Pross: Zeichen der Zeit
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Zeichen der Zeit

Neue Forschungsbeiträge über den Schriftsteller
und Kritiker Max Nordau

  • Charles Bernheimer: Decadent Subjects. The Idea of Decadence in Art, Literature, Philosophy, and Culture of the Fin de Siècle in Europe. Edited by T. Jefferson Kline and Naomi Schor. Baltimore: The Johns Hopkins University Press 2002. 248 S. 10 Abb. Gebunden. USD 43,95.
    ISBN: 0-8018-6740-1.
  • Karola Agnes Franziska Dahmen: Spurensuche. Der Mediziner, Romancier, Kulturkritiker und Journalist Max Nordau in seiner Rolle als Kunstkritiker der Neuen Freien Presse. (Europäische Hochschulschriften 416) Frankfurt/M. u.a.: Peter Lang 2006. 431 S. 18 Abb. Kartoniert. EUR (D) 68,50.
    ISBN: 3-631-54451-0.
  • Petra Zudrell: Der Kulturkritiker und Schriftsteller Max Nordau. Zwischen Zionismus, Deutschtum und Judentum. (Epistemata 421) Würzburg: Königshausen & Neumann 2003. 296 S. Kartoniert. EUR (D) 45,00.
    ISBN: 3-8260-2376-5.
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Leerstellen der Forschung

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Es gehört zu den Gemeinplätzen der Forschung zum deutschsprachigen Fin de Siècle, auf die Bedeutung Max Nordaus in seiner Eigenschaft als Vermittler, Kritiker und Stichwortgeber für die Literatur hinzuweisen. Die Bedeutung, die man Nordau seit längerem für die deutschsprachige Literatur des späten 19. und angehenden 20. Jahrhunderts zuschreibt, 1 hat in der Germanistik allerdings bis heute zu keiner entsprechend intensiven Erforschung dieses Autors geführt.

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Der bislang wichtigste neuere Forschungsbeitrag stammt denn auch nicht aus der Literatur-, sondern aus der Geschichtswissenschaft. Erst die geschichtswissenschaftliche Habilitationsschrift von Christoph Schulte, Psychopathologie des Fin de siècle. Der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau, 2 hat das Gesamtwerk des Schriftstellers und Publizisten Nordau wieder in seinem vollen Umfang und seinen heterogenen Konturen erkennbar gemacht, ein Werk, das ein breites Spektrum zwischen Belletristik und Kritik, Psychopathologie und Zionismus ausmißt.

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Wie die meisten neueren Arbeiten zu Nordau ist Schultes grundlegende Studie dem Forschungskontext der Jewish Studies verpflichtet, in denen der Zionist Nordau nach wie vor eine wichtige Rolle spielt. Das Herangehen aus dieser Perspektive erwies sich auch deshalb als ertragreich, weil es einen weniger eingeschränkten und durch fachgeschichtliche Tabuisierungen belasteten Blick auf Nordaus Schreiben erlaubte als dies in der germanistischen Forschung bis dahin offensichtlich möglich war. 3

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Dies gilt insbesondere für die Auseinandersetzung mit Nordaus kulturkritischem Hauptwerk Entartung, dessen Einfluß auf die Literatur der Jahrhundertwende kaum zu überschätzen ist, das außerhalb von Bibliotheken seit langem aber nur noch in einer amerikanischen Ausgabe zugänglich ist. Aufgrund ihres vorwiegend historischen Erkenntnisinteresses blieb Schultes Studie in Hinblick auf Nordaus literarisches und kritisches Werk allerdings vergleichsweise kursorisch.

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An dieser Stelle setzen nun mehrere neuere Monographien an, die ebenfalls in einem weiteren disziplinären Kontext situiert sind, dem der Kunstgeschichte, der Komparatistik und dem der Jewish Studies. Für eine im engeren Sinne literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Nordau stellen diese Arbeiten gleichwohl eine Reihe von wichtigen Einsichten und Impulsen bereit.

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Rezeptionsgeschichtliche
Beziehungen

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Als »Beitrag zu einer deutsch-jüdischen Literaturgeschichte« (S. 12) versteht sich die Dissertation von Petra Zudrell, die sich mit Nordaus kulturkritischen Arbeiten sowie mit seinem umfangreichen literarischen Werk beschäftigt. Zudrell geht in der Einleitung von der »Absenz rezeptionsgeschichtlicher Untersuchungen in der Germanistik« (S. 10) aus, die in einem »krassen Widerspruch zu der Tatsache [stehe], daß Nordau als einer der meistgelesenen deutschen Autoren im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts gilt« (S. 10).

