Radu über Wirth: Beiträge zu einer Peirce-Wende in der Semiotik

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Mircea Radu

Beiträge zu einer Peirce-Wende in der Semiotik

  • Uwe Wirth (Hg.): Die Welt als Zeichen und Hypothese – Perspektiven des semiotischen Pragmatismus von Charles S. Peirce (stw 1479). Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000. 449 S. Kart. DM 27,90-
    ISBN 3-5182-9079-7.

Inhalt

Peirces Semiotik: Anwendung und Exegese |Struktur des Bandes | Roter Faden: Die Abduktion | Die Aufsätze | Klaus Oehler: Einführung in den semiotischen Pragmatismus | Gérad Deladalle: Semiotik als Philosophie | Nathan Houser: Das semiotische Bewusstsein nach Peirce | Helmut Pape: Die Ontologie des logischen Idealismus in der Peirceschen Semiotik | Thomas A. Sebeok: Indexikalität | Alexander Roesler: Vermittelte Unmittelbarkeit. Aspekte einer Semiotik der Wahrnehmung bei Charles S. Peirce | Uwe Wirth: Zwischen Zeichen und Hypothese: für eine abduktive Wende in der Sprachphilosophie | Dinda L. Gorlée: Der abduktive Ansatz in Übersetzungspraxis und Übersetzungsforschung | Jorgen Dines Johansen: Hypothese, Rekonstruktion und existentielle Analogie. Hermeneutik und semiotische Literaturinterpretation | Augusto Ponzio: Semiotik zwischen Peirce und Bachtin | Massimo A. Bonfantini: Die Abduktion in Geschichte und Gesellschaft | Jan C. A. van der Lubbe: Semiotische Aspekte Künstlicher Intelligenz | Breno Serson: Semiotik und Kognitionswissenschaft | Matthias Kettner: Peirce, Grünbaum und Freud | Franz Wille: Abduktive Erklärungsnetze. Überlegungen zu einer Semiotik des Theaters | Arjan van Baest: Tonalität und Melodie: Semiotik und Musik | Winfried Nöth & Lucia Santaella: Bild, Malerei und Photographie aus der Sicht der Peirceschen Semiotik | Claudio Guerri: Gebaute Zeichen – die Semiotik der Architektur | Lorenz Schulz: Semiotik und Recht – das Zeichen im Recht und das Recht des Zeichens | Johannes Hoeltz: Gottes evolutionäre Liebe. Ansatzpunkte für eine Theologie in semiotischer Perspektive | Schlußbetrachtung: Wichtiger Beitrag zur Peirce-Forschung | Literatur

Peirces Semiotik:
Anwendung und Exegese

Ein Blick in Winfried Nöths "Handbuch der Semiotik" 1 zeigt, dass man gegenwärtig innerhalb der Semiotik mit einem breiten Spektrum unterschiedlicher Ansätze konfrontiert ist. Welchem der konkurrierenden Ansätze sollte man folgen? Welcher Ansatz eignet sich am besten für welche Fragestellungen? Roman Jakobson bemerkte bereits 1965, dass Peirces Semiotik im allgemeinen und seine Auffassung der Triade Ikon-Index-Symbol im besonderen weitreichende Bahnen für die Sprachwissenschaft eröffnen. 2 Wirth geht davon aus, dass mittlerweile das von Peirce entwickelte semiotische Instrumentarium zur Standardausrüstung des semiotischen Erklärungsansatzes gehört und sogar, dass man von einer Ablösung des Saussureschen und des Greimasschen Paradigmas durch Peirces Ansatz sprechen kann.

Peirces Werk ist aber ein äußerst komplexes Gebilde. Viele von Peirces Schriften sind nur als Manuskript vorhanden. Hinzu kommt der "bruchstückhafte" und manchmal polemische Stil, in dem Peirce seine Ideen darstellt, und eine gewisse Variation der von Peirce angegebenen Bestimmungen seiner Grundbegriffe. Eine Peirce-Wende ist daher mit einer doppelten Aufgabe konfrontiert. Zum einen geht es darum, bestimmte Elemente der Peirceschen Konzeption (z.B. seine Kategorienlehre) als Werkzeuge für ein besseres Verständnis unterschiedlicher Zeichenpraktiken (in Literatur, Kunst usw.) einzusetzen. Zum anderen muss die Tragweite der Peirceschen Konzeption selbst untersucht und gegebenenfalls präzisiert und weiterentwickelt werden.

Der von Wirth herausgegebene Sammelband kann deshalb nicht lediglich als eine Darstellung unterschiedlicher Facetten einer bereits vollzogenen Peirce-Wende betrachtet werden. Die unterschiedlichen in diesem Band versammelten Studien versuchen eben durch eine solche Präzisierung und durch die Überprüfung der Anwendungsmöglichkeiten von Peirces Konzeption eine Peirce-Wende voranzutreiben.

Struktur des Bandes

Das Buch enthält zwanzig Aufsätze, aufgegliedert wie folgt in drei thematische Teile.

  1. Philosophie des Zeichens und der Zeicheninterpretation (S. 13-132),

  2. Zeichen und Hypothese im sprachlichen Kontext (S. 133-292) und

  3. Zeichen und Hypothese im kulturellen Kontext (S. 293-431).

Die ersten sechs im ersten Teil enthaltenen Aufsätze beschäftigen sich eher mit allgemeinen Fragen der Peirceschen Semiotik. Die sieben Aufsätze des zweiten Teils behandeln vorwiegend Fragen der Literatur-, Kommunikations-, und Kognitionstheorie. Der dritte Teil besteht ebenfalls aus sieben Aufsätzen. Hier wird Peirces Semiotik für ein besseres Verständnis der Zeichenpraxis in unterschiedlichen Bereichen (Psychoanalyse, Theater, Musik, Malerei, Fotographie, Architektur, Recht und Theologie) benutzt.

Die einzelnen Aufsätze überschneiden sich in der Beschreibung des Peirceschen Instrumentariums. Vor allem Peirces triadische Zeichenkonzeption, seine "Type-Token"-Unterscheidung, die Kategorienlehre, die drei Inferenztypen (vor allem die Abduktion) werden wiederholt dargestellt. Darüber hinaus gibt es verschiedene thematische Überschneidungen. Ein Beispiel hierfür ist die Untersuchung der Problematik der >Übersetzung< in der Literaturwissenschaft, die von Gorlée, Ponzio und Johansen diskutiert wird. Eine weitere Überlappung betrifft die Position des Subjekts innerhalb der Semiose, welche von den meisten Studien zumindest kurz berührt wird.

Die einzelnen Aufsätze sind jedoch im großen und ganzen unabhängig und eigenständig. Das bietet gewisse Vor- und Nachteile. Ein Leser, der sich z.B. nur für die Möglichkeiten von Peirces Konzeption für das Verstehen des Phänomens der Wahrnehmung interessiert, kann sich auf die Lektüre von Alexander Röslers Studie beschränken und so die Überschneidungen vermeiden. Ist man hingegen an unterschiedlichen Anwendungen der Peirceschen Semiotik interessiert, wird man ein gewisses Maß an Wiederholung der Darstellung von Peirces Grundinstrumentarium hinnehmen müssen.

Roter Faden: Die Abduktion

Obwohl die drei Teile des Bandes wie auch die einzelnen Studien thematisch unterschiedlich sind, verbindet sie doch ein roter Faden. Die Mehrheit der Texte behandelt und verwendet Peirces Abduktionsbegriff. Mehr noch, für dreizehn der zwanzig Studien ist der Abduktionsbegriff das zentrale Instrument. Das mag überraschen, wenn nicht gar als eine thematische Einschränkung erscheinen. Es gibt jedoch einen guten Grund dafür. Wenn man nicht bereit ist, Reichenbach zu folgen und den Kontext der Wissensgenese und die Wissensdynamik aus der philosophischen Reflexion auszublenden, dann müssen Mittel gefunden werden, mit denen dieses schwer zugängliche Thema gefasst werden kann. Peirce entwickelte seinen Abduktionsbegriff als ein Werkzeug, um die Entstehung von Wissen einer theoretischen Untersuchung zugänglich zu machen. Die in diesem Band enthaltenen Studien verdeutlichen, dass ein wesentlicher Grund für die Peirce-Wende in der Semiotik mit der Suche nach Mitteln verbunden ist, um den Prozess der Wissensgenese theoretisch in den Griff zu bekommen.

