindung, das die Wechselbeziehung zwischen Individualität und Sozialität stark macht und sich unter anderem in der diskursiven Bearbeitung der >Angebotsstruktur< äußert, auch eine Bindekraft des jeweils zu konstitutierenden Kanons herstellen. Wo diese ganz und gar fehlt, kann Literaturunterricht wohl kaum, wie von Bogdal gefordert, Arbeit am kulturellen Gedächtnis sein. Insofern geht es bei der Kanonfrage nach wie vor ums Ganze. Wie problematisch Verfahren der Textauswahl geraten können, die sich ausschließlich an der Identitätsentwicklung von Kindern und Jugendlichen orientieren, macht Korte abschließend deutlich, wenn er die Hypostasierung dieses Ziels hinterfragt und den intendierten Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung in die Nähe der "Lebenshilfe-Didaktik" rückt. Der Differenziertheit der Argumentation entsprechend, plädiert Korte am Ende bescheiden für eine "Heuristik der Textauswahl", die – weniger bescheiden – Teil von notwendigen Selbstklärungsprozessen sei.

Multikulturalität und Mehrsprachigkeit

Dass der diagnostizierte Wandel zur multikulturellen Gesellschaft, der eine besonders eindrückliche Anfrage an die Vorstellung der literarischen Kultur und ihrer Überlieferung darstellt, systematisch berücksichtigt wird, ist ein besonderes Verdienst des Bandes. Gabriela S. Wilkens und Ursula Neumann erörtern "Multikulturalität und Mehrsprachigkeit als Lernbedingungen im Literaturunterricht". 4 Nach informativen Darlegungen zur multikulturellen Zusammensetzung in der Gesellschaft und ihrer Auswirkung auf Schulklassen, deren Lehrerschaft weder auf den unterschiedlichen Sprachstand der Lerngruppen noch auf die kulturelle Vielfalt hinreichend vorbereitet ist, markieren die didaktischen Anregungen der Verfasserinnen für den Literaturunterricht allerdings eher einen Anfang. Bezogen auf die Gegenstände plädieren beide für eine Relativierung der Bedeutung deutschsprachiger Literatur und regen unter anderem an, "Formen literarischer Mehrsprachigkeit" im Unterricht zu berücksichtigen.

Die besondere Bedeutung der Literatur im Zusammenhang einer interkulturellen Erziehung sehen sie mit Spinner darin, dass gerade diese Möglichkeiten der Entwicklung perspektivischer Wahrnehmung und des Fremdverstehens bereit hält. Der Beitrag reflektiert aber eine besonders markante Problemlage nicht: Dass der Migrationshintergrund zahlreicher Schülerinnen und Schüler einher geht mit sozial schwächeren Milieus, die der literalen Kultur oft fern stehen, stellt für den Literaturunterricht besonders außerhalb des Gymnasiums eine erhebliche Schwierigkeit dar. Neben die sprachliche Hürde tritt die Distanz zur kulturellen Praxis Lesen insgesamt, so dass sich die Frage >warum literarisch lesen?< in aller Schärfe stellt.

Medienunterricht

Auch Jutta Wermke verlässt das Terrain eines deutschsprachig-literarisch geprägten Literaturunterrichts, wenn sie anschließend die Integration von "Literatur- und Medienunterricht" 5 begründet und dabei Medien nicht nur als Mittel, sondern auch als Gegenstand des Deutschunterrichts verankert sehen will. Da Literatur in vielfache Austauschprozesse mit anderen Medien eintritt, sind nach Wermke unter der Fachperspektive "vor allem Prozesse der Koevolution und Phänomene der Intermedialität didaktisch relevant" (96). Unter der Rezipientenperspektive sind es hingegen vor allem die "außerschulische Bedeutung der Medien für Kinder und Jugendliche und der Zusammenhang ihrer Auswahltendenzen mit übergeordneten Einstellungen" (99).

