Pott über Detel / Zittel: Wissensideale und Wissenskulturen und Puff / Wild: Zwischen den Disziplinen?

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Sandra Pott

Perspektivierungen
der Frühneuzeit-Forschung

  • Wolfgang Detel / Claus Zittel (Hg.): Wissensideale und Wissenskulturen in der frühen Neuzeit / Ideals and Cultures of Knowledge in Early Modern Europe (Wissenskulturen und gesellschaftlicher Wandel 2) Berlin: Akademie Verlag 2002. 358 S. Geb. EUR (D) 49,80.
    ISBN 3-05-003713-X.
  • Helmut Puff / Christopher Wild (Hg.): Zwischen den Disziplinen? Perspektiven der Frühneuzeitforschung. Göttingen: Wallstein 2003. 208 S. Brosch. EUR (D) 24,80.
    ISBN 3-89244-628-8.

Inhalt

Termini und Kategorien | "Neue Narrative"? | Wissensideale und Wissenskulturen | Perspektiven vs. Perspektivierungen



Die Frühe Neuzeit galt der Forschung vergangener Jahre und Jahrzehnte als Phase des Umbruchs, als Inkubationszeit der Moderne, als Phase, über die sich trefflich >theoretisieren< ließ. Zwei gerade erschienene Sammelbände nehmen diese Vorstellung von der Umbruchsphase >Frühe Neuzeit< kritisch in den Blick: Die Beiträge in dem von Wolfgang Detel und Claus Zittel herausgegeben Kompendium über Wissensideale und Wissenskulturen in der frühen Neuzeit widmen sich zu diesem Zweck vor allem den theoretischen Konzeptualisierungen von Naturforschung; die Beiträge in Helmut Puffs und Christopher Wilds Zwischen den Disziplinen? hingegen decken ein breites Spektrum von mehr oder minder begriffs- und theoriegeleiteten Ansätzen für die Frühe Neuzeit ab.

Beide Bände stellen sich damit in unterschiedlicher Weise einer Anforderung, die sich die Frühneuzeit-Forschung nicht ohne Grund selbst auferlegte: der Anforderung, interdisziplinär zu arbeiten. Detel und Zittel nehmen Beiträge unterschiedlicher disziplinärer Herkunft (Wissenschaftsgeschichte, Philosophie, Germanistik, Anglistik, Kulturgeschichte, Kunst- und Musikgeschichte) auf, die ein interdisziplinäres Gesamtbild von Wissensidealen und Wissenskulturen ergeben sollen (S. 8). 1 Darüber hinaus präsentieren die Beiträge, so Detel und Zittel, "different paradigmatic ways and methods", um Wissenskulturen und Wissensideale historisch zu untersuchen (ebd., Hervorhebungen im Original). Puff und Wild zielen demgegenüber auf eine mehr als bloß additive Interdisziplinarität (S.8). 2 Sie gehen davon aus, dass gegenwärtige Wissenschaft in neuer Weise vernetzt ist. Doch ist dies nicht ihr einziges Argument für ein "multidisziplinär[es]" Vorgehen (S.13); die Gründe dafür suchen sie außerdem in der Frühen Neuzeit selbst: in dem Umstand, dass sich die Disziplinen im Ausgang aus dem mittelalterlichen artes-System erst zu konstituieren begannen. Deshalb, so argumentieren die Herausgeber von Zwischen den Disziplinen?, bedürfe die Frühe Neuzeit eines Untersuchungsverfahrens, das der Komplexität dieses prä-disziplinären Zustandes angemessen sei. Anders als Detel und Zittel, die auf Fallbeispiele aus der Entwicklung der Wissenschaften setzen, wählen Puff und Wild vor dem Hintergrund frühneuzeitlicher Wissensformationen bestimmte Termini und Kategorien ("Positionen", "Text", "Medien", "Gender und Wissen", "Zwischen den Kulturen"), die von den einzelnen Beiträgen mit Leben gefüllt werden. Einige davon will ich exemplarisch diskutieren.