Ein herausragendes Merkmal des Bands besteht gerade darin, dass er eine Reihe von detaillierten Studien enthält, in denen Peirces Instrumentarium auf ganz unterschiedliche Bereiche angewandt wird. Diese Anwendungen führen zu einer bedeutenden Bereicherung der theoretischen Diskussion. Sie erlauben es, bestimmte Möglichkeiten, aber auch einige Grenzen von Peirces Konzeption deutlicher in Erscheinung treten zu lassen. Gleichzeitig suggerieren sie unterschiedliche Wege, Peirces Konzeption zu schärfen und zu entwickeln. Kennzeichnend hierfür sind die verschiedenen Versuche, Peirces Abduktionsbegriff zu präzisieren und weiterzuentwickeln, sei es durch eine genauere Analyse des Verhältnisses zwischen Abduktion und Wahrnehmung (vor allem Roesler, aber auch Kettner, Wille, Hoeltz) oder zwischen Abduktion und Sprache (Wirth, Gorlée, Johansen, Bonfantini), sei es durch die Einführung einer Reihe von Klassifikationen, die zwischen verschiedenen Typen von Abduktionen zu unterscheiden erlauben (Van der Lubbe, Kettner, Wille).

Die Aufsätze

Klaus Oehler:
Einführung in den semiotischen Pragmatismus

Oehler bietet eine allgemeine Darstellung der fundamentalen Begriffe und Themen der Peirceschen Semiotik (Peirces Descartes-Kritik, die Kategorienlehre, die Definition und Klassifikation der Zeichen und der damit verbundenen Problematik der Referenz; der Versuch, die Semiotik – und nicht die Logik – als "Wissenschaft der Wissenschaften" zu verstehen; die Rolle der "community"; die vier Meinungsbildungsmethoden, das Verständnis der Objektivität; der Antiutilitarismus). Der Autor versucht, "das systematische Ineinander" (S. 14) dieser Elemente mit dem in der pragmatischen Maxime ausgedrückten Grundgedanken des Pragmatismus herauszuarbeiten. Die klare Darstellung bietet einen guten Überblick über Peirces Instrumentarium, einige seiner Wurzeln und seine Ziele.

Darüber hinaus wird eine anregende, wenn auch etwas zu knappe Diskussion geboten über die Möglichkeiten, Peirces Pragmatismus für gegenwärtige Fragen der Ethik fruchtbar zu machen. Oehler schließt sich Putnam an, der in Peirces Pragmatismus einen Ansatz sieht, welcher einen Ausweg aus dem "zersetzenden moralischen Skeptizismus" (S. 29) unserer aufgeklärten Gesellschaft zeigt. Doch worin genau besteht dieser Ausweg? Oehler verweist auf Selbstkontrolle und Selbstüberwindung als fundamentale ethische Gebote von Peirces Pragmatismus. Aber sind diese Gebote nicht Bestandteile der meisten Ideologien? 3 Der lapidare Verweis auf Peirces "objektiven Idealismus" (S. 25) Hegelscher Prägung hilft hier nicht weiter. Oehlers Reflexionen zur ethischen Dimension kratzen nur an der Oberfläche einer schwierigen und kontrovers diskutierten Problematik.

Gérad Deladalle:
Semiotik als Philosophie

Deladalle untersucht Peirces Zeichenbegriff, die zehn Klassen der Peirceschen Zeichenklassifikation, den Semiose-Prozess der "Schlußfolgerung aus Zeichen" (S. 35) und schließlich das Verhältnis zwischen Induktion und Abduktion. Der Text bietet eine knappe Darstellung dieser fundamentalen Elemente der Peirceschen Semiotik. Er beleuchtet durch eine klärende Analyse einige wichtige, oft übersehene terminologische Unterscheidungen (Zeichen / Representamen, Ikon / Index / Symbol, die allgemeinere Unterscheidung Absonderung / Diskriminierung etc.). Der letzte Abschnitt des Aufsatzes vergleicht Goodmans Behandlung seines "new riddle of induction" mit Peirces Abduktionstheorie. Der Vergleich ist aufschlußreich sowohl für Goodmans als auch für Peirces Konzeption. Kritisch lässt sich jedoch anmerken, dass die Darstellung des für Goodman zentralen Begriffs der "Verschanzung [entrenchment]" und dessen Vergleich mit Peirces "Abduktion" nur allzu knapp angerissen werden.

Der Aufsatz beginnt aber mit einer kurzen Präsentation der Wurzel der Peirceschen Semiotik. Hier werden vor allem die Bedeutung von Kants "phänomenologischem Empirismus", der Mathematik und der Chemie kurz erwähnt. Es wird u.a. behauptet, dass die Chemie eher als die Mathematik den Schlüssel zu Peirces Konzeption bieten würde (S. 31). Kennzeichnend hierfür ist Deladalles These, dass Peirces Kontinuumsbegriff nicht der Mathematik, sondern eher der Chemie entlehnt sei. Ohne hier die Bedeutung der Chemie für Peirces Konzeption leugnen zu wollen, muss man betonen, dass Peirces Kontinuumsbegriff keineswegs, wie von Deladalle behauptet, "diskret" ist. Bekanntlich verwirft Peirce sogar die Cantorsche Definition des Kontinuums, weil diese auf Mengen und somit auf diskreten Entitäten aufbaut. Peirces Kontinuumsbegriff ist eine äußerst interessante und komplexe theoretische Konstruktion, die in keinem der in diesem Band enthaltenen Aufsätze näher untersucht wird.

Nathan Houser:
Das semiotische Bewusstsein nach Peirce

Peirce folgend unterteilt Houser das Bewusstsein in drei Bereiche, die er ausführlich beschreibt: der erstheitliche Bereich "des Gefühls", "der Gefühlsqualität" oder "Primisense" (S. 45 f.), wie Peirce ihn nennt, der zweitheitliche Bereich "des Sinnes für Reaktion" oder "Altersense" (S. 48 f.) und der drittheitliche Bereich "des Selbstbewustseins", welcher "das Empfinden von Lernen" beinhaltet, und den Houser "Medisense" nennt (S. 55 f.).

Der Text liefert eine klare, gut nachvollziehbare Darstellung dieser Begriffe. Anschließend wird der Prozess des rationalen Denkens (aus der Sicht des Subjekts) einer Peirceschen Analyse unterzogen. Für das Subjekt sei rationales Denken Selbstkontrolle oder Denken mit Selbstbewusstsein. Man muss dabei bedenken, dass aus Peirces Sicht das Subjekt keinen unmittelbaren und vollständigen direkten Zugang zu den eigenen Bewusstseinsinhalten hat, sondern nur über den Umweg der Zeichen, des "diagrammatischen Denkens". Deshalb erscheint Denken als Zeichenpraxis, eine Abfolge von Diagrammatisierung und Deutung durch Selbstreflexion. Die Deutung eines Diagramms findet zunächst in einem Wahrnehmungsurteil statt. Hauser benutzt die Abduktion, um Peirces Begriff des Wahrnehmungsurteils zu erläutern. Der Aufsatz bietet eine aufschlußreiche Präsentation von Peirces Position. Besonders relevant ist die Darstellung des Verhältnisses zwischen Denken, Wahrnehmung und Abduktion in Peirces Konzeption, die im letzten Abschnitt geboten wird.

