Pott über Häfner: Philologie als Grundlagenwissenschaft in der Frühen Neuzeit

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Sandra Pott

Philologie als Grundlagenwissenschaft
in der Frühen Neuzeit

  • Ralph Häfner (Hg.): Philologie und Erkenntnis. Beiträge zu Begriff und Problem frühneuzeitlicher >Philologie<. (Frühe Neuzeit, Bd. 61) Tübingen: Niemeyer 2001. 392 S. Geb. DM 192,-.
    ISBN 3-484-36561-7.


ABRACAS (Abraxas) oder ABRASAC (Abrasax) — diese Worte sind in Steine aus dem zweiten Jahrhundert nach Christus geschnitten (Peter N. Miller, S.57—94, hier S.70f.). 1 Die Rede ist von den sogenannten >Abraxasgemmen<, die in Alexandrien gefertigt und als Amulette und Talismane getragen wurden. Gewöhnlich sind sie mit mystischen Darstellungen versehen: mit einem menschlichen Körper, der auf Schlangefüßen steht und von einem Hahnenkopf gekrönt ist, der in der rechten Hand eine Geißel und in der linken ein Schild trägt; bisweilen werden die Gemmen aber auch von ägyptischen Gottheiten geziert. Dennoch versuchten schon die Kirchenväter, die Bezeichnung Abraxas/Abrasax als Name ihres eigenen Gottes zu deuten: nach dem Zahlenwert ergeben die Buchstaben des Wortes die Summe 365, und der gnostischen Religion der Basilidianer zufolge gilt Gott als Urheber von 365 Himmeln. Mitunter sind aber auch dem Wortsinn nach unverständliche Beschwörungsformeln wie ABLANQANALBA oder jüdische und ägyptische Götternamen in die Steine gemeißelt.

Es fällt also schwer, die Herkunft, die Bedeutung und den Kultwert der mystischen Steine eindeutig zu bestimmen. Die >Abraxasgemmen< geben Rätsel auf. Nicolas-Claude Fabri de Peiresc (1580—1637), "that archetype of all antiquarians" (Arnaldo Momigliano), versuchte, sie zu lösen (Miller, S.60,71). Er interessierte sich dabei vor allem für die Beziehungen von >Heidnischem< und Christlichem in der Antike, für die Frage etwa, ob die Anhänger des Basiliades Christen oder Heiden, ob die Abraxasgemmen heidnischen oder christlichen Ursprungs waren, ob die Deutung von Abraxas/Abrasax als >Gott< stimmte. Vor diesem Hintergrund korrespondierte er mit anderen Gelehrten, sammelte und verglich Manuskripte, Bilder, Funde und suchte nach den Kontexten derselben (ebd., S.61,79). Es ging darum, die Weisheit der frühen Christen zu untersuchen und zu dokumentieren (ebd., S.81), und zwar im Mittel der vergleichenden Philologie (ebd., S.93f.).

Folgt man dem Beispiel Peiresc', das Peter Miller lebendig und kundig darbietet, so erschließt sich, wie vielfältig das Tätigkeitsgebiet des Philologen in der Frühen Neuzeit war. >Philologie< meinte nicht nur die Sammlertätigkeit und die Textkenntnis des Schriftgelehrten; sie war nicht nur Bibelexegese, sondern christliche Wissenschaft in einem umfassenden Sinne. Philologen waren selbst Altertums- und Naturforscher, Historiker und Theologen. Sie bewegten sich im Verbund der scientiarum; sie übten Textkritik (Ralph Häfner, Vorwort, S.VIIf.), 2 um nach der christlichen Bedeutung ihrer ganz unterschiedlichen antiken und mehr oder minder zeitgenössischen Gegenstände zu fahnden.

Vom Nutzen der Frühneuzeit-Forschung
für die Literaturwissenschaft

"Philologie und Erkenntnis" — der Titel des von Ralph Häfner herausgegebenen und aus einem Wolfenbütteler Symposion erwachsenen Sammelbandes verweist auf ein derart spannendes Programm. Spannend ist es zum einen für den an der >Intellectual History< der Frühen Neuzeit Interessierten, zum anderen für den Literaturwissenschaftler, der etwas über die Geschichte seiner Disziplin erfahren möchte. Der vorliegende Sammelband läßt sich darüberhinaus in die Diskussionen der >Münchener Forschungsgruppe Frühe Neuzeit< einreihen, der der Herausgeber angehört: 3 Es handelt sich bei der Philologie um eine weitere >Praktik< frühneuzeitlicher Gelehrsamkeit, über deren Inhalte und Verfahren die Gruppe forscht. 4 Literaturwissenschaftler aber werden die Praktiken der frühneuzeitlichen Philologie vor dem Hintergrund der eigenen Fachgeschichte betrachten.