Termini
und Kategorien

Gleich der erste Beitrag unter der Kategorie "Positionen" fällt aus den dominant historischen Fragestellungen von Zwischen den Disziplinen? heraus: Valentin Groebner fragt in inspirierender Weise nach einer angemessenen "Gegenwartsanbindung" (S. 31) frühneuzeitlicher Konstellationen. Zu diesem Zweck kritisiert er eine "vertikale" Geschichtsschreibung, nämlich die traditionelle "Abstammungsgeschichte" von Ursprüngen und Vorläufern. Sie nehme die Frühneuzeit bloß für ihre Legitimationsbedürfnisse in den Dienst (S. 21 f.). Ihr stellt Groebner eine neue, "horizontale" Geschichtsschreibung entgegen (S. 29). Diese bediene sich der Darstellungstechniken der "Fragmentierung und des literarischen Kontrasts", nutze historisches Material als "heterogene[n] Fundus" und als "Themenpark" (ebd.), um "Verfremdung, Überraschung, theoretische Fokussierung" und "Aktualität" zu erzeugen (S. 31). Der "horizontalen Geschichtsschreibung" geht es – nach wie vor – um Legitimation des Gegenwärtigen aus dem Historischen, aber sie nimmt zu diesem Zweck von der "politische[n] Großlegitimation" Abschied (S. 33). Ihre Normen lauten "Fragmentierung und Diversivität" (S. 36). Beispiele dafür deutet Groebner bedauerlicherweise nur an. Er setzt auf eine "neue Lust am Kombinieren" (S. 29) und auf jene Analogien und Kombinationen, die eine fragmentierende Historiographie bereithält.

So verständlich Groebners Bemühungen sind, die Geltung des Historischen im Blick auf Aktuelles zu stärken, so fragt sich unter methodischem Aspekt aber, welchen wissenschaftlichen Stellenwert solche historisch-aktualisierenden >Patchworks< erhalten sollen. Beschreibt Groebner nicht eine gängige Praxis des Feuilletons? Groebner seinerseits verzichtet auf die Diskussion der methodischen Probleme "horizontaler" Geschichtsschreibung: auf die Diskussion des Problems etwa, wie weit aktualisierende Analogien und >lustvolle Kombinationen< tragen (S. 29).

Trotz dieser methodischen Schwächen gibt Groebners Beitrag den methodischen >basso continuo< für die nachstehenden historisch-systematisierenden Beiträge vor. Die Frühneuzeit-Forschung hat sich nämlich endgültig von den großen Linien und Theorien verabschiedet – vor allem von solchen, die sie zur Vorgeschichte einer Moderne erklären, die der Menschheit im Gang der Jahrhunderte Fortschritt, Erkenntnis und Wachstum beschert haben soll. Diese mikrologische Geschichtsschreibung wendet sich dem historischen Detail zu: dem materialen Objekt oder der besonderen denkgeschichtlichen Konstellation. 3

Doch gehen systematische Fragestellungen dabei nicht verloren: Am Beispiel von Sebastian Brants Narrenschiff (S. 81–101) erörtert Jan-Dirk Müller eine wichtige texttheoretische Einsicht. Danach gilt der >Text< der Frühen Neuzeit nurmehr als "eine momentane Selektion und Fixierung eines über den Einzeltext hinausgehenden Diskurses" (S. 99). 4 In einem vergleichbar umfassenden Sinne zeigt Christine Göttler, wie sich Bild und Text vor dem Hintergrund des zeitgenössischen >Seelen-Diskurses< mit Gewinn verknüpfen lassen: Göttler empfiehlt Wachsarbeiten des 16. und 17. Jahrhunderts für die interdisziplinäre Diskussion, beschreibt sie als Seelenbilder und zeigt, dass sich – etwa um die Bilder des Kupferstechers Raphael Sadeler (1560 / 61–1632) – ein komplexe Diskussion über die Seele entfaltete, die ihren Niederschlag unter anderem in Jakob Bidermanns lateinischen Epigrammen fand (S. 103–148, bes. 123).

Ulinka Rublak hingegen setzt auf die gängigen Beschreibung von Ritual und Performativität, untersucht städtische und >nationale< Ritualkulturen, ermittelt >ritual geographies< – nicht zuletzt, um nach dem Verhältnis von Volks- und Elitenkultur zu fragen (S. 149–164). 5 Nimmt man außerdem Susanna Burghartz' Beitrag über Geschlechtergeschichte in der Frühen Neuzeit (S. 165–185) und Christian Kienings Versuch, die (Post-)Colonial Studies für die Erforschung der Geschichte des Welser-Konquistadoren und Generalkapitäns von Venezuala Philipp von Hutten zu gewinnen (S. 187–204), hinzu, dann wird deutlich, wie sehr Zwischen den Disziplinen? darum bemüht ist, ein breites Spektrum der derzeit diskutierten Theorie- und Methoden-Optionen für die Frühneuzeit-Forschung aufzugreifen.