Helmut Pape:
Die Ontologie des logischen Idealismus
in der Peirceschen Semiotik

Pape geht aus von der fundamentalen Unterscheidung zwischen der "Sprache als System (language) und Sprache als faktischem Sprechen (parole)" (S. 68). Die Unterscheidung werde, so Pape, in der gegenwärtigen Linguistik in der Regel übersehen. Das führe zu einer Analyse der Sprache, die eine klare Unterscheidung zwischen der Verwendung eines Satzes in einem konkreten Kommunikationsakt und der Ableitung desselben "aus den Gesetzen und Bildungsregeln einer idealen Linguistik" (S. 68) unmöglich macht. "So stark ist unsere Neigung, die formale Form einer Theorie mit einer richtigen Beschreibung des Gegenstandsbereichs gleichzusetzen, dass wir geneigt sind, diese Gleichsetzung sogar für wünschenswert zu halten" (S. 68). Pape benutzt Peirces Semiotik, um eine Alternative zu dieser Herangehensweise zu skizzieren. Zentral für seine Analyse sind Peirces Begriff einer "Logik der Ereignisse" (S. 70), seine formal-logische Analyse der Aussagen und der damit verbundene Begriff des "kontinuierlichen Prädikats" (S. 74f.), sowie die sogenannte "indexikalische Token-Syntax" (S. 80f.) eines Satzes. Besonders interessant ist Papes Begriff der "indexikalischen Situationssemantik" und deren Anwendung für eine Klärung der Problematik der "Zustimmung" (S. 83 f.).

Thomas A. Sebeok:
Indexikalität

Sebeoks Auseinandersetzung mit Peirce nimmt ihren Ausgang bei dessen Unterscheidung zwischen Ikon, Symbol und Index. Sebeok behauptet, dass der Indexbegriff das einzige Element dieser Unterscheidung sei, das gleichzeitig originell und fruchtbar ist. Der Aufsatz konzentriert sich daher auf den Indexbegriff, dessen Verwendung durch vielfältige Beispiele illustriert wird. Die meisten Beispiele stammen aus der Biologie, der Geschichtswissenschaft und der Linguistik. Die Fülle der präsentierten Beispiele erfüllt eine doppelte Funktion. Zum einen werden die meisten Aspekte der Peirceschen Bestimmungen des Indexbegriffes erläutert. Zum anderen werden unterschiedliche Anwendungsmöglichkeiten illustriert.

Bezogen auf die Sprachwissenschaft ist es vielleicht an dieser Stelle interessant, zwei Thesen Sebeoks hervorzuheben. Erstens, dass für einige Sprachwissenschaftler "die Produktivität der Sprache entscheidend von der Indexikalität" (S. 107) abhänge, und zweitens, dass gegenwärtig die Sprachwissenschaft keine umfassende Theorie dazu habe. Sebeoks Text gehört zu den aufschlußreichsten Beiträgen zu Peirces Indexbegriffs, die mir bekannt sind. Es ist allerdings überraschend, dass die für Peirce besonders wichtige Anwendung des Indexbegriffs in seinen Überlegungen zur Philosophie der Mathematik 4 von Sebeok nur flüchtig erwähnt wird. 5

Alexander Roesler:
Vermittelte Unmittelbarkeit.
Aspekte einer Semiotik der Wahrnehmung
bei Charles S. Peirce

Die Verbindung zwischen Denken und Handeln, zwischen Begriff und Gegenstand, zwischen Sprache und Bedeutung vollzieht sich unter Rückgriff auf Wahrnehmung oder Wahrnehmungsurteile. Insofern ist das Problem der Wahrnehmung eines der zentralen Themen der Peirceschen Semiotik. Peirce versucht, die strikte Unterscheidung der Psychologie und Philosophie seiner Zeit, zwischen Wahrnehmung und Begriff zu überwinden. Diese radikale Trennung ist z.B. in Machs Positivismus zu sehen, und in diesem Fall führt sie auch zu einem extremen Nominalismus.

Peirce betrachtet sich als Realisten und sucht deshalb Wahrnehmung und Denken im Wahrnehmungsurteil zu verbinden. Deshalb behauptet er, dass das, was uns in der Erfahrung unmittelbar gegeben sei, nicht die Empfindungen an sich oder einfach Universalien seien, sondern Zeichen. Man hat also durchaus eine Unmittelbarkeit, aber wie Roesler in aller Deutlichkeit zeigen kann, handelt es sich hier um eine "vermittelte Unmittelbarkeit". Nichts sei an sich ein für allemal "unmittelbar" gegeben, sondern lediglich für den Moment "unkontrollierbar" oder unhinterfragbar. Diese Unmittelbarkeit sei uns über Gewohnheiten vermittelt, jedoch stelle sie für uns zunächst ein Wahrnehmungsurteil jenseits jeder Infragestellung dar. Der Ausgangspunkt jeglicher Reflexion seien die Wahrnehmungsurteile. "Sie sind unsere Basis, und alle Unterscheidungen in Perzept, Objekt etc. sind Ergebnis einer Analyse der Wahrnehmungsurteile" (S. 128). Gewohnheiten, Zeichen und Abduktion sind die Grundlage für unsere Wahrnehmungsurteile. Das Zusammenspiel dieser Elemente, welches schließlich in ein Wahrnehmungsurteil münde und zu einem "Perzept" führe, wird ausgearbeitet.

Roeslers Aufsatz bietet einen wesentlichen Beitrag zur gegenwärtigen Diskussion dieses besonders wichtigen Themas. Die präzise Sprache und die geschickte Verbindung der unterschiedlichen Argumentationsstränge führen darüber hinaus dazu, dass der Aufsatz auch für einen Leser, der wenig mit Peirce vertraut ist, eine gewinnbringende Lektüre bieten kann.

Uwe Wirth:
Zwischen Zeichen und Hypothese:
für eine abduktive Wende in der Sprachphilosophie

Wirth unterscheidet zwischen einem top-down-Modell, also einem deduktiven "Kodemodell" der Interpretation (S. 135 f.), und einem bottom-up-Modell, einem "situativen Inferenzmodell der Interpretation" (S. 137). Als Beispiel für das erste wird Searles Modell dargestellt. Searle nimmt die ">wechselseitig gewusste[n]< Konventionen" (S. 135) als Voraussetzung für eine angemessene Verständigung. Dies ist durchaus eine wichtige Bedingung, ist sie aber hinreichend? Angenommen es regnet, Sie sagen "Schönes Wetter heute" und lächeln. Dieses "Lächeln" ist dann ein Akt, der mir zeigen soll, dass es sich um einen Witz handelt und mir so den Rahmen Ihrer Äußerung zugänglich macht. Das setzt voraus, dass dieses Lächeln für uns beide die gleiche Interpretation hat. Wir sind also weiterhin mit dem gleichen Problem konfrontiert, nur der Bezug hat sich verändert. Hinter dem Searleschen Erklärungsmodell lauert ein unendlicher Regress.

Wirth betont, dass man mit Grice, Davidson u.a. 6 von einem alternativen, intentionalen "Inferenzmodell" ausgehen müsse.

Es gibt keine starr präfigurierte, konventionale Typologie der kommunikativen Verwendungsweisen, sondern ein Interpret ist vielmehr auf die Deutung jener perlokutionären Effekte angewiesen, die die Äußerung in ihm auslöst. (S. 136)

Die Schwäche der Sprachphilosophie wird anhand der Schwierigkeit dargestellt, mit "Anspielung, Ironie, oder Metapher" (S. 136) fertig zu werden. Wirth spricht auch von einem "blinden Fleck" (S. 133; 139) der Sprachphilosophie. Dieser bestünde in der Unfähigkeit der herkömmlichen Sprachphilosophie, die "indexikalisch-tonalen Aspekte der Äußerung" (S. 155) zu thematisieren. Diese seien aber essentiell, um Übersetzungsprozesse wie die vorher erwähnten theoretisch fassen zu können. Peirces Semiotik liefere Mittel, um diesen blinden Fleck genau verorten und schließlich überwinden zu können. Wesentlich hierfür seien vor allem Peirces Ausführungen zur "Token-Tone"-Relation und zum Abduktionsbegriff.

Der Aufsatz bietet gut lesbare und aufschlussreiche Darstellung von Peirces Abduktionsbegriff und von Davidsons Kommunikationsauffassung die als Alternative zu Searles Position entwickelt worden sei. Nach Davidson gibt es strenggenommen keine Regeln, die ein sicheres Verständnis einer Kommunikation gewährleisten können. Das Ergebnis ist eine hypothetische Verständigung, die in der Abduktion als Wahrnehmungsurteil eine starke aber fallible Begründung hat. Somit erscheint die Unterscheidung zwischen einem Satz und den Bedingungen seiner Interpretation als eine relative. Wirth versucht Davidsons Modell durch Peirces Abduktionsbegriff zu untermauern und zu ergänzen. Wirths Aufsatz bietet nicht nur eine sorgfältige, gut lesbare Herausarbeitung des "blinden Flecks" der Sprachphilosophie, sondern auch die Entwicklung einer m.E. überzeugenden Lösung.