Gerade auf ein Fach, das seit dem Ende der polyhistorischen und klassifizierenden Tradition im frühen 19. Jahrhundert und bis weit in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein zur Selbstbeschränkung auf die >schöne Literatur< neigte, 5 das um seinen Gegenstand und um seine Methode ringt, 6 sich die Frage nach kultur- oder medienwissenschaftlicher Erweiterung, mehr noch: die Frage nach dem eigenen Geltungsanspruch stellt, 7 muß dieser Blick in die frühe Disziplingeschichte belebend wirken, so ließe sich emphatisch formulieren. Nüchtern betrachtet bleibt es allerdings bei einer Art >Erfrischung<, denn ein Heilmittel für die Selbstbestimmungsnöte der Literaturwissenschaft stellt die frühneuzeitliche und durchgängig religiös geprägte Schriftgelehrsamkeit nicht dar. 8 Vielmehr wird mit dem Band deutlich, welch fruchtbares Gebiet sich die germanistische Wissenschaftshistoriographie und die germanistische Wissenschaftsforschung zu eigen machen könnten. Bislang konzentrierten sie sich — mit gutem Grund — auf die Untersuchung des 19. und 20. Jahrhunderts, vor allem auf die Wissenschaftsgeschichte >nach 45<. 9

Weitete man die Untersuchungen jedoch auf die Frühe Neuzeit aus, so ließe sich manche Debatte erst einordnen, manche Entwicklung erst beschreiben und bewerten. Als ein Beispiel dient mir die seit 1997 im "Jahrbuch der Deutschen Schiller-Gesellschaft" (und andernorts) wiederbelebte Debatte über den Gegenstand der Literaturwissenschaft. 10 Polemisch führte Emil Staiger in seiner Zürcher Rede im Jahr 1966 den Schillerschen Literaturbegriff gegen Peter Weiß ins Feld. 11 Was Schiller — und ihm folgend Staiger — unter Literatur verstand und mit den Begriffen der >Emporläuterung< "zur reinsten herrlichsten Menschheit" forderte, 12 kann als Erbe der Frühen Neuzeit beschrieben werden: als Erbe einer >vernünftigen<, >sozial-disziplinierenden< und nicht zuletzt christlichen Auffassung von der societas civilis. Bei Schiller (und Staiger) ist diese Auffassung um ihren christlichen Hintergrund gekappt und als paradigmatische, als klassische Vorstellung von >Literatur< bestimmt. Gerade deshalb kann Staiger sie noch in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts als Maßstab für seine normative Auffassung von >Literatur< gebrauchen. Denn im Nimbus des Klassischen überdauerte sie nicht nur die Gruppenbildungen und Idiosynkrasien der Nationalphilologien des 19. Jahrhunderts, sondern auch ihren Mißbrauch durch die Schiller-Feiern im "Dritten Reich". Was aber lehrt dabei der Blick auf die Literaturbegriffe und Philologie-Verständnisse der Frühen Neuzeit? Daß der normative und ungeschichtliche Literaturbegriff Schillers nicht überzeitlich ist, sondern eine Geschichte hat, und zwar eine >schillernde<: Literatur wurde von frühneuzeitlichen Gelehrten im Zusammenhang mit anderen Texten, mit Dokumenten, Funden und Bildern betrachtet. Erst im Blick darauf kann der auf Schiller zurückgeführte Literaturbegriff als eine selbstgesetzte Zäsur gekennzeichnet werden: Gebrochen wird mit christlichen Vorstellungen der Frühen Neuzeit, gebrochen aber auch mit einem >reichen< Begriff von Literatur im Sinne eines je unterschiedlich gestalteten >Schrifttums<.