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Die auf ausgiebigen Quellenrecherchen beruhende Studie tritt an, dieses »Forschungsdesiderat« (S. 10) zu beheben. In einem ersten Kapitel wird der »literatursoziologische Blick auf die Produktionsbedingungen eines Erfolgsschriftstellers« (S. 14) an den fünf frühen Monographien von Aus dem wahren Milliardenlande bis Paradoxe entfaltet, die »Max Nordau als Kulturkritiker« (S. 18–82) zeigen. Herausgearbeitet wird in diesem Kapitel die Ausbildung des Kategoriensystems und der kulturgeschichtlichen Methode Nordaus, der in den frühen Studien noch als Reiseschriftsteller und als Verfasser von »Kulturbildern« hervortritt.

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Besondere Aufmerksamkeit widmet Zudrell in diesem Zusammenhang Nordaus Ansatz, kulturelle Artefakte und Monumente als Zeichen der sozialen und mentalen Dispositionen einer Epoche zu entziffern, den Nordau vor allem in seinen Reiseberichten und in seinen Büchern über Paris praktiziert. Wie Zudrell anhand der Rezeptionsspuren der Nordauschen Parisbücher bei Kracauer und Benjamin geltend macht, verweisen die Verfahren einer kulturgeschichtlichen Diagnostik dabei jenseits von Wertungsfragen auf Nordaus »Partizipation« an der »Moderne« (S. 52).

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Ein zweites Kapitel ist den »Wechselwirkungen« (S. 83–191) Nordaus mit dem zeitgenössischen Literatursystem gewidmet. Anhand von ausführlich entfaltetem Quellenmaterial – Briefe, Kritiken, Gegendarstellungen – werden die Verbindungen Nordaus zu zeitgenössischen deutschen Schriftstellern und Kritikern dokumentiert. Behandelt werden die Beziehungen zu so unterschiedlichen AutorInnen wie Bertold Auerbach, Carl Bleibtreu, Sarah Hutzler, Wanda von Sacher-Masoch, Karl Kraus, Theodor Herzl und Paul Heyse. Erkennbar wird dabei die enge Einbindung des in Paris ansässigen und schreibenden Nordau in das deutschsprachige Literatursystem der 1880er bis 1910er Jahre.

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Nordaus Beziehungen zu einzelnen AutorInnen sind dabei von unterschiedlichem Gewicht, ihre Rekonstruktion führt mitunter in heute weitgehend vergessene Bereiche des späten 19. Jahrhunderts. Andere dieser Beziehungen sind dazu angetan, Nordaus eigene Positionen zu erhellen. Die ausführlich dokumentierte Kontroverse mit Carl Bleibtreu etwa bezeugt die bereits früh ausgeprägte Frontstellung gegenüber den Naturalisten. Die über die Briefwechsel rekonstruierte Beziehung zu den respektvoll verehrten älteren Schriftstellern Auerbach und Heyse verdeutlicht im Gegenzug, wie sehr Nordau in seinen Wertungen dem Literaturverständnis des mittleren 19. Jahrhunderts verpflichtet ist.

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Ein drittes und letztes Kapitel ist schließlich »Max Nordau als Schriftsteller« (S. 192–272) gewidmet. In knappen Analysen bietet Zudrell hier einen Überblick über das umfangreiche literarische Werk Nordaus, das mit dem Jahr 1906 endet. Untersucht werden acht Dramen, vier Romane und drei Bände mit Erzählungen. Der Schwerpunkt der Lektüren liegt dabei auf dem Versuch, »die Interdependenzen zwischen der Kulturkritik Nordaus [...] und seiner Belletristik aufzuzeigen« (S. 15). Die Relevanz einer Auseinandersetzung mit Nordaus literarischer Produktion, der sie selbst »(bestenfalls) literarische Zweitrangigkeit« (S. 15) zubilligt, sieht Zudrell dabei darin begründet, daß diese Werke die »Positionen seines kulturkritischen Werks [...] einem breiten Theater- und Lesepublikum zu vermitteln« (S. 273) suchen.