Dinda L. Gorlée:
Der abduktive Ansatz in Übersetzungspraxis und Übersetzungsforschung

Gorlée beginnt ihre Studie mit einer Kritik der von Chomsky geprägten Tendenz zur logischen Formalisierung der Übersetzungswissenschaft. 7 Diese verdankt ihre scheinbaren Erfolge nur der Tatsache, dass sie solche schwierigen Fragen wie die nach der Rolle der "Intuition", die sie nicht behandeln kann, einfach ausblendet. Ziel des Aufsatzes ist einen Weg aufzuzeigen, wie Peirces Semiotik (allen voran sein Abduktionsbegriff) als Alternative zu Chomskys "generativer Transformations-grammatik" für eine Theorie der Übersetzung fruchtbar gemacht werden kann. Diese Theorie wird "Semiotranslation" (S. 168) genannt und kurz umrissen. Der Aufsatz enthält klare Darstellungen von Peirces Begriffen der Abduktion, seiner Theorie der drei logischen Interpretanten und eine bemerkenswerte Diskussion zur Rolle des Subjekts (des Übersetzers) in Peirces Semiotik. Diese Instrumente werden zur Beleuchtung einiger gegenwärtiger theoretischer Ansätze der Literaturwissenschaft verwendet, allen voran denjenigen von Gideon Toury, Werner Koller und George Steiner.

Diese Autoren haben unterschiedliche Stufenmodelle der Übersetzungstätigkeit aufgestellt. Alle teilen Gorlées Interesse für das Problem der Genese einer Übersetzung, ohne jedoch auf Peirces Konzeption zurückzugreifen. Gorlée versucht zu zeigen, dass alle diese Modelle eine Stufe enthalten, die Peirces Abduktion entspricht. Darüber hinaus versucht sie, Peirces Unterscheidung zwischen einem ersten, zweiten und dritten logischen Interpretanten als Grundlage für ein besseres eigenes Stufenmodell für die Übersetzungstätigkeit zu benutzen. Die Abduktion spielt eine wesentliche Rolle während der ersten Stufe, bei der Entstehung der Rohübersetzung als erstem logischen Interpretanten, in einem Prozess der in Anlehnung an Peirce "intellektuelle Träumerei" (S. 173) genannt wird. Welche Rolle spielt die Abduktion während der nachfolgenden Stufen? Diese wichtige Frage wird nicht explizit gestellt. Gorlée interpretiert die Stufenmodelle von Toury, Koller und Steiner so, als würde die Abduktion nur in der jeweils ersten Stufe eine Rolle spielen. Das scheint auch für ihr eigenes Modell zu gelten. Eine solche Einschränkung ist aber nicht unproblematisch, denn sie setzt voraus, dass die Anwendung von expliziten kodifizierten theoretischen Elementen prinzipiell Abduktion ausschließt.

Jorgen Dines Johansen:
Hypothese, Rekonstruktion und existentielle Analogie.
Hermeneutik und semiotische Literaturinterpretation

Johansen verwendet Peirces Instrumentarium, um die Fragen der Literaturinterpretation zu beleuchten. Die Interpretierbarkeit eines Textes setze Identität und Differenz voraus. Ein literarischer Text erscheint also als in sich geschlossen und gleichzeitig als offen. Um die Dynamik des Interpretationsprozesses zu erläutern, wird ein eigenes Modell entwickelt. Als Eckpunkte dieses Modells werden der Text, der Leser, der Schriftsteller, die Sprachkodes und das Universum genommen. Dieses Modell sei aber noch nicht geeignet, die Dynamik der Interpretation darzustellen. Um das zu gewährleisten wird anschließend jeder der Eckpunkte wie folgt aufgespalten: der Leser: impliziter und aktueller Leser; der Autor: Autor und Erzähler; der Kode: unmittelbarer, dynamischer und finaler Interpretant; das Universum: unmittelbares Objekt und dynamisches Objekt. Hier wird also Peirces Begrifflichkeit in das ursprüngliche Modell eingebaut, um ihm eine gewisse Dynamik zu verleihen.

Der Interpretationsprozess wird dann als ein hermeneutischer Hypothesenbildungsprozess präsentiert, der vollzogen wird, indem er in einem virtuellen Dialog die fünf Eckpunkte verbindet. Dieser Prozess wird anschließend mit Hilfe von Gadamers und Habermas' Kommunikationstheorien ergänzt. In beiden Fällen sei es wichtig eine erfolgreiche Kommunikation nicht als eine Art "psychologische Einfühlung" (S. 190), sondern als eine Kette von hypothetischen Schlüssen zu sehen. Das sei Gadamer, Habermas und Peirce gemeinsam. Was ist aber die Grundlage für derartige Schlüsse? Welche Kriterien hat man, um eine Interpretation akzeptieren zu können?

Wichtig hierfür wäre, so Johansen, die passende Wahl eines einheitlichen Interpretationsrahmens, eines Kontextes. Habermas' Kriterium hierfür (die Auswahl eines Bedeutungsmaximierungskontextes) wird für die Problematik der Interpretation von fiktionalen literarischen Texten als unpassend erklärt. Literarische Texte seien offen und jede Interpretation bliebe hypothetisch. Jedoch seien Interpretationen nicht beliebig. Der fiktionale Text definiere implizit bestimmte Verhältnisse, so dass er zum Teil durch seine innere Struktur gewisse Zwänge ausübe; er verhalte sich zum Teil wie ein mathematisches Modell. Um ein solches Modell zu deuten und anzuwenden müsse man Analogien zwischen dem im Text verankerten Muster und der Deutungswelt finden. Johanson liefert eine detaillierte Diskussion der Begriffe Ähnlichkeit, Analogie, Metapher und Modell, die vor allem auf Aristoteles zurückgreift. Sein Fazit ist, dass "Analogien in Form von Vergleichen und Metaphern [...] ein Mittel sind, um das Gleiche im anderen zu entdecken oder zu erfinden" (S. 204).

Augusto Ponzio:
Semiotik zwischen Peirce und Bachtin

Die Semiotik Saussures mit ihrer starren Signifikat-Signifikant-Unterscheidung und mit ihren festen Übersetzungskodes steht in einem grundsätzlichen Gegensatz zu Peirce und Bachtin. Ponzio versteht es geschickt, diesen Gegensatz zu instrumentalisieren, um die Besonderheit der Positionen von Peirce und Bachtin hervorzuheben und zu vergleichen. Die unterschiedlichen Auffassungen werden vor allem anhand einer ausführlichen Diskussion der Problematik der Identität der Zeichen bei Saussure einerseits und bei Peirce und Bachtin anderseits erläutert. Zentral hierfür sei die Tatsache, dass für Peirce und Bachtin Identität und Differenz sich gegenseitig stützen: "Alterität [steht – M.R.] im Zentrum der Identität des Zeichens" (S. 213).

Grundlegend für den Peirce-Bachtin-Vergleich ist u.a. Ponzios Vergleich zwischen den Unterscheidungen unmittelbarer / dynamischer Interpretant (Peirce) und Bedeutung / Thema (Bachtin), die ausführlich dargestellt werden. Ponzio zieht Barthes' Unterscheidung zwischen drei Ebenen der Bedeutungsbildung: Kommunikation, Signifikation und Signifikanz (und die drei damit verbundenen Typen von Semiotik: Semiotik der Kommunikation, der Signifikation und der Signifikanz) heran, um die Gemeinsamkeit von Peirce und Bachtin theoretisch genauer zu fassen. Entscheidend sei die Semiotik der Signifikanz, welche sich "vom Mythos der Vorherrschaft des Kodes, des Subjekts, der Bedeutung emanzipiert hat" (S. 233). Bachtins "Semiotik des Textes" und Peirces "Semiotik der Interpretation" (S. 232) werden dann als Komponenten von Barthes Semiotik der Signifikanz dargestellt. Ponzios Vergleich lässt jedoch auch einen wichtigen Unterschied zwischen Bachtins und Peirces Semiotik zu: erstere sei "kognitiv" während letztere eine "sprachphilosophische" sei (Hervey bezeichnet Barthes' Position als "logozentrisch"; vgl. dazu Nöth 2000, 109). Dieser Unterschied wird leider nicht näher erläutert, so dass es nicht klar wird, welche Konsequenzen damit verbunden sind.