Wissensordnungen

Es bleibt jedoch auch im Blick auf dieses Beispiel bei der >Erfrischung>< durch den Blick in die Frühe Neuzeit. Aus der historischen Einordnung von Schillers Literaturbegriff lassen sich keine systematischen Argumente für oder gegen Staiger gewinnen. Aufzeigen lassen sich allerdings die historischen Selbstbeschränkungen seiner Literaturauffassung, die darüberhinaus auf Traditionsbestände des 19. Jahrhunderts zurückzuführen wäre: auf das Erbe des Neuhumanismus und der Geistesgeschichte. Auch der mit dem Band vorliegende Ausschnitt der Frühneuzeit-Forschung läßt sich auf das 19. Jahrhundert beziehen: auf den Historismus, auf den Positivismus und auf die Ideengeschichte. In diesem Sinne erläutert Luc Deitz das Verfahren, dessen sich die übrigen Beiträger des Bandes — mit Abweichungen — ebenfalls bedienen:

Einen wesentlichen Bestandteil unserer — durchaus fragmentarischen Überlegungen bildet die heute oft verpönte und als >positivistisch<, d. h. als am Text überprüf- und ggf. durch ihn widerlegbar, verhöhnte Quellenanalyse [...]. (Deitz, S.3—34, hier S.3f.)

Deitz meint damit allerdings nicht, daß es vor allem darum ginge, die Herkunft von Zitaten zu ermitteln, sondern vielmehr die Quellen in "struktureller Hinsicht" zu untersuchen (ebd.). Dieses asketisch wirkende Programm wird in allen Beiträgen des Bandes gekonnt umgesetzt und, um die asketischen Übungen fruchtbar zu machen, durch erhellende denk- und kulturgeschichtliche Ausblicke ergänzt.

Dabei überzeugt nicht nur der Gehalt der Beiträge, sondern auch ihre Auswahl und Anordnung. Sie folgen nicht nur weitgehend chronologisch aufeinander, sondern lassen sich auch "wechselseitig" aufeinander beziehen (Häfner, S.VIII). Um die Arten und Weisen dieses Bezugs zu verdeutlichen, ist der Band in vier Teile gegliedert: erstens in "Antiquarianismus, Kritik, Skepsis", zweitens in "Epistemologie, Sprache, Grammatik", drittens in "Philologie, Humanismus, Platonismus" und viertens in "Patristik und Konfessionalismus". Die damit angesprochenen Themen liegen zwar nicht alle auf einer Ebene, denn unter manche Begriffe fallen denkgeschichtliche Richtungen (Skepsis, Humanismus, Platonismus, Konfessionalismus), unter manche Wissensgebiete (Sprache, Grammatik, Patristik) und unter manche die Tätigkeiten des Philologen (Antiquarianismus, Kritik, Epistemologie und — als Doppelung — die Philologie selbst). Aber es läßt sich im Blick auf diese Themen verdeutlichen, um was es in den jeweiligen Beiträgen geht. Darüberhinaus lassen sich im Durchgang durch die vier Teile weitere Verbindungen stiften, die den Rahmen der vier Teile sprengen: Beispielsweise ergeben sich hinsichtlich der (pyrrhonischen) Skepsis enge Verbindungen zwischen den in den Teilen eins und vier befindlichen Beiträgen über den gelehrten Bibliothekar Gabriel Naudé (Lorenzo Bianchi, S.35—56), über "das Erkenntnisproblem der Philologie um 1700" (Häfner, S.95—128) und über die Patristik der Anti-Jansenisten (Jean-Louis Quantin, S.305—332). Zwischen den Teilen eins und zwei bildet außerdem die Philologie der Mediziner ein verknüpfendes Band: In einem systematisch sehr klaren Beitrag von enormer historischer Breite erschließt Herbert Jaumann das Phänomen der Iatrophilologie (ders., S.151—176); Bianchi nimmt es für Naudé auf (ders., S.39). Eine Erläuterung der thematischen Untergliederung des Bandes und ihrer >Sollbruchstellen< wäre in diesem Zusammenhang hilfreich gewesen.

Was ist Philologie?