Angesichts der Ausdifferenzierung der Medienlandschaft und der erheblich gewachsenen Bedeutung der audiovisuellen Medien und des Computers in der Sozialisation nimmt Wermke eine Modellierung der "Zieldimensionen" im Deutschunterricht vor, die quasi unter dem Stern der Medienkompetenz steht. 6 Bei Wermke fungiert diese als übergeordneter Begriff zur Lesekompetenz, verfügt über erhebliche Schnittmengen mit der "Ästhetischen Bildung" und bedeutet zugleich "Politische Bildung". Wermkes Anregungen in Hinblick auf die Unterrichtsgestaltung machen deutlich, dass so verstandener Medienunterricht Fachgrenzen, aber auch gängige Organisationsformen von Unterricht überschreitet.

Es ist sicher kein Zufall, dass der Begriff der literarischen Kompetenz nicht fällt. Das Feld des Literaturunterrichts im engeren Sinn ist mit dieser Konzeption verlassen, Buchlektüre wird nun eingeordnet, was ihren Stellenwert relativiert. Hinweise auf den spezifischen Beitrag literarischen Lesens gibt Wermke zwar durchaus. Angesichts der veränderten Prioritäten muss aber noch gesichert werden, dass die entsprechenden Kompetenzen entwickelt werden, etwa der lange Atem in der Rezeption oder das Vorstellungsvermögen. In der Auseinandersetzung um die Ergebnisse der PISA-Studie sind zudem die Anfragen an den Stellenwert der Lesekompetenz als Ziel des Deutschunterrichts lauter geworden, Anfragen, denen sich auch ein Deutschunterricht als Medienunterricht zu stellen hat.

"Basiskonzepte für den Literaturunterricht":
literarisches Lesen

Der dritte Bereich des Bandes widmet sich Basiskonzepten für den Literaturunterricht. Ulf Abraham legt unter der Überschrift "Lesen – Schreiben – Vortragen / Vorlesen" 7 eine Konzeptionalisierung literarischen Lesens dar, die kognitionspsychologische und rezeptionsästhetische Einsichten integriert – wie es, so Abraham, dem Stand der Forschung entspricht (105) – und die subjektive und textseitige Faktoren beim Deutungsprozess ausbalanciert. Die Text-Leser-Interaktion zeichnet Abraham im Falle literarischen Lesens durch eine Irritationsstruktur aus: "Literatur liest man nicht trotz, sondern gerade wegen ihrer Wirkung kognitiver und emotionaler Irritation." (106) Die apodiktische Formulierung provoziert hier zumindest die Rückfrage, ob dies auch für die Rezeption derjenigen Literatur gilt, die außerhalb der Hochliteratur zu verorten wäre und Wahrnehmungsgewohnheiten oft eher bestätigt als hinterfragt.

Entsprechende Einschränkungen nimmt Abraham in Hinblick auf die "Sensibilisierung für Funktionen der Sprache" explizit vor. Darüber hinaus stellt er den Zusammenhang zwischen Lesen und Vorstellungsbildung, Begriffsbildung, Gemeinschaft und >Verstehen< her und bietet so Ansatzpunkte zur Konkretisierung der weitreichenderen Funktion des Lesens für die Persönlichkeitsentwicklung, ehe er in einem eigenen Unterkapitel auf das Schreiben als reflexiver Praxis eingeht. Schreiben ermögliche "die Verarbeitung des von Literatur provozierten Selbst- und Fremdverstehens" (105). Mit dem Vorlesen und Vortragen geht Abraham abschließend auf Textdeutung qua mündlicher Realisation ein. Man liest diesen prägnant orientierenden und strukturierten Beitrag mit Gewinn und bedauert allenfalls sein etwas unvermitteltes Ende.

Literarisches Lesen
in der Primar- und Orientierungsstufe

Angesichts der Dominanz, die die Orientierung an der Sekundarstufe, wenn nicht gar am Gymnasium in weiten Teilen literaturdidaktischen Arbeitens nach wie vor innehat, ist ein eigenes Kapitel zum literarischen Lernen in Primar- und Orientierungsstufe im Rahmen der Basiskonzepte besonders zu begrüßen. 8 Petra Büker berücksichtigt zunächst die sozialisatorischen und entwicklungsbedingten Voraussetzungen der 6-12-Jährigen und formuliert die Aufgaben literarischen Lernens in Anlehnung an Kaspar Spinner: Es "soll dem Aufbau einer stabilen Lesemotivation, der Entwicklung einer Texterschließungskompetenz, der ästhetischen Sensibilisierung, der Identitätsfindung und dem Fremdverstehen, der Auseinandersetzung mit anthropologischen Grundfragen und der Förderung von Imagination und Kreativität dienen" (130).