Massimo A. Bonfantini:
Die Abduktion in Geschichte und Gesellschaft

Was treibt die Entwicklung der Gesellschaftsformen voran? Gehorcht der Gesellschaftswandel bestimmten Gesetzen? Bonfantini schließt sich Lyotards Antwort auf diese Fragen an. Sie führe über eine radikale Kritik der "großen Erzählungen des Fortschritts, der Produktivität und des Historismus" (S. 244) zu einer eigenen großen "Erzählung über das Ende der Geschichte" (S. 245) und dann zu einem Übergang zu einer undefinierten "Wiederholung vieler kleiner Erzählungen" (S. 245). Bonfantini behauptet, dass es Lyotard jedoch nicht gelingt, sich vom Historismus – von der Idee, dass "der Sinn als vorherbestimmt und sozial vorgegeben" (S. 245) gilt – zu befreien. Diese Befreiung erfordere, dass die Geschichte begriffen werde als eine "offene und diskontinuierliche Folge von Lösungen von Problemen des Zusammenlebens und des Überlebens ..., die der Menschheit und den Gesellschaften von der natürlichen und sozialen Umwelt gestellt werden" (S. 245).

Der Aufsatz liefert leider weder eine detaillierte Auseinandersetzung mit Lyotard noch mit anderen Gesellschaftstheoretikern. Statt dessen werden die "Offenheit" und "Diskontinuität" der geschichtlichen Entwicklung der Gesellschaft postuliert und es wird nach Instrumenten gesucht, die es möglich machen sollen, Offenheit, Diskontinuität und Entwicklung zu verbinden. Die Frage, die dann in den Vordergrund gerückt wird, ist die nach der sozialen und geschichtlichen "Innovation" im kleinen.

Die zentralen Begriffe dieser Analyse sind Innovation, Handlung, Gewohnheit, Ereignis, Sinn, Interpretation. Der Autor plädiert für eine Typologie des als Abduktion verstandenen Prozesses der gesellschaftlichen Erneuerung und versucht einige Elemente einer solchen zu präsentieren. Peirces Abduktionsbegriff wird dabei mit der Sprechakttheorie verknüpft. Bonfantini versucht, die klassische Unterscheidung zwischen illokutionären und perlokutionären Sprechakten durch einen zwischen diesen beiden vermittelnden dialokutiven Sprechakt zu ergänzen. Die Wirkung eines dialokutiven Sprechaktes ist kontextgebunden. Der Abduktionsbegriff wird für die Beschreibung dieser neu eingeführten Kategorie verwendet. Der Aufsatz konzentriert sich auf dieses allgemeine Thema der Linguistik. Die Beispiele, die benutzt werden um die Position des Autors zu verdeutlichen, sind allerdings Sätze, die nichts mit Gesellschaftstheorie zu tun haben (z.B. "Die Suppe ist dumm" (S. 241)).

Jan C. A. van der Lubbe:
Semiotische Aspekte Künstlicher Intelligenz

Entscheidend für van der Lubbe sind Peirces Kategorienlehre, sein triadischer Zeichenbegriff und Peirces Darstellung der Abduktion, Deduktion und Induktion. Bezogen auf KI-Systeme wird die Deduktion der Kategorie der Zweitheit zugeordnet. "Intelligente" künstliche Systeme können demnach nicht einfach als deduktive Systeme begriffen werden. Entscheidend sei deren Fähigkeit nicht vorgegebene Hypothesen zu generieren, d.h. deren Fähigkeit Abduktionen zu vollziehen.

Van der Lubbe präzisiert Peirces Abduktionsbegriff, indem er ihn in drei Klassen unterteilt, die er "deduktive", "induktive" und "abduktive" Abduktion nennt. Er argumentiert für einen grundsätzlichen Unterschied, der die deduktive und die induktive Abduktion einerseits und die abduktive Abduktion anderseits trennt. Ein KI-System operiere mit Input-Daten, Wissensregeln (z.B. Fieber, Kopfschmerzen, Übelkeit, und Magenschmerzen deuten auf das Vorhandensein einer Grippe), und Output-Verhalten. Während induktive und deduktive Abduktionen immer auf ein Repertoire von gegebenen Wissensregeln zurückgreifen, seien abduktive Abduktionen auf die Generierung neuer Regeln, und somit auf die Entwicklung von nicht vorhergesehenen Verhaltensgewohnheiten angewiesen. Vorhandene künstliche Expertensysteme könnten nur mit deduktiven und induktiven Abduktionen fertig werden, jedoch nicht mit abduktiven Abduktionen. Konnektionistische Systeme seien zwar fähig eigene Verhaltensgewohnheiten zu generieren, jedoch sei diese Fähigkeit sehr eingeschränkt. Die Frage ist nun für van der Lubbe, ob sich diese Grenze durch künftige Verbesserung der Technik beseitigen lässt, oder ob es sich hier eher um eine absolute Grenze handelt, welche menschliche und künstliche Experten ein für allemal trennt?

Der Autor führt den Turing-Test und Searles "Chinesiches-Zimmer"-Argument an, um diese Frage zu beantworten. Dem liegt die These zu Grunde, dass die beiden Paradigmen der KI-Forschung (das "symbolische" und das "konnektionistische" Paradigma) durch ein drittes, beiden gemeinsames Paradigma beschrieben werden können, nämlich ein dyadisches Input-Output-Paradigma, das insbesondere der Turing-Test verkörpere. Van der Lubbe folgt nun Searle, der die Identifizierung von "Intelligentes Verhalten zeigen" und "intelligent sein" kritisiert, welche dieses dritte Paradigma kennzeichne (S. 268). Dieses Paradigma zeige, dass künstliche Expertensysteme, indem sie die "innere" Dimension des Denkens ausklammern, die (drittheitliche) Interpretantenkomponente des Zeichens nicht realisieren können.

Van der Lubbes Fazit lautet: "Aus semiotischer Perspektive und bezogen auf das semiotische Dreieck [Peirces – M.R.], sind die Systeme der künstlichen Intelligenz grundlegend dyadischer anstatt triadischer Natur. Der triadische Bestandteil existiert nur durch die Nutzer und nur in ihrem Geist" (S. 270). Dieses gelte sowohl für symbolische als auch für konnektionistiche Expertensysteme. Die grundsätzliche Unmöglichkeit der abduktiven Abduktion und das Fehlen der Interpretanten-Dimension würden somit eine Grenze für diese Systeme darstellen. Die Frage, die sich aber nach wie vor stellt, ist, warum es nicht trotzdem möglich sein könnte, Expertensysteme zu entwickeln, die genau diese Fähigkeiten haben. Bei van der Lubbe bleibt diese Frage unbeantwortet.

Peirces Semiotik wird benutzt um eine radikale Grenze zwischen der menschlichen und der Künstlichen Intelligenz aufzubauen. Es besteht aber prinzipiell die Möglichkeit Peirces Konzeption gerade dafür zu benutzen um das dualistische Paradigma des Turing-Tests zu überwinden (vgl. dazu z.B. James H. Fetzer, Mind and Machines – Behaviorism, Dualism, and Beyond, http://www.math.unl.edu/~tfischer/philosophy/fetzer.html.

Breno Serson:
Semiotik und Kognitionswissenschaft

Sersons Aufsatz untersucht dieselbe Thematik wie der vorangehende. Unter "Kognitionswissenschaft" wird also nicht die Erforschung der menschlichen Kognition, sondern eher die der technischen Simulation derselben verstanden. Der Autor unternimmt eine kritische Analyse der zwei dominierenden Paradigmen der KI-Forschung, des klassischen Kognitivismus und des Konnektionismus. Serson betont, dass es eine zu enge, an der formalen Logik orientierte Auffassung der Folgerungsprozesse der KI-Forschung unmöglich mache, die menschliche Kognition zu simulieren. Verallgemeinerung, Vagheit, Abduktionsschlüsse seien fundamentale Bestandteile des menschlichen Denkens, fänden aber keinen Platz in der von einer "deduktiven Index-Manipulation und einer >induktiven< Übereinstimmung von Ikons" (S. 287) dominierten KI-Forschung.