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Entsprechend dieser These werden vor allem die thematischen Konvergenzen mit den publizistischen und kulturkritischen Texten fokussiert, während literarische Traditionen eine eher untergeordnete Rolle spielen. Für die Analysen der literarischen Texte gilt insgesamt, daß sie vergleichsweise kursorisch bleiben und eher einen ersten Überblick über Figurenkonstellation und Argumentation der Romane, Erzählungen und Dramen bieten als die von der Verfasserin postulierten kritischen Gegen- und »Relektüren« (S. 15, S. 192) der Nordauschen Literatur.

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Ein wichtiger Ertrag von Zudrells Studie ist es, daß sie das umfangreiche literarische Werk Nordaus überhaupt ein erstes Mal in einer Überblicksdarstellung rekonstruiert und dessen grundlegende argumentative Strukturen kenntlich macht. Sie leistet damit Grundlagenarbeit für jede weitere Auseinandersetzung mit dem Schriftsteller Nordau. Für diese Erträge entrichtet Zudrell allerdings den Preis, daß die Arbeit zwar ein breites Spektrum an Texten und an biographischen wie programmatischen Vernetzungen innerhalb der Epoche abdeckt, einer vertieften Auseinandersetzung mit einzelnen Texten oder ästhetischen Fragestellungen aber vergleichsweise wenig Raum gibt. Leser, die eine solche Auseinandersetzung suchen, können ergänzend zu Zudrells Studie jedoch auf zwei weitere neue Arbeiten zurückgreifen, die sich intensiver mit Nordau in seiner Eigenschaft als Kunst- beziehungsweise Literaturkritiker beschäftigen.

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Wissensgeschichtliche
Kontextualisierungen

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Um eine vertiefte Einordnung Nordaus in die ästhetische Diskussion des späten 19. Jahrhunderts ist die Studie von Karola Dahmen Spurensuche. Der Mediziner, Romancier, Kulturkritiker und Journalist Max Nordau in seiner Rolle als Kunstkritiker der Neuen Freien Presse bemüht. Die kunstgeschichtliche Dissertation ist in erster Linie dem Kunstkritiker Nordau gewidmet. Sie gibt in den ersten beiden Teilen jedoch zunächst einen weit ausgreifenden Überblick über Nordaus Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen bildenden Kunst und rekonstruiert die programmatischen Prämissen seiner Kunstkritik, die auch die Literatur tangieren.

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Ausgewertet werden dafür Nordaus Zeitschriften- und Zeitungsbeiträge seit den 1870er Jahren und seine Monographien bis zum Erscheinen von Entartung im Jahr 1892/93. In einem dritten Teil werden die zunächst eher allgemein gehaltenen Ausführungen zu den Prämissen von Nordaus Verständnis von Kritik und Kunst schließlich in der Analyse einer Reihe von Kritiken konkretisiert, die Nordau in den Jahren zwischen 1895–1914 als Kunstkritiker der Wiener Neuen Freien Presse zu Werken der zeitgenössischen Malerei und bildenden Kunst verfaßt hat.

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Ein Verdienst von Dahmens Studie ist die genaue Rekonstruktion der wahrnehmungstheoretischen Vorannahmen, die Nordaus Kritiken von Kunstwerken zugrunde liegen. Dahmen greift dabei Überlegungen auf, wie sie insbesondere Jonathan Crary in Techniques of the Observer vorgebracht hat. 4 Im Anschluß an Crary nimmt Dahmen den Anspruch Nordaus ernst, kognitive und perzeptive Prozesse konsequent in der Physiologie zu fundieren. Überzeugend situiert sie Nordau zunächst in der Tradition einer sensualistischen Ästhetik, um in der Analyse ausgewählter Kapitel von Nordaus seinerzeit viel gelesenen Monographien Die konventionellen Lügen der Kulturmenschheit und Paradoxe dann die besonderen, dem Wissen des 19. Jahrhunderts verpflichteten Grundlagen von Nordaus Ästhetik nachzuzeichnen.

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In einer genauen Lektüre kann Dahmen zeigen, wie Nordaus ästhetische Anschauungen sich unter dem Eindruck der Lebenswissenschaften in den 1880er Jahren verändern (S. 68–141). Ein wichtiger Ertrag dieser Analysen ist dabei der Befund, daß Nordau sich mit seinen Überzeugungen zur Fundierung künstlerischer Produktivität in der Physiologie keineswegs in einer Außenseiterposition befindet. Vielmehr macht Dahmen deutlich, daß sich der in Paris als Mediziner ausgebildete Nordau diesbezüglich auf dem Stand der zeitgenössischen psychophysiologischen Forschung befand, in der die Frage nach den physiologischen Fundamenten von Wahrnehmungs- und Denkprozessen ein zentraler Untersuchungsgegenstand war. Nordau, so die Einschätzung Dahmens, »war in dieser Hinsicht nur einer von vielen« (S. 348).