Insbesondere der Bereich Texterschließungskompetenz, im Anschluss an die PISA-Studie verstärkt in der Diskussion und in der Primarstufe naturgemäß nicht einfach gegeben, bleibt allerdings so gut wie ausgeblendet. Konzeptionen zum "weiterführenden Lesen" im Sinne eines Lesecurriculums bis in die Sekundarstufe I sollten nicht Anstrengung der Sprachdidaktik allein sein, zumal gerade literarisches Lesen Möglichkeiten bietet, das Wechselspiel der Entwicklung von Lesefähigkeit und Lesemotivation zu nutzen.

Kinder- und Jugendliteratur:
>Lebens- vs. Bildungsbedeutsamkeit<

Dass die Kinder- und Jugendliteratur als Sozialisationsliteratur mit zunehmender ästhetischer Komplexität gewissermaßen ein "Curriculum literarischer Enkulturation"(142) bietet, führt Bettina Hurrelmann aus. Allerdings berge der Kontext der Schule die Gefahr der "Eingemeindung" der Kinder- und Jugendliteratur in den "engen Zusammenhang der schulischen Leistung und des planmäßigen Lernens". Lesefördermaßnahmen müssten deshalb so gestaltet sein, dass sie in eine freiwillige, selbstgesteuerte Lesepraxis führen, und so die Basis für eine stabile Lesepraxis und weiterführendes literarisches Lernen legen. Mit dem Dauerdilemma, >Lebensbedeutsamkeit< in >Bildungsbedeutsamkeit< überführen zu wollen, ist ein Problem des didaktischen Umgangs nicht nur mit Kinder- und Jugendliteratur formuliert. Wer gerade Bükers Plädoyer für literarisches Lernen in der Grundschule gelesen hat, wird sich fragen müssen, wie die beiden Positionen zusammengehen.

Arbeit an der Literaturgeschichte

Die Beiträge zur Didaktik der Literaturgeschichte (Karl Heinz Fingerhut) und Gegenwartsliteratur im Unterricht (Clemens Kammler) im folgenden Hauptkapitel greifen erneut auf die Kanonfrage zurück. Fingerhut plädiert angesichts der Unmöglichkeit, schlicht anzugeben, was "ein literarisches Werk >bedeutet<" oder "wie es >historisch einzuordnen< ist" (152), dafür, Literatur im gesellschafts-kulturellen Kontext zu betrachten, "so dass literarische Werke vor dem Hintergrund kontroverser Denk- und Empfindungsformen einer vergangenen Zeit sichtbar und aus der Perspektive des Heute diskutierbar werden (152)." Als besondere Form des Erinnerns, weniger an Machtstrukturen als an Personen und ihren Geschichten orientiert, kann Literaturgeschichte das historische Bewusstsein schärfen.

Widersprüche zu erkennen ist dabei lehrreicher, als institutionell tradierte Linien nachzuvollziehen. Dies bedeutet auch, dass Lehrkräfte bekannte Epochenschemata nicht einfach zur Grundlage der Betrachtung machen, weil sie so doch einen Konsens herstellen, der einer festlegenden Interpretationspraxis entspricht. Fingerhut will literaturgeschichtliches Arbeiten als >forschendes< bzw. >wissenschaftspropädeutisches< Lernen verstanden wissen (164). Die SchülerInnen müssen sich dann selbst orientieren in einer Breite von Texten und verschiedene Perspektiven kennen lernen statt ein Werk als Exemplum zu betrachten.