Gleichwohl bietet der Band kein vollständiges Bild des Methoden-Pluralismus, den die Frühneuzeit-Forschung in vorbildlicher und kritischer Weise übte. Obwohl die Auswahl der dargestellten Methoden klug getroffen ist, sparen Puff und Wild zahlreiche Optionen aus: die Konsumgeschichte etwa, die mit der Erforschung von Märkten aller Art zu neuen Erkenntnissen sowohl über das Alltagsleben als auch über die Gelehrtenkultur führte, 6 fehlt ebenso wie die weitläufige Debatte über den Buchmarkt, die sich derzeit auf die Frage nach der Verbreitung kontroverser Geheimliteratur konzentriert. 7 Gleiches gilt für die Debatte über die History of Ideas und die Intellectual History, die aus dem angloamerikanischen Raum durch Quentin Skinner und John G. A. Pocock bekannt ist. 8 Das gerade erstarkte Interesse an den >Alteritäten< und an ethnographischen Erkundungen wird zwar teilweise (von Rublak und Kiening) abgedeckt, aber nicht gesondert thematisiert. 9 Auch die >public sphere<-Debatte bleibt unerwähnt. Seit der Übersetzung von Jürgen Habermas< Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962) / The Structural Transformation of the Public Sphere (1989) sorgt sie im angloamerikanischen Sprachraum für rege Diskussionen. Tim C. W. Blanning, The Culture of Power and the Power of Culture (2002), unterzog die These von der Entfaltung von Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert erst kürzlich einem empirischen Test, der die marxistische Patina des Originals tilgte und das sukzessive Entstehen von Öffentlichkeit belegte. 10

Dennoch lohnt Zwischen den Disziplinen? die Lektüre: erstens, weil der Band versucht, einen Einblick in die zahlreichen Methoden-Optionen für die Frühneuzeit-Forschung zu geben. Zweitens bestechen die Beiträge (besonders diejenigen von Lorraine Daston, Kiening und Müller) durch Sachkenntnis – nicht nur im historischen Detail. Drittens erlauben sich die Beiträge mitunter doch, den mikrohistorischen Blick, auf den sich die Frühneuzeit-Forschung so leicht verständigt, zugunsten makrologischer Perspektiven aufzubrechen. Lorraine Dastons Suche nach "neue Narrativen" zählt zu diesen Beiträgen. Ihren Beitrag diskutiere ich deshalb im folgenden ausführlich; seine Thematik leitet zur Besprechung von Wissensideale und Wissenskulturen über.

"Neue Narrative"?

Daston diagnostiziert, dass sowohl der allgemeinen Geschichtsschreibung als auch der History of Science die >großen Narrative< ("grand narratives", passim), die >Makroerzählungen< abhanden gekommen seien. Im Modell der Geschichtswissenschaft hätten sie die Zeit zwischen 1500 und 1750 als europäischen "Sonderweg" zur Moderne beschrieben (S. 37, Hervorhebung im Original); Vergleichbares gelte für die History of Science, die für diesen Zeitraum von einer Scientific Revolution sprach. Gemeint ist die Emanzipation der modernen Naturwissenschaften von der Vorherrschaft der Theologie, die mit der Entdeckung empirischer Verfahrensweisen einhergehen sollte. Diese beiden >großen Erzählungen< hätten paradoxerweise dazu geführt, dass sie als methodische und historische Prüfsteine noch der gegenwärtigen Forschung dienten, also ex negativo noch immer wirkten (S. 45). 11

Auf diese so ernüchternde wie anregende Diagnose folgt der Therapie-Vorschlag: Weil die >großen Narrative< nicht mehr überzeugten, so Daston, sei jetzt der Zeitpunkt gekommen, um Geschichtswissenschaft und History of Science zu verbinden. Der Weg dorthin führe über gemeinsame und >neue Narrative< ("new narratives", S. 48 f.). Was Daston allerdings darunter versteht, bleibt unklar. Deutlich wird nur, dass die neuen Narrative die alten und problematischen >großen Narrative< ersetzen sollen, um die verstreuten Einzelforschungen zu verbinden. 12 Weder erklärt Daston aber ihren Begriff von >Narrativ< noch gibt sie Adäquatheitsbedingungen für die Geltung und Akzeptanz der neuen Narrative an. Sie beginnt >in medias res< – für den wissenschaftstheoretisch interessierten (Wissenschafts-)Historiker kein methodisch befriedigendes Verfahren.