Peirces viel breitere Auffassung von Logik als Semiotik, d.h. als Logik der Forschung, und seine komplexe Klassifikation der Zeichen und Schlußformen insbesondere, ermöglichten eine genaue Kritik der gegenwärtigen Paradigmen der KI-Forschung und böten Instrumente für einen neuen Ansatz, wie Serson überzeugend zeigen kann. Inwiefern Peirces Ansatz wegweisend für die Entwicklung eines dritten Weges sein könnte, welcher "zwischen der klassischen symbolischen Auffassung und einer konnektionistischen Konzeption" (Engel-Tiercelin, S. 287) vermittelt und dabei die Schwachstellen der herkömmlichen "dyadischen deduktiven Kodierung von Zeichen" (S. 274) überwindet, bleibt allerdings eine offene Frage, die nicht näher erläutert wird.

Matthias Kettner:
Peirce, Grünbaum und Freud

Ziel des Aufsatzes ist zu zeigen, wie Peirces Abduktionsbegriff für eine Verteidigung der Freudschen Psychoanalyse gegen eine Kritik Grünbaums verwendet werden kann. Laut Kettner behauptet Grünbaum, dass Freuds Psychoanalyse auf einer Kategorienverwechslung zwischen "Bedeutungsnexus" und "Kausalnexus" beruhe (S. 309). Etwas vereinfacht dargestellt besteht der Fehlschluss in einer unzulässigen Umwandlung einer Ähnlichkeits- in eine Ursache-Wirkungs-Beziehung. Die Versuche der Psychoanalytiker, Grünbaums These zu entkräften, griffen in der Regel auf den Begriff der "Intuition" zurück. Freuds eigene Verteidigung beruhe auf seiner "Nachträglichkeitsthese", die er mit der Metapher der "Gedächtnisspur" ausdrücke. Kettner argumentiert nun, dass weder die "Intuition" noch Freuds These angemessene Grundlagen für eine Widerlegung Grünbaums bieten können. Er behauptet hingegen, dass Peirces Abduktionsbegriff eine bessere theoretische Grundlage hierfür liefere. Wichtig für Kettners Analyse dieser Problematik sind drei Unterscheidungen bezüglich der Abduktion:

  1. hermeneutische vs. nichthermeneutische Abduktion,

  2. hochstufige vs. niedrigstufige Abduktion und

  3. selektive vs. kreative Abduktion.

Entscheidend ist aber Kettners Versuch, die schwierige Frage der Rechtfertigung eines abduktiven Schlusses durch die Einführung einer eigenen Rechtfertigungsmethodologie zu klären. Kettner fasst seine Überlegungen unter dem Begriff einer "generalisierten Peirceschen Abduktion" (S. 294) zusammen. Zentral hierfür sei die Unterscheidung zwischen einem aufgrund von abstrakten Bedeutungs-Verwandtschaften hergestellten Kausalitätszusammenhang – der zu Recht von Grünbaums Kritik getroffen werde – und einer Kausalzuschreibung, die auf hermeneutischer Abduktion beruhe und die sich dieser Kritik entziehen könne. Die Studie liefert darüber hinaus eine äußerst klare Darstellung der Probleme der Abduktionstheorie und der semiotischen Grundfragen von Freuds Psychoanalyse. Kettners Rechtfertigungsmethodologie ist m.E. ein subtiler, ernstzunehmender Ansatz für die Lösung der Frage der (semiotischen) Absicherung der abduktiven Schlüsse.

Franz Wille:
Abduktive Erklärungsnetze.
Überlegungen zu einer Semiotik des Theaters

Der Aufsatz enthält eine ausführliche, an Eco orientierte Darstellung von Peirces Abduktionsbegriff. Ein wichtiger Bestandteil dieser Darstellung ist Bonfantinis und Pronis Unterteilung der Abduktion in eine "erste", "zweite" und "dritte" Abduktion 8 und deren Transformation bei Eco in "überkodierte", "unterkodierte", und "kreative" Abduktion. Entscheidend sind letztlich jedoch nicht diese Stufen, sondern Willes eigene Grundunterscheidung zwischen einer "niederen" und einer "hohen" kreativen Abduktion.

Wenn man nun den Deutungsprozess einer Theaterinszenierung untersuchen wolle, müsse man nicht auf den problematischen Begriff der "Intuition" zurückzugreifen. Man könne statt dessen den Abduktionsbegriff benutzen, der "logisch" besser gesichert sei. Wille zeigt sehr schön, wie fundamental Abduktionen für den Deutungsprozess einer Inszenierung sind. Der Zuschauer betrachte die Handlungen eines Akteurs und schreibe ihnen eine gewisse Intentionalität zu. Das sei in der Regel eine Grundvoraussetzung, durch die eine Reihe von Verhaltensmustern in einem "Figurencharakter" zusammengebracht werden könnten. Wille schließt sich Lenk und Luhmann an, die behaupten, dass die Bewegungen des Akteurs an sich keine echten Handlungen im Sinne dieser Charaktere sind.

Die Intentionalität sei einfach eine nützliche und sich aufdrängende Hypothese. Abduktionen begleiteten auf Schritt und Tritt den Deutungsprozess. Wille benutzt die Klassifikation der Abduktionen, um den Prozess der Interpretation einer dramaturgischen Inszenierung durch den Zuschauer zu erklären. Der Interpretationsprozess wird dabei als eine "Doppelbewegung" charakterisiert. Während dieser Doppelbewegung würden zunächst niedere Abduktionen vorgenommen. Das setze einen Prozess in Gang, welcher Schritt für Schritt zu höheren Abduktionen führe. Umgekehrt, sobald man über höhere Abduktionen verfüge, versuche man diese zu überprüfen, indem man sie mit den Ergebnissen der niederen Abduktionen vergleiche und möglicherweise die letzteren verändere. Das ergäbe dann einen dialektischen Prozess, welcher schließlich zu einer hypothetischen Gesamtinterpretation eines inszenierten Stückes führe. 9 Dieser Prozess beruhe nicht nur auf Abduktionen, sondern auch auf Deduktionen und Induktionen. Das Zusammenspiel dieser drei Elemente im Interpretationsprozess wird aber nur am Rande diskutiert.

Arjan van Baest:
Tonalität und Melodie: Semiotik und Musik

Der Aufsatz knüpft an die alte Auseinandersetzung der Musiktheorie zwischen der Neudeutschen Schule (z.B. List, Wagner) und dem Romantischen Klassizismus (z.B. Brahms) an. Die zentrale Frage der Debatte betrifft das Verhältnis Form-Inhalt in der Musiktheorie. Kennzeichnend für diese Debatte sind die gegensätzlichen Positionen der Anhänger der Autonomen einerseits und der Referentialisten andererseits. Erstere gehen von einer Autonomie der Form aus (z.B. Strawinsky). Letztere betonen hingegen den außermusikalischen Bezug der Musik (z.B. Deryk Cooke). Für van Baest ergibt sich aus dem Gegensatz dieser Positionen eine "Sackgasse", die nur durch einen Paradigmenwechsel überwunden werden könne. Die Grundlage dafür ist die These, dass Bedeutung als Prozess, und dieser Prozess wiederum als Semiose im Sinne von Peirce gefasst werden müsse. Peirces Semiotik soll also Mittel liefern um diese Kluft zu vermeiden.

Dies wird anhand einer musiktheoretischen Untersuchung der Form-Inhalt-Beziehung in der Deutung von Händels Zadok der Priester vorgeführt. Die Analyse konzentriert sich dabei auf den Auftritt des Chores im 23. Takt. Für den Zuhörer habe dieser Auftritt etwas Überwältigendes. Aus der Sicht des Musiktheoretikers sei diese Wirkung ein überraschendes Ereignis, dessen Erklärung die Bildung einer plausiblen Erklärungshypothese verlange. Peirces Abduktionsbegriff wird benutzt, um diesen musiktheoretischen Reflexionsprozess metatheoretisch zu fassen. Hier wird u.a. Greimas' Aktantenbegriff verwendet. Van Baest liefert eine überzeugende und originelle Diskussion, die viele Seiten der Peirceschen Semiotik umfasst (vor allem die Ikon-Index-Symbol-Unterscheidung und den Abduktionsbegriff).