Die Motivation dazu komme wohl nicht allein aus der Sache heraus. Fingerhut vertraut aber auf die Kraft der Narration, mittels derer die Lehrkraft – ergänze: passioniert – die Kluft zwischen Werk und Lebenswelt der Schüler und Schülerinnen verringern könnte. Das Plädoyer für die Arbeit am Kanon, an der die SchülerInnen wesentlich beteiligt sind, gibt auch eine Antwort auf die Frage nach Gestalt und Bedeutung des kulturellen Gedächtnisses und schließt insofern an Bogdals Beitrag an.

Clemens Kammler tritt angesichts der nach wie vor zu beobachtenden Zurückhaltung, neueste Literatur in der Schule zu lesen, für eine "Didaktik des Experiments" ein (175), die sich nicht am vermeintlich Bewährten orientiert, sondern an den Erkenntnissen von literarischer Sozialisations- und Unterrichtsforschung. Welche Rolle die zum Teil recht sperrige Gegenwartsliteratur in der literarischen Sozialisation Jugendlicher heute spielt, bleibt zunächst allerdings eine Frage Kammlers, immerhin weist er auf einige Titel sehr junger AutorInnen hin und, mit Kämper-van den Boogaart, auf einen gewissen Boom aktueller Literatur bei Jugendlichen.

Die Hoffnung liegt darin, der Lesepraxis von SchülerInnen besser begegnen bzw. diese anregen zu können. Eine "didaktische(n) Literaturkritik" müsste die Auseinandersetzung darüber betreiben, welche Literatur denn jeweils Stoff des Unterrichts sein kann. Dass im Bereich der Auswahl und Bearbeitung von Gegenwartsliteratur insgesamt besondere Möglichkeiten liegen, die Teilhabe am literarischen Leben im Sinne einer gegenwartskulturellen Praxis zu initiieren, wäre noch auszuführen.

Die folgenden vier Beiträge zu Dramendidaktik (Bogdal / Kammler), Romanen und Erzählungen im Unterricht (Joachim Pfeiffer), Lyrik im Unterricht (Hermann Korte) und Film (Peter Christoph Kern) machen die jeweils zu behandelnde Gattung naturgemäß stark: besondere Möglichkeiten der Bühne werden darin gesehen, eingeschliffene Wahrnehmungsmuster mit Tiefenwirkung zu irritieren, der Bereich des Erzählens erscheint in Hinblick auf neue mediale Erzählformen hypertextueller und interaktiver Art aufs Neue interessant, der Umgang mit Lyrik kann Besonderes leisten im Hinblick auf die Sprachsensibilisierung. Angesichts der Bedeutung audiovisueller Medien votiert Kern weitreichend für ein verändertes Konzept ästhetischer Kompetenz.

Hermeneutik und Poststrukturalismus

Mit einem sehr instruktiven Beitrag zu "Analyse und Interpretation. Hermeneutische und poststrukturalistische Tendenzen" eröffnet Jürgen Förster den abschließenden Block zu Methodenfragen. 9 Ausgehend von der Differenz zwischen literaturwissenschaftlicher Methodendiskussion, die Förster weitgehend jenseits der Hermeneutik verortet, und schulischer Praxis gilt Försters Interesse der Verankerung poststrukturalistischer Positionen im Literaturunterricht, ohne dabei die Hermeneutik ganz und gar zu verabschieden. Den Beitrag des Poststrukturalismus bestimmt er unter anderem darin, jenseits von Orientierungseinheiten wie Autor oder Werk die "Funktionsweise der Traditionsbildung selbst" zu betrachten (237). In der radikalen Orientierung an der Materialität von Sprache und Schrift sieht er die Bedeutung des Textes – jenseits der Interpretation – restituiert. Geltung erhält der Text allerdings nur aufgrund "konventioneller Regelungen in bestimmten historischen und sozialen Kontexten", denen wiederum die diskursanalytische Perspektive – und die Sympathie Försters – gilt (240).

Förster räumt ein, dass das hermeneutische Vorgehen im Literaturunterricht gewissermaßen unerlässlich ist und landet bei einem integrativen Modell: Die dekonstruktive, sprachskeptische Lektüre dient der Überprüfung und Gegenlese einer ersten Interpretation. Ihr besonderer Wert liegt in der sehr präzisen Arbeit am Sprachmaterial, die diese Art der Bearbeitung in die Nähe des Sprachunterrichts rückt (Förster mit Fingerhut, 245). Die diskursanalytische Betrachtung kann sich dann anschließen, um den Mechanismen kultureller Sinnkonstruktion auf die Spuren zu kommen. Förster sieht in dieser Arbeitsweise eine Möglichkeit, die Position der Literatur als Medium von Bildung erneut zu bekräftigen.