Doch soll es hier nicht um eine Kritik von Kleinigkeiten gehen. Vielmehr soll im Blick auf die einleitenden Bemerkungen über den Beitrag von Miller gefragt werden, was >Philologie< ist und was sie für die >Erkenntnis< leistet. >Philologie< ist Teil der artes liberales; sie gehört — wie die Mathematik und die Logik (beziehungsweise die Dialektik) — in den Kreis der Polymathie, der >Vielwisserei< (Deitz, S.4). Polymathie allerdings meint frühneuzeitlichen Philologen wie Gerardus Joannes Vossius (1577—1649) zufolge eben nicht ein allumfassendes Wissen, sondern die Lehrinhalte eines propädeutischen Bildungskanons, der auf den Unterricht in der Rhetorik oder in der Philosophie vorbereiten sollte (ebd.). Nimmt man also die Bestimmung des Vossius als Beispiel, die im Detail vom großen Vorbild, von Julius Caesar Scaligers Poetices libri septem abweicht, so stellt die Philologie den ersten Teil der Polymathie dar. Sie ist ihrerseits zweigeteilt, und zwar in das Studium der Grammatik, der Rhetorik und der Metrik einerseits und in die historia andererseits (dazu Deitz, S.7f.,20—34). Die historia umfaßt die Geographie, die Chronographie, die Genealogie und die Darstellung der "historia pragmatica", des "wirklich Geschehenen" (ebd., S.20). Abgesehen von Besonderheiten, etwa dem Lösen der kritischen Grammatik von den anderen traditionellen Teilen derselben (ebd., S.23), gibt die Einteilung des Vossius einen Einblick in die Bestandteile und in die (scholastischen) >Wissensordnungen< frühneuzeitlicher Philologie, die nicht nur in Traktaten >de philologia<, sondern — wie die Grammatik, Rhetorik und Poetik — auch in eigenständigen Abhandlungen dargestellt werden.

Nach dieser vernünftigen und gemäßigten (neo-stoizistischen) Auffassung ist die Philologie im wesentlichen eine Technik, um sprachlich verfaßte Zeugnisse zu untersuchen und zu verfertigen. Philologie ist gleichbedeutend mit Texterschließung und Textkritik, mit Echtheitskritik, Datierungskritik, mit dem Textvergleich, mit der Lehre vom Verständnis der Texte, mit der Hermeneutik. Ihre Gegenstände sind Rede und Schrift — gleich welchen Inhalts und welcher Form. Dieses einerseits technische, andererseits inhaltlich weite Verständnis von >:Philologie< als Textkritik prägt die meisten Beiträge: Es geht um eine Kritik des Wissens (Constance Blackwell, S.131—149), um politische und philosophische Kritik zum Zweck der "libertinage érudit" (Bianchi, S.42 u. 55) und um konfessionell angeleitete Kritik (Jean-Louis Quantin, S.305—332). Philologie wird auf diese Weisen zum "Instrument" im Kampf um den Ursprung der (Heiligen) Schrift (Helmut Zedelmaier, S.207—223) und zum Mittel der Konfessionspolemik im Dienst der Gegenreformation und wider dieselbe (Florian Neumann, S.177—205).

Die Religion der Philologen

Doch bleiben auch die angesprochenen Beiträge nicht bei einem solchen >technischen< Verständnis der Philologie stehen. Martin Mulsow beispielsweise veranschaulicht, wie der sprachgelehrte Bibliothekar Mathurin Veyssière La Croze (1661—1739) die Philologie noch zu überbieten suchte (Mulsow, S.333—347). 13 Als Hugenotte schrieb La Croze gegen die Kirchenväter an, spürte ihre Fälschungen der Geschichte antiker Religionen mit philologischen Mitteln auf. Zugleich bemühte er sich aber um "lebendige[] Relikte der Vergangenheit", um fäschungssichere Zeugnisse dessen, wie es wirklich war (ebd., S.347): Er zog >ethnologische< Berichte der Missionare heran, um verläßliche Auskunft über die ferne Welt des vorderen Orients zu erhalten. Dabei ging es La Croze nicht zuletzt um die Geschichte eines >wahren< und toleranten Christentums, für das er selbst eintrat. Wie aber stand es überhaupt um das Verhältnis von >Philologie< und Christentum?