Ihr Vorschlag für ein solches neues, noch unfertiges Narrativ zielt auf eine Geschichte der (empirischen) Erfahrung ("history of experience", S. 49) und die Geschichte ihrer Tatsachen ("facts"; ebd.). 13 Dieses Vorhaben – genauer: dieses Forschungsprogramm (S. 53) – kann aus Dastons Sicht Geltung beanspruchen, weil es für Geschichtswissenschaft und für die History of Science gleichermaßen attraktiv und integrativ sei: Es gebe nämlich keinen Aspekt des frühneuzeitlichen Lebens, der von den Wandlungen in den Bereichen der Erfahrung (ebd.) nicht betroffen gewesen wäre. Wenn Daston versucht, ihr Projekt mit der Makroepoche der Frühneuzeit zu verbinden, dann klingt in ihren Worten doch das "grand narrative" der Scientific Revolution nach: "The new natural knowledge of early modern Europe was prolific in new forms of experience" (S. 51). >Revolutionär< wird dabei durch >neu< ersetzt.

Aus Dastons Formulierungen läßt sich – erstens – folgern, dass Wissenschaftsgeschichtsschreibung und Geschichtsschreibung nicht ohne gewisse Rahmenannahmen auskommen, welche die Frühe Neuzeit als besonders untersuchenswert hervorheben. Und diese Annahmen lassen sich auf Fortschrittsgeschichten zurückführen, wie sie die Scientific Revolution schrieb, wenn diese Geschichten auch teilweise angezweifelt und in ihrem Geltungsanspruch zurückgedrängt wurden. Zweitens wäre zu fragen, ob sich Geschichtsschreibung, wenn sich solche Rückgriffe mehr als nur forschungspragmatisch, sondern auch im Ergebnis bewähren, nicht offen über die Angemessenheit solcher Annahmen verständigen könnte. Drittens bleibt – mit Daston – anzumerken, dass der Trend zur Mikrohistorie, dem sich die Frühneuzeit-Forschung fügt, aus verschiedenen Gründen verführerisch ist. Daston will der Begrenzung auf historische Detailerkenntnis entkommen, indem sie einen fächerübergreifenden Forschungsgegenstand benennt und seine >reichen Möglichkeiten< (S. 53) für die Integration und Kooperation der Disziplinen beispielhaft aufzeigt. 14

Wissensideale
und Wissenskulturen

Wie verhält sich ein Sammelband, dessen Beiträger zu erheblichen Teilen aus der wissenschaftstheoretisch inspirierten Wissenschaftsgeschichte kommen, zu diesen Überlegungen? Im Vorwort zu Wissensideale und Wissenskulturen beginnen Detel und Zittel mit einem skeptischen Verweis auf die wissenschaftshistorischen Skeptiker: Georges Canguilhem, Thomas S. Kuhn, Michel Foucault und Michael Williams – sie alle hätten die Hauptidee traditioneller Epistemologie verworfen, dass die Geschichte der Wissenschaften ein evolutionärer Prozess sei, der rational rekonstruiert werden könne, wendete man universal gültige Rationalitätskriterien darauf an (S. 7). 15 Statt dessen hätten diese Skeptiker die Kontingenzen und Brüche in den Geschichten des Wissens betont, die nicht unter dem Dach einer Evolutions- und Fortschrittsgeschichte der Wissenschaften verhandelt werden könnten. Als kulturgeschichtlich gemäßigte Parteigänger der rationalen Rekonstruktion gehen Detel und Zittel demgegenüber davon aus, dass die Annahmen dieser Skeptiker historisch nicht hinreichend bewiesen seien. Deshalb, so ihr Argument, bedürfe es einer gründlichen historischen Forschung sowohl über die >Wissensideale<, die Wissenschaft anleiten, als auch über die Wissenskulturen, die sie bestimmen. Ziel von Wissensideale und Wissenskulturen ist es, Material für eine künftige "Entscheidung" über die angesprochenen Dispute von Wissenschaftstheorie und -geschichtsschreibung zu liefern (ebd.).