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Für die Literaturwissenschaft sind diese Hinweise in doppelter Hinsicht von Bedeutung. Stellt man in Rechnung, daß die Physiologisierung der Ästhetik ein Phänomen der Zeit ist, das man gespeist aus denselben Quellen ebenso bei Vertretern des Naturalismus wie bei Friedrich Nietzsche finden kann, wird zum einen die breite Akzeptanz verständlicher, auf die Nordau mit seinem kritischen Hauptwerk Entartung (1892/93) stieß. Zum anderen wird man vor diesem Hintergrund genauer zu bedenken haben, wo in diesem so einflußreichen Werk die Grenzen zwischen ›wissenschaftlicher‹ Argumentation und persönlicher Polemik liegen.

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Die Darstellung zu Entartung selbst (S. 142–257) fällt etwas unübersichtlich aus. Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive ist es bedauerlich, daß Dahmen im Bereich der Literatur lediglich auf die Autoren der französischen décadence und der »Dekadenzliteratur im deutschsprachigen Raum« (S. 182) eingeht. Sie knüpft damit zwar an eine geläufige Praxis vieler literaturgeschichtlicher Darstellungen an. Aus dem Blick gerät so jedoch, daß die Begriffe »Entartung« und »décadence« bei Nordau keineswegs deckungsgleich sind, sondern die ästhetische Moderne in toto betreffen und dabei keineswegs auf die ästhetizistischen Strömungen beschränkt bleiben.

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In ihrer dichten Beschreibung der Nordauschen Kritik leistet Dahmen Grundlegendes. Erstmals liegt eine Darstellung vor, die nicht nur die frühen kritischen Texte Nordaus genau kommentiert, sondern auch den »Wechsel innerhalb der Nordauschen Ideen- und Begriffswelt« (S. 19) von einer durchaus traditionellen Kunstkritik zu einer in den Lebenswissenschaften der Epoche fundierten Ästhetik nachzeichnet. Die Tendenz der Arbeit, den Bewegungen von Nordaus Argumentation sehr eng zu folgen, macht sie dabei zu einem kenntnisreichen Kommentar, der eine erste Orientierung in den oft sprunghaften und unsystematischen Schriften dieses Autors ermöglicht.

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Der Verzicht auf eine systematische Explikation des eigenen Erkenntnisinteresses – die Verfasserin bezeichnet ihr Anliegen in der Einleitung zurückhaltend als eine »Spurensuche« (S. 21) und als Bereitstellung »erste[r] Anhaltspunkte« (ebd.) zum Verständnis des Kunstkritikers Nordau – dürfte es Lesern ohne Vorkenntnisse allerdings erschweren, die Ergebnisse dieser kenntnisreichen Arbeit in vollem Umfang zu würdigen, ein Eindruck, der durch die mitunter sehr kolloquiale Beschreibungssprache leider immer wieder ungünstig verstärkt wird.

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Dekonstruktive Lektüre

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Während die Arbeiten von Zudrell und Dahmen darauf abzielen, in Nordaus kritischen Schriften ein kohärentes argumentatives System nachzuzeichnen, verfolgt Charles Bernheimer ein gegenläufiges Erkenntnisinteresse. Seine postum erschienene Studie Decadent Subjects. The Idea of Decadence in Art, Literature, Philosophy and Culture of the Fin de Siècle in Europe behandelt neben Flaubert, Zola, Freud und Nietzsche auch Nordau. Unter dem Titel »Decadent Diagnostics« (S. 139–162) legt Bernheimer dabei eine anregende Untersuchung zu Entartung vor.

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Als Ausgangspunkt dient Bernheimer die Frage: »can a reading of Degeneration today teach us anything of theoretical value about the phenomenon of decadence?« (S. 156), eine Frage, die in der Folge zustimmend beantwortet wird. Bernheimers Lektüre ist ein reiches Beispiel für die Erkenntnismöglichkeiten eines dekonstruktiv geschulten close reading, das die Aufmerksamkeit weniger auf die Einheitlichkeit der Argumentation, sondern auf die widersprüchlichen argumentativen Bewegungen innerhalb eines Textes richtet.