Die Krönung seiner gelungenen Analyse befindet sich im letzten Abschnitt des Aufsatzes. Peirces Zeichen- und Abduktionsbegriff und Greimas' Aktantenbegriff werden benutzt, um aus einer metatheoretischen Perspektive zu zeigen, wie die Struktur der musikalischen Sätze und das Libretto eine bestimmte Form-Inhalt-Verschmelzung generieren.

Winfried Nöth & Lucia Santaella:
Bild, Malerei und Photographie
aus der Sicht der Peirceschen Semiotik

Die Autoren schildern die Suche nach einer eigenständigen, von dem Modell der Sprache befreiten "Semiotik des Bildes". Ihr Fazit ist, dass die bisherigen Versuche eine solche emanzipierte Semiotik des Bildes aufzustellen vom Strukturalismus dominiert seien. Paradigmatisch dafür seien eine Reihe einflussreicher Konzeptionen wie das "rhetorische Model der Gruppe m", das "linguosemiotische Modell der Greimas-Schule" oder F. Saint-Martins "Grammatik des Bildes" (S. 355 f.). Die strukturalistische Semiotik des Bildes beruhe auf "binären Oppositionen". "Das Zeichenhafte wird dem Nichtzeichenhaften gegenübergestellt, das Arbiträre dem Ikonischen, das Natürliche dem Konventionellen, das Figurative dem Abstrakten; tertium non datur" (S. 357).

Peirces Konzeption mache es möglich, solche scharfen Dualismen zu vermeiden. Gleichzeitig verlagere sie die semiotische Untersuchung der Bildersprache in den Kontext einer Phänomenologie, die die Sprache-Bildersprache-Unterscheidung transzendiere. Das Ziel des Aufsatzes ist es, diese Möglichkeit zu verdeutlichen. Von besonderer Bedeutung für Nöth und Santaella sind Peirces Kategorienlehre, sein Zeichenbegriff und seine Klassifikation der Zeichen.

Im Vordergrund steht die semiotische Untersuchung der "Objektrelation" eines Bildes. Peirces Ikon/Index/Symbol-Unterscheidung, die gerade den Objektbezug eines Zeichens thematisiert, bietet das fundamentale semiotische Werkzeug für diese Untersuchung. Der ikonische Aspekt werde nach den Autoren vor allem in den "ikonischen Bildern" der "nichtgegenständlichen Malerei" artikuliert (z.B. die "monochrome Malerei"), der indexikalische Aspekt in den Bildern der "realistischen Malerei" und in der Photographie (exemplarisch hierfür seien solche Bilder wie das Passfoto), der symbolische Aspekt sei in der kodifizierten Malerei anzutreffen (z.B. die Ikonographie des Mittelalters). Jeder dieser drei fundamentalen Bildtypen wird detailliert anhand von zahlreichen Beispielen und im Zusammenhang mit Peirces zehn Zeichenklassen untersucht.

Claudio Guerri:
Gebaute Zeichen – die Semiotik der Architektur

Guerri geht vom bekannten Dogma des "Modernismus" in der Architektur, "Form follows function", aus (S. 384). Dieses Dogma führe dazu, dass die Entwicklung eines Bauprojekts d.h. dessen Design, als durch die anvisierte "Funktion" allein bestimmt betrachtet werde. Das zerstöre das Gleichgewicht in der fundamentalen Triade Design Bau (der Bau als materieller Träger) – Wohnen (als die von dem Bau ermöglichte Funktion) zugunsten der Funktion. Das Ergebnis sei ein verzerrtes Bild der Planungsarbeit des Architekten. Eine Konsequenz dieser Auffassung sei die Aufspaltung des Planungsprozesses in zwei schwer aufeinander beziehbare Komponenten: Planung als "rationaler Prozeß", der somit auf die Korrelation Verstand-Funktion, und Planung als kreative Aktivität, die somit auf die Korrelation Kreativität-Form gegründet sei.

Um diese "falsche Dichotomisierung" zu beseitigen, wird ein origineller, komplexer, theoretischer Rahmen entwickelt, der anknüpft an Magarino und an Peirces Kategorienlehre, wie auch an dessen als "Logik der Abduktion" verstandenen Pragmatismus. Entscheidend hierfür ist die Korelierung der Triaden: Design-Bau-Wohnen; Erstheit-Zweitheit-Drittheit; Form-Existenz-Wert (bzw. Funktion). Dieser Rahmen wird dann eingesetzt, um eine Darstellung der Planungsarbeit des Architekten als einer auf Abduktion beruhenden offenen Semiose in seiner ganzen Komplexität in Erscheinung treten zu lassen. Die Abduktion verbindet die Aspekte der Form und der Funktion in einer kreativen Synthese, die weder aus den Bestimmungen der Form noch aus den Bestimmungen der Funktion eines künftigen Baus deduktiv abgeleitet werden könnten.

Lorenz Schulz:
Semiotik und Recht –
das Zeichen im Recht und das Recht des Zeichens

Die Studie ist ein kühner Versuch, Informationen aus unterschiedlichen, für die Rechtstheorie relevanten Bereichen in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit darzustellen. Man findet Überlegungen zur Kriminalliteratur, Elemente eines historischen Vergleichs zwischen dem englischen, dem amerikanischen und dem kontinentaleuropäischen Strafrecht, Überlegungen zur Rezeption der rechtlichen Problematik in der Philosophie bei Hume, Kant und vor allem bei Peirce, sowie zur Peirce-Rezeption (vor allem hinsichtlich des Abduktionsbegriffs) in der Rechtstheorie unter besonderer Berücksichtigung der Positionen von Habermas und Derrida. Der Artikel wird abgeschlossen durch eine Fallstudie – das sogenannte "Holzschutzmittel"-Verfahren (S. 400 f.).

Das Ergebnis ist ein komplexer Aufsatz, dessen Argumentation durch die Dichte der Informationen nicht leicht zu durchdringen ist. Dessen Kern ist die fundamentale Frage des modernen Strafrechts nach der Möglichkeit einer eindeutigen Subsumption eines "Falls" unter eine allgemeine "Regel", oder anders gesagt, nach der Möglichkeit einer eindeutigen Feststellung einer Handlung-Schaden-Kausalität. Zentral für Schultz' Ausführungen dazu ist die doppelte Bedeutung von wissenschaftlichen Gutachten und Theorien: als Grundlage für die Zuschreibung durch die erste Instanz einerseits und als Grundlage für die Behandlung der Beschlüsse der ersten Instanz durch die höheren Instanzen andererseits. Umstrittene Fälle wie das "Holzschutzmittel"-Verfahren zeigen, wie der Deutungsprozess von umstrittenen Sachverhalten im Zweifelsfall an eine breitere Öffentlichkeit zurückgegeben wird. Sowohl die strafrechtlichen Untersuchungen und Verfahren als auch die in Zweifelsfällen notwendigen, breiteren gesellschaftlichen Untersuchungen werden als abduktive Prozesse charakterisiert.

Eine besondere Leistung des Aufsatzes besteht in der Beschreibung der Entstehung einer Double-bind-Situation im Zusammenhang mit dem "Holzschutzmittel"-Verfahren. Es wäre hilfreich gewesen, die unterschiedlichen Rezeptionen von Peirce durch Derrida und Habermas genauer zu untersuchen.

Johannes Hoeltz:
Gottes evolutionäre Liebe.
Ansatzpunkte für eine Theologie in semiotischer Perspektive

Kein Begriff, kein Teil der Peirceschen Semiotik kann hinreichend verstanden werden, ohne den Bezug zu Darwins Evolutionstheorie. Ohne Rücksicht auf Peirces Evolutionsauffassung wären auch seine Überlegungen zu Gott nicht darstellbar. Die Beschreibung von Peirces Evolutionstheorie, genauer von seinem "Agapismus" oder von seiner "evolutionären Teleologie", nimmt daher zu Recht eine fundamentale Position in Hoeltz' Aufsatz ein. Dem Autor gelingt eine äußerst präzise, knappe und gleichzeitig vollständige Präsentation der Eckpunkte von Peirces Evolutionstheorie.