Im folgenden Beitrag bietet Kaspar Spinner einen differenzierten Überblick über Begründung, Geschichte und Positionen des Handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterrichts. Den Raum des Literaturunterrichts überschreiten die letzten beiden Beiträge. 10 Insbesondere Schindlers Beitrag "Verbundsysteme" fügt sich den "Grundzügen der Literaturdidaktik" nicht recht ein, weil ein Bezug zu Arbeitsfeldern von Literaturdidaktik und -unterricht im engeren Sinn kaum hergestellt wird. So wird eher der Verdacht genährt, integrative und fächerübergreifende Konzepte gingen auf Kosten eines eigenen Profils.

Fazit

Studierende des Lehramts Deutsch und LeserInnen, die sich im Feld der Literaturdidaktik orientieren möchten, lesen diesen Band mit Gewinn. Sie lernen die Kernprobleme der Text- oder Subjektorientierung, der Wertigkeit der Gegenstände und Ziele von Vermittlungsbemühungen – literarische Bildung?! – kennen. Bogdals Programm funktioniert nicht als Leitlinie der versammelten Beiträge, so dass sich am Ende allerdings kein Profil der Literaturdidaktik abzeichnet und Auseinandersetzungen um die genannten Kernprobleme teilweise implizit bleiben. Die Diskussion der vergangenen Monate drehte sich vor allem um Fragen der Lesekompetenz, denen sich auch die Literaturdidaktik stellen muss und zu der sie beitragen kann. Hier bietet der Band nur Ansätze. Die jüngere Entwicklung mindestens seit PISA deutet darauf hin, dass eine noch stärkere Orientierung an der Erwerbsperspektive in Hinblick auf Fähigkeiten im Umgang mit Sprache und Literatur geboten ist, was den Blick eher auf die Einheit >Deutschdidaktik< als auf die Position der Literaturdidaktik in der Literaturwissenschaft lenken dürfte. Primarstufe und Sekundarstufe I sollten systematisch auch aus literaturdidaktischer Perspektive stärker berücksichtigt werden. Die Beiträge zum literarischen Lernen und zu Fragen der Mehrsprachigkeit bieten hier Anfänge. Gewinn dürfte gerade in diesen beiden Fällen aber aus einem engeren Dialog mit der Sprachdidaktik zu ziehen sein.


Dr. Irene Pieper
Institut für deutsche Sprache und Literatur I
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt
Grüneburgplatz 1
D–60 323 Frankfurt am Main

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Ins Netz gestellt am 18.09.2003
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Anmerkungen

1 Klaus-Michael Bogdal, Hermann Korte: Vorwort. Im besprochenen Band S. 7 / 8.    zurück

2 S. 9–29 im besprochenen Band.    zurück

3 Vgl. Norbert Groeben, Bettina Hurrelmann (Hg.), Lesekompetenz. Bedingungen, Dimensionen, Funktionen. Weinheim: Juventa, 2002.    zurück

4 S. 78–90 im besprochenen Band.    zurück

5 S. 91–104 im besprochenen Band.    zurück

6 Zum Ganzen liegt inzwischen vor: Norbert Groeben, Bettina Hurrelmann (Hg.): Medienkompetenz. Voraussetzungen, Dimensionen, Funktionen. Weinheim: Juventa, 2002.    zurück

7 S. 105–119 im besprochenen Band.    zurück

8 S. 120–133 im besprochenen Band.    zurück

9 S. 231–246 im besprochenen Band.    zurück

10 Frieder Schülein und Michael Zimmermann: Spiel- und theaterpädagogische Ansätze, S. 258–271 im besprochenen Band; Frank Schindler: Verbundsysteme: Integrativer Deutschunterricht und fächerübergreifendes Lernen, S. 272–288.    zurück