Eine derart >klassische< Aufgabenstellung bedient sich vor allem klassischer Exempel aus der Wissenschaftsgeschichte: Lawrence Brockliss befasst sich mit der Institutionalisierung neuer Ideen an der Pariser Akademie des 17. Jahrhunderts (S. 115–134). Er zeichnet einen Prozess der sukzessiven Akzeptation von Harveys Theorie des Blutkreislaufs und von Torricellis Erkenntnissen über den Luftdruck nach. Harvey und Torricelli widersprachen etablierten aristotelischen Dogmen, und erst nach und nach wurden Elemente ihrer Lehren in das sich verändernde aristotelische Denkgebäude der Akademie aufgenommen. Daniel Garbers Beitrag liest sich wie ein Gegenstück zu dieser Darstellung (S. 135–160). Garber befaßt sich mit der De-Institutionalisierung und Re-Institutionalisierung >alter< Ideen im Umfeld derselben Akademie. Er beschreibt die Angriffe der gelehrten "Libertins" (Jean Bitaud, Anthoine Villon, Éstienne de Clave; kurz: "the Gang of Three") auf den Aristotelismus ebenso wie die sozial, politisch und religiös motivierte Verteidigung desselben durch die "Académiciens". Im Ergebnis steht hier die Erkenntnis, dass die Scientific Revolution nicht nur im Wandel vom Ptolemäischen zum Kopernikanischen Weltbild bestand, sondern gerade auch in solchen libertinen Bewegungen zu suchen ist, wie sie von der >Dreierbande< ausgingen.

Andere Beiträge begegnen der Scientific Revolution skeptischer, wenn sie sie überhaupt noch in den Blick nehmen: Mario Biagioli beispielsweise zeigt, dass sich Galileo Galilei gegen die von Jesuiten vertretene Auffassung wendete, Sonnenflecken kreisten wie Satelliten um die Sonne. Biagioli erörtert auch, inwiefern sich Galilei dabei von versteckten kosmologischen und ontologischen Annahmen leiten ließ (S. 39–96, bes. S.92). Vergleichbares gilt für die Beiträge, die sich mit der Royal Academy und ihrem Umfeld befassen. Diese nehmen die These von den >metaphysischen Ursprüngen< der Scientific Revolution (Margaret C. Jacob und James R. Jacob) in den Blick. Zittel erläutert Francis Bacons Diktum "truth is a daughter of time" vor dem Hintergrund von drei konkurrierenden Interpretationsansätzen: dem skeptisch-relativistischen, dem optimistisch-evolutionären und dem eschatologischen (S. 213–238). Indem Zittel die enge Verbindung von Bacons Geschichtsauffassung, Methodologie und Enzyklopädik beschreibt, zeigt er, dass die relativistische Position Bacons Diktum am besten kennzeichnet. Bacon erkenne, so Zittel, die Geschichtlichkeit von Wahrheit und folglich auch die Geschichtlichkeit der eigenen Position (S. 215 u. passim). Isaac Newton hingegen, so Klaus Reichert, sei vor allem von apokalyptischen und millenaristischen Überlegungen motiviert gewesen (S. 239–258): Er habe seine "Entzifferungswerke des Buchs der Natur", das Gravitationsgesetz und die Optik, verfolgt, um die Wahrheit des "Buchs der Bücher" nachzuweisen (S. 239). In der Konsequenz habe er nicht zuletzt die Dinge betont, die dem Menschen um seines Seelenheils willen verborgen bleiben müssten: "the mysteries of the kingdom of glory" und "the perfection of the laws of nature". 16

Während Reichert die Probleme hervorhebt, mit denen sich Newton im Blick auf die Vervollkommnung der Naturgesetze konfrontiert sieht, erhellt Friedrich Steinle, wie sich der Begriff vom Naturgesetz aus ganz unterschiedlichen theologischen, juristischen, philosophischen und naturwissenschaftlichen Kontexten entwickelte (S. 197–212). Zu diesem Zweck widmet er sich der frühen Royal Society und zeigt, wie der Begriff vom Naturgesetz dort zusehends erweitert wurde. Mitte des 17. Jahrhunderts fielen "generelle Prinzipien mit axiomatischem Charakter" unter ihn (S. 199). Gelehrte wie Robert Hooke und Henry Oldenburg aber beförderten ein neues, dem alten zuwiderlaufendes Verständnis vom Naturgesetz: Es sollte nurmehr aus den Naturphänomenen abstrahiert werden, und zwar im Sinne von empirischen Regularitäten (S. 202). Daran anküpfend bemühte sich Robert Boyle um konzise Bestimmungen des Naturgesetz-Begriffes, indem er seine unterschiedlichen Gebrauchszusammenhänge untersucht (S. 203). Doch sein Versuch einer Präzisierung und Problematisierung des Begriffs führte nicht dazu, dass er ihn verabschiedete: im Gegenteil. Boyle zählte zu denjenigen Gelehrten der Royal Society, die den Begriff des Naturgesetzes nutzten, um für das Programm einer organisierten Wissenschaft einzutreten (S. 208 f.).