Philologie konnte zwar in den Dienst der Konfessionspolemik und des Christentums gestellt werden, aber schon aufgrund ihrer "Natur" gefährdete sie das Christentum selbst (Wilhelm Schmidt-Biggemann, S.265—301, hier S.266). Was zunächst als technisches Problem erschien, wurde bald zu einer tatsächlichen Herausforderung: denn die Philologie trennte das solâ scripturâ vom solâ fide (ebd.). Die Aufgabe des Philologen war es, den >authentischen Text< zu ermitteln, also die ursprüngliche Version der Heiligen Schrift, die aber alle Lehren der Offenbarungsreligion bereits im Kern enthalten mußte (ebd.). Im Mittel der Philologie herausgefundene Unstimmigkeiten konnten zwar nicht als Widerlegungen der christlichen Lehre verstanden werden, ließen aber darauf schließen, daß der biblische Text dem Philologen zum einen nicht "sakrosankt" war, daß zum anderen wesentliche Dogmen durch die Entdeckung solcher Unstimmigkeiten erschüttert werden konnten (ebd., S.266f). Wilhelm Schmidt—Biggemann beschreibt diesen Zusammenhang in eindringlicher Weise für das Trinitätsdogma. 14

Genau diese Problemlage zwischen weltlicher Philologie und Offenbarungsreligion hatte der Hamburger Philologe Johann Albert Fabricius (1668—1736) wie kein zweiter im Blick. Mit gutem Grund widmet sich Häfner daher in zwei eindrucksvollen Aufsätzen den philologischen und den denkgeschichtlichen Leistungen dieses Gelehrten (S.96—128; S.349—378). Im Blick auf solche Schwierigkeiten, wie sie sich aus der Ermittlung des >authentischen Textes< für die Dogmatik der Offenbarungsreligion ergeben, im Blick auf den Anti-Rationalismus des Pietismus und im Blick auf Vorstellungen der herrschenden Orthodoxie, versuchte Fabricius die Erkenntnis Gottes >vernünftig< zu begründen (ebd., S.96). Als größte Herausforderung galt ihm dabei jene spätantike Philosophie, die Fragen der Erkenntnis nicht nur in besonders radikaler, sondern auch in ethischer Weise stellte: die pyrrhonische Skepsis. Ihre durchdachteste Formulierung erhielt diese späte Form der Skepsis durch den Arzt Sextus Empiricus (180—200 n. Chr.). Im Jahr 1718 legte Fabricius daher eine nicht nur unter philologischem Aspekt vorbildliche, sondern auch denkgeschichtlich interessante Ausgabe der Werke des Sextus vor (ebd., S.95).

Fabricius selbst stellte die ethischen und pädagogischen Absichten des Sextus heraus: Sextus bestreite alle Lehrmeinungen, indem er sie widerlege, und bewahre den Lernenden auf diese Weise davor, solchen Lehrmeinungen unbesonnen zuzustimmen (ebd., S.96). Doch rang er in diesem Zusammenhang mit Sextus. Denn dieser beließ es nicht bei der von Fabricius ganz und gar geteilten Forderung nach einer >Zurückhaltung im Urteil< (ebd., S.354). Sextus ging außerdem von einer >Gleichwertigkeit der Vorstellungen< aus, die Fabricius nicht zuletzt als Christ für problematisch hielt. 15 Denn unter methodologischem Aspekt zielte Sextus darauf, einen >unentscheidbaren Widerstreit< der Argumente herbeizuführen. Unter ethischen Aspekt verband er damit die Forderung nach Unkenntnis, nach Ungewißheit, was das Heil des Einzelnen anbelangte. Gegen diese trostlose Auffassung aber wandten sich schon die frühen Christen.

Vor ganz anderem denkgeschichtlichen Hintergrund nahm Fabricius aber dennoch positiv auf die Skepsis Bezug. Mit Hilfe der Überlegungen des Sextus deutete er das Erkenntnisproblem frühneuzeitlicher Philologie in bezeichnender Weise um: Es gehe nun nicht mehr darum,

[...] die Grenzen des menschlichen Verstandes gegenüber den supernaturalia, als vielmehr die >Grenzen der Skepsis< gegenüber einer Erkenntnis der naturalia zu bestimmen. (Ebd., S.123)