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Bernheimers Interesse gilt dabei vor allem der polarisierenden Rhetorik, die für den argumentativen Duktus von Entartung so charakteristisch ist und auf eine strikte Dichotomisierung von Normalem und Anormalem, Gesundem und Pathologischem auch im Bereich der Literatur und Kunst abzielt. Bernheimer arbeitet von hier aus die auffallend vielen Stellen heraus, an denen die von Nordau angestrebte Abgrenzung kollabiert und der Schreibende zuletzt selbst in eine bedenkenswerte Nähe zu den so forciert zurückgewiesenen Anderen rückt.

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Auch Bernheimer hebt hervor, daß Nordaus Ausführungen in Entartung alles andere als singulär sind, sondern in ihren argumentativen Basisstrukturen weitgehende Übereinstimmungen mit vielen Vertretern der Lebenswissenschaften des späten 19. Jahrhunderts, etwa mit Lombroso, Charcot, Bernheim oder auch mit Freud aufweisen. Ausgehend von dieser Beobachtung gelangt Bernheimer zu einer vorsichtigen Aufwertung von Nordaus Beobachtungen zur Moderne, die in ihrer Diagnostik teilweise durchaus ernstzunehmen seien: »His analysis of the cultural fashions of his period as characterized by fragmentation, disjunction and disharmony is not devoid of insight« (S. 156).

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Auch Nordaus Ausführungen zur Fragmentierung des Selbst und seiner Sprache, wie er sie insbesondere an den Werken der Schriftsteller der décadence entwickele, seien nicht ohne Belang. In ihrem analytischen Gehalt seien sie Freuds späteren Überlegungen zum Todestrieb und seinen Manifestationsformen durchaus vergleichbar, anders als bei Freud würden diese Beobachtungen bei Nordau allerdings noch in einem mit negativen und pathologisierenden Wertungsperspektiven verbundenen »biopsychic model« artikuliert (S. 158).

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Indem er systematisch den Momenten nachgeht, in denen Nordaus rhetorische Abgrenzungsgesten instabil werden, kann Bernheimer überzeugend verdeutlichen, wie wenig abgesichert die Sprecherposition der Kritiker Nordaus selbst ist. An den erstaunlich weit gehenden Konvergenzen zwischen Nordaus eigener Beschreibungssprache in Entartung und den Schreibweisen der als krank und »entartet« zurückgewiesenen Schriftsteller, die Bernheimer herausarbeitet, bekunde sich – wider Willen – Nordaus Faszination von und Teilhabe an den Strukturen der mit so viel Nachdruck zurückgewiesenen Modernität.

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Insgesamt sind Bernheimers Ausführungen zu Nordaus »Decadent Diagnostics« in die übergreifende Thesenbildung des gesamten Buches eingebettet. Diese besagt, daß der Begriff »décadence« selbst ein gleitender, gleichsam dekonstruktiver Term sei, der dazu neigt, in die unterschiedlichsten diskursiven Feldern zu disseminieren und klare Abgrenzungen und Unterscheidungen zu unterlaufen (S. 1–6). Auch wenn man diese These nicht für zwingend hält, bleibt Bernheimers Lektüre außerordentlich anregend und lesenswert.

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Der weitgehend auf inhaltliche Aspekte ausgerichteten deutschsprachigen Forschung zu Nordau eröffnet Bernheimers dekonstruktiv inspirierte Lektüre in ihrer strikten Konzentration auf die Sprachlichkeit und Rhetorik genuin philologische Perspektiven. Wenn man dem Autor Nordau über ein rein literaturgeschichtliches Interesse hinaus Pointen abgewinnen möchte, so wären diese wohl am ehesten in den von Bernheim markierten Bereichen zu sehen: im Bereich der Semiotik und der Lektüre, im Bereich der Rhetorik und ihrer Unterscheidungsprozeduren und im Bereich der Schreibweise und der Sprache selbst.



Anmerkungen

Vgl. Jens Malte Fischer: Fin de Siècle. Kommentar zu einer Epoche. München 1978, S. 53.   zurück
Christoph Schulte: Psychopathologie des Fin de siècle. Der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau. Frankfurt/M. 1997.   zurück
Vgl. Jens Malte Fischer: ›Entartete Kunst‹. Zur Geschichte des Begriffs. In: Merkur 38 (1984), S. 346–352.   zurück
Jonathan Crary: Techniques of the Observer. On Vision and Modernity in the Nineteenth Century. Cambridge/MA 1992.   zurück