Im Ergebnis dieser historisch wie systematisch reichen und anregenden Beiträge fragt sich, ob sie dem Vorhaben der Herausgeber entgegenkommen, zu einer "Entscheidung" der großen wissenschaftstheoretischen Fragen beizutragen. Unter heuristischem Aspekt bleiben nicht nur Zweifel anzumelden, was den Erfolg eines solchen Vorhabens betrifft, 17 sondern die Frage nach den Ermöglichungsbedingungen für eine solche Entscheidung wäre überhaupt erst zu stellen. In welchen Hinsichten könnte die Wissenschaftstheorie aus der Wissenschaftsgeschichte lernen? Die Beiträge von Wissensideale und Wissenskulturen jedenfalls nehmen wider Erwarten vor allem die >irrationalen< Momente von Wissenschaft in den Blick: Galileos kosmologische und ontologische Annahmen, Newtons Apokalyptik und wissenschaftspolitische Bestrebungen sowohl an der Pariser Akademie als auch in der Royal Society. 18 Im Blick auf Wissensideal und Wissenskulturen lässt sich eine Evolutions- und Fortschrittsgeschichte der Wissenschaften erstaunlicherweise nur dort schreiben, wo nicht-etablierte Außenseiter ein dominierendes >Programm<, nämlich den Aristotelismus der "Académiciens" angreifen (Garber über "the Gang of Three").

Perspektiven
vs. Perspektivierungen

Fortschrittskritische Geschichtsschreibungen wie diese ruhen auf Erträgen, welche die Forschung der vergangenen Jahrzehnte unter dem Vorzeichen des vielkritisierten Paradigmas der Modernisierung und unter den Vorzeichen der Scientific Revolution zusammentrug. Gegenwärtige Frühneuzeit-Forschung kann und muss diese Erträge prüfen, erweitern und vor allem dort modifizieren, wo das jeweils forschungsleitende Paradigma in problematischer Weise zum Tragen kam: wo es die Sicht auf >die Sache selbst< verstellte. Die hier diskutierten Beiträge stellen sich dieser Herausforderung in einer so anspruchsvollen Weise, dass Frühneuzeit-Forschung als lebendiges Gebiet erscheint, das nach wie vor neue Entdeckungen verspricht.

Aber wenden sie sich nicht allzu rasch von dem ab, was sie zu Recht kritisieren? Polemisch zugespitzt: Was bleibt von der >Frühen Neuzeit<, wenn sich ihre vielgerühmte >fortschrittliche< Wissenschaftsentwicklung, wenn sich ihre Entwicklungen hin zu einem modernen und effizienten Staat, zu einer weltlichen Moral in den Denk- und Handlungsmustern des Politischen und Irrationalen aufzulösen scheinen? Überdeckt der Blick auf die Kontinuitäten der Wissensentwicklung, der Blick auf eine quasi-überzeitliche "Fragmentierung und Diversität" nicht die Spezifik der Frühen Neuzeit und schadet damit ihrer Visibilität (auch im wissenschaftspolitischen Sinne)? Die Kritik an Thesen wie denjenigen von der Scientific Revolution erweist sich als Januskopf, will man die Frühe Neuzeit als "Musterbuch der Moderne" (Winfried Schulze) verstehen.