Diese Lösung des Erkenntnisproblems erwies sich als trickreich: Fabricius gebrauchte die Überlegungen des Sextus dabei vor allem instrumentell, und zwar zum Zweck der Begründung einer konfessionsübergreifenden Physikotheologie (ebd., S.124). Diese wiederum sollte die naturalia behandeln, polyhistorisches Wissen mit aufnehmen, die supernaturalia aber nicht angreifen, sondern diese vielmehr auf undogmatische und unproblematische Weise belegen d. u. S.128). So gelang es Fabricius, >Philologie< nicht auf bloße Textkritik zu verkürzen, sondern den Gesamtbereich der artes liberales, der Polymathie noch einmal zur Entfaltung zu bringen (ebd.). Wie lebendig dieses Verständnis von >Philologie< war, zeigt die philologische Festkultur im Hamburger Umfeld des Fabricius. Inspiriert durch Überlegungen des Aulus Gellius (2. Jhdt. n. Chr.) und vor allem des Macrobius, sollte der Textgelehrte nicht durch >Vielwisserei< glänzen, sondern seinen Geist im Rahmen einer "geselligen Geschmackskultur" entwickeln und darstellen (ebd., S.355f). Ziel dieser Festkultur war es, einen "Sinnzusammenhang[]" überlieferter und natürlicher Zeugnisse auszuweisen (ebd., S.377). Ihr Wahrheitsgehalt allerdings ließ sich "nur in beständiger Annäherung an den göttlichen, in seinem An-sich verborgenen Grund" ermitteln (ebd.).

Weltliche Philologie

Solche theologisch-metaphysischen Überlegungen blieben dem medicus philologus weitgehend fremd. Jaumann widmet dieser "gelehrte[n] Doppelkompetenz" einen umfassenden Beitrag und verläßt damit das Gebiet jener Philologie, die ihre Aufgabe im Erweis einer in Texten gegründeten Offenbarungsreligion sah (ebd., S.151—178, hier S.151). Im 15. und 16. meinte Iatrophilologie, so Jaumann,

[...] wohl in erster Linie aktive, editorische wie kommentierende und propagandistische Bemühungen um die in Textfragmenten überlieferte hippokratisch-galenische Tradition der Medizin und Heilkunde, eine ziemlich eindeutig und gelegentlich vehement gegen die arabische Tradition gerichtete Renaissancebewegung. (Ebd., S. 155)

>Philologie< bedeutete hier im wesentlichen die Beschäftigung mit alten Texten; sie beerbte, so Jaumann, Quintilians >enzyklopäisches< Konzept der >Grammatik< (ebd., S.159). Der Philologe galt dementsprechend als "Bedeutungsrekonstruktionsspezialist[]"; seine Rolle erschien als die eines weltlichen Gelehrten (ebd.). Als weltliche Gelehrsamkeit trat die Philologie in ein komplexes Wechselverhältnis zur Medizin ein: Mit Verweis auf sie ließ sich die Medizin erstens mit dem Wissen und mit den Kompetenzen der artes und der historia ausstatten (ebd., S.158—163). Zweitens entstanden "reziproke Dienstleistungsverhältnisse" zur Medizin (ebd., S.163—166). Drittens aber wurde die Medizin zur "Verfahrensmetapher" nicht nur in der Philologie, sondern auch in der Sittenlehre (ebd., S.166—172). Mit dieser Typologie gibt Jaumann am Beispiel der Iatrophilologie einen spannenden Einblick in das philologische Wissen und in die philologischen Verfahren in der Frühen Neuzeit.

Anregungen

Im Blick auf diese Beiträge zeigt sich, von welch enormer Bedeutung diese >historischen Spezialdebatten< für die Wissenschaftsgeschichte der Philologie, für das Fach >Literaturwissenschaft< und für die Diskussion um sein Selbstverständnis sind. Der Band ist nicht nur aufgrund seiner Multi-Disziplinarität, seiner Internationalität und aufgrund der Sorgfalt, 16 mit der er verfertigt ist, vorbildlich. Er regt auch zu weiteren Fragen an. Ich will einige herausgreifen:

  1. Florian Neumann deutet mit wenigen Bemerkungen an, daß die Bezeichnung >Philologe< in der Frühen Neuzeit noch nicht eingeführt war (Neumann, S.178f). Im Blick auf die Beiträge würde es sich lohnen, institutionengeschichtlich zu untersuchen, wie sich der philologische Wissens- und Kompetenzverbund vor der Einführung dieser Bezeichnung zusammenhalten ließ.

  2. Ein Desiderat des Bandes stellt die Berücksichtigung der >schönen Literatur< durch die Philologen dar. >Schöne Literatur< taucht nur gelegentlich auf, wird dann allerdings kundig im Blick auf ihre Leistung für die gelehrte >Erkenntnis< behandelt (Häfner, S.357—378; Neumann, S.179f).