Im Vordergrund steht weniger eine theologische Problematik an sich, sondern eher Peirces Glaube, dass Natur- und Vernunftprozess "gleichartig" sind und dass die Abduktion als grundsätzliche instinktive Fähigkeit zwischen den Zeichenprozessen unseres Denkens und denen der Natur vermittelt. Peirces an den Naturwissenschaften orientierte Evolutionstheorie ist mit erstaunlich vielen theologischen Vokabeln versehen. Solche Begriffe wie "Gott" oder "Liebe" werden immer wieder benutzt. Peirces Semiotik ist aber keine Theologie und sie ist nicht von der christlichen oder von irgendeiner anderen religiösen Doktrin abhängig, es sei denn, man bezeichnet den Geist der Aufklärung als Theologie.

Anstatt von einer "Theologie in semiotischer Perspektive" könnte man sogar von einer "Semiotik als allgemeiner Theologie" sprechen. Hoeltz' Ausführungen zeigen, dass Ausdrücke wie "Gott ist die Liebe" (S. 426) oder "die Realität Gottes" (S. 429) für Peirce eher als metaphorische Elemente eingesetzt werden. Hoeltz selbst würde möglicherweise meine Interpretation als einseitig betrachten, denn an einer Stelle schreibt er, dass Peirces Konzeption "nicht nur der Evolution zuzuschreiben [ist – M.R.], sondern auch Gottes Sein" (S. 426). Doch dieses "Sein" hat nichts mit einem Beweis für die Existenz Gottes zu tun, sondern, wie Hoeltz selbst betont, Gottes "Sein" ist eher eine "ästhetische Qualität". Angesichts der Bedeutung des Agapismus für Peirces gesamte Konzeption und angesichts der Klarheit der hier gebotenen Darstellung ist Hoeltz' Aufsatz einer der wichtigsten des Bandes. Ein mit Peirces Werk weniger vertrauter Leser kann in diesem Aufsatz eine sehr gute Einführung in Peirces Denken finden.

Schlußbetrachtung:
Wichtiger Beitrag zur Peirce-Forschung

"Die Welt als Zeichen und Hypothese" versammelt wichtige Beiträge einer Reihe von international anerkannten Wissenschaftlern, in deren Arbeit Peirces Philosophie eine zentrale Position einnimmt. Die Studien behandeln eine Fülle von unterschiedlichen Themen: Allgemeine Fragen der Semiotik, der Kunsttheorie, der Literaturwissenschaft, der Kommunikationstheorie, KI-Forschung usw. Wenig vertreten hingegen sind die Wissenschaftstheorie und die Philosophie der Mathematik, die für Peirce eine besonders wichtige Rolle gespielt haben. Das Buch ermöglicht dennoch einen guten Einblick in vielen Bereichen der gegenwärtigen Peirce-Forschung. Abschließend muss die hervorragende Übersetzungsarbeit erwähnt werden, die geleistet wurde von Jeff Bernard, Susanne Hauser, Silvie Jurisevic, Bettina Gaedke-Burkhardt und Uwe Wirth, aber vor allem von Alexander Roesler, der acht Aufsätze ins Deutsche übersetzt hat.


Mircea Radu
IDM Universität Bielefeld
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Ins Netz gestellt am 31.07.2001
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Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten PD Dr. Ulrich Baltzer. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.


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Literatur

Winfried Nöth: Handbuch der Semiotik. 2. vollst. neu bearb. Aufl. Stuttgart: J. B. Metzler 2000. Vgl. die Rezension von Ulrich Baltzer: http://iasl.uni-muenchen.de/rezensio/liste/baltzer.htm

Charles Sanders Peirce, Collected Papers of Charles Sanders Peirce. Cambridge, Mass.: Harvard UP, Volumes I-VI, ed. by Charles Hartshorne and Paul Weiß, 1931-1935, Volumes VII-VIII, ed. by Arthur W. Burks, 1958.

Anmerkungen

1 Vgl. die Rezension von Ulrich Baltzer: http://iasl.uni-muenchen.de/rezensio/liste/baltzer.htm    zurück

2 Vgl. dazu Roman Jakobson: Language in Literature. Cambridge Mass.: Belknap 1987, S.413-427.    zurück

3 Vgl. dazu Sue Golding: The Politics of Foucaults Poetics, or, Better Yet: The Ethical Demand of Ecstatic Fetish. In: New Formations, No. 25, Summer, 1995, pp. 40-47.    zurück

4 Vgl. dazu z.B. CP 2. 305; 4. 544, 5. 611.   zurück

5 Wichtig für Sebeoks Darstellung ist Peirces Unterscheidung zwischen "Reagent" (etwa eine Tonscherbe) und "Designator" (etwa der "Honiganzeiger"). Der "Reagent" erfülle seine Indexfunktion, insofern er ein Bestandteil des Gegenstandes sei, auf den er verweise (er könne insofern starke ikonische Bezüge zum Gegenstand aufweisen). Der "Designator" brauche dies nicht zu sein. Designatoren oder degenerierte indexikalische Zeichen, wie Peirce sie manchmal nennt, seien wesentlich für die Mathematik.     zurück

6 Andere in diesem Aufsatz berücksichtigten Autoren sind Apel, Bachtin, Derrida, Eco, Freud, Habermas u.a.   zurück

7 Der Aufsatz verwendet auch Roman Jakobsons Einteilung der "Interpretation sprachlicher Zeichen", die er auch "Übersetzung" nennt, in drei Kategorien: "innersprachliche", "intersprachliche" und "intersemiotische" Übersetzungen. Gorlée konzentriert sich auf die intersprachliche Übersetzung, welche Jakobson "Übersetzung im eigentlichen Sinne" nennt. Jakobsons Überlegungen dazu spielen ansonsten keine wesentliche Rolle in dieser Untersuchung. An dieser Stelle muss ich jedoch auf einen gravierenden terminologischen Fehler hinweisen, der die Lesbarkeit des Aufsatzes an einigen Stellen vermindert (S.158; 168). Es ist nicht klar, ob der Fehler auf die Übersetzung des französischen Manuskriptes ins Deutsche oder auf die Originalfassung des Manuskriptes zurückzuführen ist. Auf Seite 158 finden sich in einem Zitat von Roman Jakobson die Ausdrücke: "1. Die innersprachliche Übersetzung oder Paraphrase" und "2. die innersprachliche Übersetzung oder Übersetzung im eigentlichem Sinne", was offensichtlich unsinnig ist. Im zweiten Ausdruck muss "zwischensprachliche" Übersetzung ("Interlingual" im englischen Original) stehen. Die Autorin behauptet nun, sie werde sich vor allem auf die Problematik "der innersprachlichen Übersetzung" konzentrieren, was sich jetzt nicht mehr eindeutig interpretieren lässt. Die Fußnote auf Seite 158 suggeriert, dass hier eigentlich "zwischensprachlich" gemeint ist. Auf Seite 168 ist man mit einer ähnlichen Schwierigkeit konfrontiert.   zurück

8 Die Literaturliste ist leider unvollständig. Z. B. werden die von Sebeok, Wille, u.a. zitierten Texte in der Literaturliste nicht aufgeführt.    zurück

9 Die "niedere" Abduktion stehe dem Wahrnehmungsurteil nahe; sie sei zwar hypothetisch, jedoch sei sie die sicherste mögliche Abduktion, die man antreffen könne. Die Sicherheit sei mit einer wesentlichen Einschränkung ihrer Allgemeinheit verbunden: Eine niedere Abduktion scheint eine Hypothese zu sein, die nur wenige Fakten oder Handlungen erklären kann, sie ist, so würde ich es sagen, "lokal". Die "höhere" Abduktion hingegen ist freier, kreativer, aber deshalb unsicherer. Diese mangelnde Sicherheit ist durch ihre grössere Allgemeinheit kompensiert: Eine höhere Abduktion bezieht sich auf eine breitere Menge von Fakten oder Handlungen und sie setzt in der Regel eine Reihe anderer, weniger allgemeine Abduktionen voraus. Peirces Semiotik, so Wille, zeige, dass Abduktionen "logisch korrekte Schlußfolgerungen mit hypothetischer Geltung auf der Grundlage von allgemeinen Annahmen" sind.   zurück