Die Sammelbände Zwischen den Disziplinen? und Wissensideale und Wissenskulturen stimmen aber nicht nur deshalb nachdenklich. Es fragt sich außerdem, wie weit die Perspektiven der Frühneuzeit-Forschung reichen, ob es sich nicht vielmehr um Perspektivierungen handelt, die gängige Verfahren, Fragestellungen und Begriffe der Geschichts-, der Text- und der Bildwissenschaft aufnehmen und kombinieren. Mit dieser Begrenztheit ihres Vorgehens veranschaulicht die Frühneuzeit-Forschung jedoch zugleich musterhaft jene methodischen und theoretischen Probleme, in denen sich die Humanities derzeit befinden: Erneut erweist sich die Frühe Neuzeit als theorie-affine Epoche, die der Neuzeit und ihrer Erforschung zum Exempel werden kann. Denn die Erforschung der Frühneuzeit und die wissenschaftliche Selbstreflexion der Frühneuzeit-Forschung geben Einblick in den status quo der Humanities – in den Zustand von Wissenschaften, die unter den Bedingungen interdisziplinärer und internationaler Perspektivierungen nurmehr um eine gemeinsame Perspektive ringen.


PD Dr. Sandra Pott
Universität Hamburg
Institut für Germanistik II
Von-Melle-Park 6 / IV
20146 Hamburg

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Ins Netz gestellt am 22.01.2004
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Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Natalia Igl.


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Anmerkungen

1 Die Seitenzahlen in Klammern beziehen sich auf den von Detel und Zittel herausgegebenen Band.   zurück

2 Die Seitenzahlen in Klammern beziehen sich auf den von Puff und Wild herausgegebenen Band.   zurück

3 Unter denkgeschichtlichem Aspekt schlägt beispielsweise Dominik Perler eine historisch angemessene Behandlung des "Rationalismus / Empirismus-Schemas" vor, indem er die "Meditationes" des Descartes einer gründlichen Analyse unterzieht (S. 55–80).   zurück

4 Diese Einsicht hält Sprengstoff für Diskussionen über einen Literaturbegriff bereit, den die Neuere deutsche Literaturwissenschaft gern am Vorbild der Autonomieästhetik entwickelt und der für die Wahrnehmung frühneuzeitlicher Texte fatale Auswirkungen hatte. Nur zu oft wertete man diese Texte ab, weil sie nicht den Werten und den teils bloß vermeintlichen Kriterien dieses autonomieästhetischen Literaturbegriffs entsprachen. – Es bleibt zu hoffen, dass die Theoriebildung und historische Erkundungen für das Verhältnis von Text und Kultur auch im Sinne einer Selbstreflexion des Faches weitergeführt werden.   zurück

5 Für ein literaturwissenschaftliches Beispiel, das ritualtheoretische Analysen auf die Handlungsweisen von Geheimgesellschaften anlegt, siehe Linda Simonis: Die Kunst des Geheimen. Esoterische Kommunikation und ästhetische Darstellung im 18. Jahrhundert. Heidelberg 2002.   zurück

6 Dazu Martin Mulsow: Kulturkonsum, Selbstkonstitution und intellektuelle Zivilität: Die Frühe Neuzeit im Mittelpunkt des kulturgeschichtlichen Interesses. In: Zeitschrift für Historische Forschung 25 / 4 (1998), S. 529–547; Reinhold Reith / Torsten Meyer (Hg.): Luxus und Konsum. Eine historische Annäherung. (Cottbuser Studien zur Geschichte von Technik, Arbeit und Umwelt 21) Münster 2003; vgl. auch die Rez. von Uwe Spiekermann zu diesem Band: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de (03.10.2003).   zurück

7 Siehe noch immer die Darstellung von Margaret C. Jacob: Clandestine Culture in the Early Enlightenment. In: Harry Woolf (Hg.): The Analytic Spirit. Essays in the History of Science. In Honor of Henry Guerlac. Thaca, London: Cornell UP 1981, S. 122–145. Als Klassiker gelten mittlerweile Jean Marie Goulemot: Gefährliche Bücher. Erotische Literatur, Leser und Zensur im 18. Jahrhundert (kultur und ideen) Reinbek bei Hamburg 1993; Robert Darnton: The Forbidden Bestsellers of Pre-Revolutionary France. New York: Norton & Company 1995; Jonathan Israel: Radical Enlightenment. Philosophy and the Making of Modernity 1650–1750. Oxford: Oxford UP 2001. – Für den deutschen Kontext vor allem Winfried Schröder: Ursprünge des Atheismus. Untersuchungen zur Metaphysik- und Religionskritik des 17. und 18. Jahrhunderts (Quaestiones 11) Stuttgart-Bad Cannstatt 1998; Martin Mulsow: Moderne aus dem Untergrund. Radikal Frühaufklärung in Deutschland (1680–1780). Hamburg 2002; aus buchgeschichtlicher Perspektive Christine Haug: Geheimbündische Organisationsstrukturen und subversive Distributionssysteme zur Zeit der Französischen Revolution. In: Leipziger Jahrbuch zur Buchgeschichte 7 (1997), S. 51–74; dies.: "Die kleinen französischen Schriften gehen zur Zeit ungleich stärker als aber andere solide Werke...". Der Buchhändler Johann Georg Esslinger (1710–1775) in Frankfurt am Main und sein Handel mit Geheimliteratur. In: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 4 (2002), S. 104–135.   zurück