  3. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach der filternden Funktion der Philologie des 19. Jahrhunderts. Wie sehr beeinflußt etwa der Neuhumanismus noch heute die (Literatur-)Geschichtsschreibung? 17

  4. Wie steht es darüberhinaus um die Geschichte und um die Systematik der vergleichenden Philologie, um die es in dem Band im wesentlichen geht? Theodor Mommsen und Jacob Bernays wußten noch, daß Gelehrte wie Peirecs Pioniere der vergleichenden Philologie waren (Miller, S.57). Werden sie heute von der Komparatistik beerbt oder findet sich ihr Erbe vielmehr in der Altphilologie bzw. in der Alten Geschichte?

  5. Der Blick auf die Gegenstände der >Altertumswissenschaften< selbst stimmt nachdenklich. Frühneuzeitliche Philologen beschäftigten sich noch mit der >Antike<; heute scheint dieser >Gegenstand< immer weniger zugänglich. Entsprechend leisten die Beiträge des Bandes — erklärtermaßen — keinen Beitrag zur Erforschung desselben. Vielmehr widmen sie sich der Erforschung der Frühen Neuzeit. Zeigen läßt sich, an welche Tradition frühneuzeitliche Philologie in welcher Weise — angemessen und unangemessen, explizit und implizit — anknüpft. Hier wäre im Blick auf die Beiträge aber noch genauer zu fragen, welche Bedeutung das Christentum, welche Bedeutungen >disziplinierende< Ethiken wie der Neo-Stoizismus, der Jansenismus und der Calvinismus für die Rezeption der Antike haben, wie sich diese Umdeutungen der Antike beurteilen lassen.

Der vorliegende Band führt also nicht die Geschichte einer Wissenschaft in der Frühen Neuzeit vor; es gibt diese Geschichte auch nicht. Vielmehr enthält der Band >Geschichten< über Ausschnitte eines vielfältigen Wissens- und Kompetenzgebietes. Der Leser erfährt, über was und wie Philologen arbeiten. Dabei lehren ihn die Beiträge die Gelassenheit des Historikers und Zurückhaltung des Skeptikers.


Dr. Sandra Pott
University of London
Institute of Germanic Studies
29 Russell Square
London WC1B 5DP
England

Ins Netz gestellt am 25.09.2001
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Anmerkungen

1 Anmerkungen aus dem Häfner-Band werden in Klammern in den Text eingefügt. Die obige Erläuterung entstammt allerdings im wesentlichen dem Artikel "Abraxas" von Conrad Bursian. In: Wilhelm Sigmund Teuffel (Hg.): Pauly's Real-Encyclopädie der classischen Alterthumswissenschaft in alphabetischer Ordnung. Zweite völlig umgearbeitete Auflage. Ersten Bandes erste Hälfte. Stuttgart 1864: Metzler, S.18f.    zurück

2 Diese Einsichten gehen zurück auf Herbert Jaumann: Critica. Untersuchungen zur Geschichte der Literaturkritik zwischen Quintilian und Thomasius. (Brill's Studies in Intellectual History 62) Leiden u.a.: Brill 1995.   zurück

3 Ihre Mitglieder sind — neben Ralph Häfner — Martin Mulsow, Florian Neumann und Helmut Zedelmaier.   zurück

4 Helmut Zedelmaier u. Martin Mulsow (Hg.): Die Praktiken der Gelehrsamkeit in der Frühen Neuzeit. (Frühe Neuzeit 64) Tübingen: Niemeyer 2001.   zurück

5 Jürgen Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte. Entstehung und Scheitern einer nationalen Poesiegeschichtsschreibung zwischen Humanismus und Deutschem Kaiserreich. Stuttgart: Metzler 1989, S.15f; Klaus Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. München: Fink 1989, S.154—262, 274—282.   zurück

6 Die Frage nach dem Verlust des Gegenstandes stellt schon Benno von Wiese: Der Gegenstandsschwund in der deutschen Literaturwissenschaft [1970]. In: B.v.W.: Perspektiven I. Studien zur deutschen Literatur und Literaturwissenschaft. Berlin: Erich Schmidt 1978, S.68—78; B.v.W.: Ist die Literaturwissenschaft am Ende? In: ebd., S.61—67. Die jüngere Debatte darüber eröffnete Wilfried Barner: Kommt der Literaturwissenschaft ihr Gegenstand abhanden? Vorüberlegungen zu einer Diskussion. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 41 (1997), S.1—8; außerdem Ulrike Zeuch: "...die abstrakten Worte [...] zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze". Zum Verlust des Gegenstandes in der Literaturtheorie seit 1966. In: Euphorion 95/1 (2001), S.101—121. Über die Methodendebatte vgl. zuletzt die gleichfalls von Barner angeregte Debatte über den Methodenpluralismus; W.B.: Pluralismus! Welcher? Vorüberlegungen zu einer Diskussion. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 34 (1990), S.1—7.   zurück

7 Vgl. dazu nur die Debatten in zwei der wirkmächtigsten Fachzeitschriften: Walter Haug: Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft? In: DVjs 1 (1999), S.68—93; Gerhart von Graevenitz: Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaften. Eine Erwiderung. In: ebd., S.94—115; die Beiträge in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 4 (1999): Germanistik als Kulturwissenschaft.   zurück

8 Lutz Danneberg/Jörg Schönert: Belehrt und verführt durch Wissenschaftsgeschichte. In: Petra Boden/Holger Dainat (Hg.): Atta Troll tanzt noch. Selbstbesichtigungen der literaturwissenschaftlichen Germanistik im 20. Jahrhundert. (Literaturforschung) Berlin: Akademie 1997, S.13—58.   zurück

9 Um nur drei Beispiele zu nennen: Frank Fürbeth/Pierre Krügel/Ernst E. Metzner/Olaf Müller (Hg.): Zur Geschichte und Problematik der Nationalphilologien in Europa. 150 Jahre Erste Germanistenversammlung in Frankfurt am Main (1846—1996). Tübingen: Niemeyer 1999; Wilfried Barner/Christoph König (Hg.): Zeitenwechsel. Germanistische Literaturwissenschaft vor und nach 1945. (Kultur & Medien) Frankfurt/M.: Fischer 1996; Petra Boden/Rainer Rosenberg (Hg.): Deutsche Literaturwissenschaft 1945—1965. Fallstudien zu Institutionen, Diskursen, Personen. (LiteraturForschung) Berlin: Akademie 1997.   zurück

10 Siehe Anm. 6.   zurück

11 Emil Staiger: Literatur und Öffentlichkeit [17.12.1966]. In: Erwin Jaeckle: Der Zürcher Literaturschock. Bericht. München u. Wien: Langen-Müller 1968, S.14—24, hier S.19.   zurück

12 Ebd., S.17f.   zurück

13 Der Beitrag ist zum Teil identisch mit dem vierten Kapitel von Mulsows Monographie: Die drei Ringe. Toleranz, Gelehrsamkeit und clandestine Kommunikation bei Mathurin Veyssière La Croze (1661—1739). (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 16) Tübingen: Niemeyer 2001.   zurück

14 Vgl. dazu auch der Beitrag von Douglas Hedley (S.247—263). Er handelt über einen Ausschnitt dieser Konstellation, und zwar über Ralph Cudworths These, die Trinitätslehre sei heidnischen Ursprungs.   zurück

15 Häfner deutet dieses Problem an. Zum besseren Verständnis der Position des Fabricius behandele ich es oben ausführlicher. Siehe außerdem das bald erscheinende Buch von R.H.: Laudes deorum. Poesie im Spannungsfeld prophetischen Wissens und philologischer Kritik am Ende des christlichen Humanismus (ca. 1600—1736). Habil.-Schrift Berlin 1998. Erscheint (Frühe Neuzeit) Tübingen [i. D.].   zurück

16 Es gibt sogar ein Sachregister.   zurück

17Anregungen dazu finden sich in dem Beitrag von Paul Richard Blum über die Frage, was "Renaissance-Humanismus" sei (ebd., S.227—246). Siehe für die Wirkungen des Neuhumanismus auf die Philologie des 19. Jahrhunderts Michael Schlott: Hermann Hettner. Idealistisches Bildungsprinzip versus Forschungsimperativ. Zur Karriere eines >undisziplinierten< Gelehrten im 19. Jahrhundert. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 39) Tübingen: Niemeyer 1993, S.39—51.   zurück