8 Dazu Eckhart Hellmuth / Christoph v. Ehrenstein: Intellectual History Made in Britain: Die >Cambridge School< und ihre Kritiker. In: Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), S. 149–172; für den neuesten Stand der konzeptionellen Diskussion siehe die unter dem Titel "Visions of Politics" erscheinende Gesamtausgabe von Skinner (Cambridge University Press 2002 ff.); vgl. außerdem die Diskussionen im traditionsreichen "Journal for the History of Ideas", in den neu begründeten Journalen "Intellectual News" und "Modern Intellectual History" sowie im Rahmen der "International Society for Intellectual History"; URL: http://www.the-isih.org.   zurück

9 Siehe Herbert Jaumann (Hg.): Imaginationen des Anderen im 16. und 17. Jahrhundert (Wolfenbütteler Forschung 96) Wiesbaden 2001; vgl. auch die geplante Tagung "Alterity and the Experience of Limits" der International Society for Intellectual History (Istanbul, 10. bis 13.12.2003); vgl. die Homepage: http://www.the-isih.org.   zurück

10 Tim C.W. Blanning: The Culture of Power and the Power of Culture. Old Regime Europe 1660–1789. Oxford: Oxford UP 2002.   zurück

11 Treffend zitiert Daston dafür Steven Shapin: "There was no such thing as the Scientific Revolution, and this is a book about it." Ders.: The Scientific Revolution. Chicago 1996, S. 1; Daston, S. 39.   zurück

12 "The old narrative of the Scientific Revolution performed real work for early modern historians, underpinning their account of how Europe achieved modernity and acting as First Cause for the Enlightenment. Without a replacement for this grand (if dubious) narrative, the new history of early modern natural knowledge appears not only indigestible (however enticingly presented), but also oddly useless." (Daston, S. 48)   zurück

13 "Fact" versteht Daston als "datum of pure experience"; dies., S. 51.   zurück

14 Es verwundert nicht, dass Dastons Text im Blick auf diese beiden Kriterien an die Textsorte >Projektantrag< erinnert. Diese eigentümliche Verquickung von wissenschaftlichem Beitrag und Antragsprosa aber wäre einen eigenen Beitrag über die Entwicklung wissenschaftlicher Theoriebildung im Blick auf ihre wissenschaftpolitischen Rahmenbedingungen wert. Beispielsweise bliebe zu fragen, welche wissenschaftliche Relevanz die Kriterien der >Integrativität< und der >Kooperationsfreudigkeit< beanspruchen dürfen.   zurück

15 Die Seitenzahlen in Klammern beziehen sich auf den Band von Detel und Zittel.   zurück

16 Die Zahl der Dinge, die zu denen gehören, die dem Menschen unbekannt bleiben sollen, variiert im Gang durch Bacons Schriften; Reichert S. 254.   zurück

17 Dazu Lutz Danneberg / Jörg Schönert: Belehrt und verführt durch Wissenschaftsgeschichte. In: Petra Boden / Holger Dainat (Hg.): Atta Troll tanzt noch. Selbstbesichtigungen der literaturwissenschaftlichen Germanistik im 20. Jahrhundert (LiteraturForschung) Berlin 1997, S. 13–58.   zurück

18 Es erstaunt übrigens, dass die Beiträge in dem genannten Sammelband gänzlich auf eine Auseinandersetzung mit dem Versuch verzichten, eine nicht-teleologische Geschichte von Wissenschaft und Kultur der Frühen Neuzeit theoretisch anspruchsvoll zu begründen; dazu vor allem Barbara Bauer: Nicht-teleologische Geschichte der Wissenschaften und ihre Vermittlung in den Medien und Künsten. Ein Forschungsbericht. In: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 26 / 1 (1999), S. 3–35.   zurück