Rättig über Braungart u.a.: Georgeforschung im 21. Jahrhundert

IASLonline


Ralf Rättig

"Die Gewalt, die noch einmal
zum Wort zwingt..." 1
Georgeforschung im 21. Jahrhundert

  • Wolfgang Braungart / Ute Oelmann / Bernhard Böschenstein (Hg.): Stefan George: Werk und Wirkung seit dem »Siebenten Ring«. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 2001. XI + 456 S. Geb. EUR (D) 74,- .
    ISBN 3-484-10834-7.

Inhalt

1. Die Legitimation Georges als Aufgabe an die Wissenschaft ? |
2. Anmerkungen zum Stand der Georgeforschung | 3. Beiträge zu Stil, Typus und Ästhetik des Georgeschen Werkes nach 1900 | 4. Studien zur politischen Dichtung Georges / Studien zu Georges Verhältnis zur Antike | 5. Studien zur Wirkung im Kreis | 6. Studien zur weiteren Rezeption | 7. Komparatistische Studien | 8. Fazit - "Da brach die alte not - euch ward ein sinn.."



1. Die Legitimation Georges
als Aufgabe an die Wissenschaft ?

Zum 65. Todestag des Dichters veranstaltete die Stefan-George-Gesellschaft im Dezember 1998 in Bingen am Rhein eine Tagung unter dem Titel Stefan George: Werk und Wirkung seit dem Siebenten Ring. Der mittlerweile vorliegende Tagungsband gibt Anlass, über den Stand der George-Forschung zu berichten.

In der Tat bildet der Gedichtband Der Siebente Ring, 1907 erschienen, einen Einschnitt im Werk Georges. Bernhard Böschenstein stellte in seinem Eröffnungsvortrag, der auch die Publikation einleitet, Stefan Georges Spätwerk als Antwort auf eine untergehende Welt, einen Wandel im dichterischen Duktus fest:

Mit dem ersten Zyklus des Siebenten Rings, den Zeitgedichten, fängt in der Entwicklung des Dichters Stefan George etwas Neues, Anderes an, das in seiner Dichtung nie mehr zu wirken aufhören wird. (S. 1)

Eine "richtende, streng verurteilende Sprechweise" (S. 2) präge von nun an Georges Dichtung. Die endgültige Abkehr vom ästhetizistischen, zunächst unter starkem Einfluss der französischen Symbolisten stehenden Frühwerk geht – wie Böschenstein durch Parallelanalyse früherer und späterer Gedichte zu zeigen weiß – mit der Annahme eines prophetischen Gestus einher. Dieser – zunehmend autoritäre – Gestus speist sich dabei mehr und mehr aus dem Widerspruch zu der Wahrnehmung eines grundsätzlich zerstörten Weltzustands – George könne folglich "fortan dann am besten loben, wenn er zugleich vehement niederreißt".
(S. 2)

Wandel in Leben und Werk

Das allmählich rigorosere Vertreten eines >Heilsplans< ist dabei – sowohl von der Forschung als auch von George selbst – auf das Engste mit der Maximin-Episode verknüpft worden. Georges Bekanntschaft mit Maximilian Kronberger und die Trauer nach dessen plötzlichem Tod ist als biographisches Momentum schlechthin der Kristallisationspunkt für einen grundlegenden Wandel in Leben und Werk Georges.

In den in strikter Regelmäßigkeit zusammengefügten sieben Gedichtszyklen des Siebenten Rings nimmt der Maximinzyklus die Zentralstellung ein. Hier ist – so Böschenstein weiter – "die persönlichste Form der Liebe mit der allgemeinsten Form einer die eigene Zeit und das eigene Land bestimmenden religiösen Sinnstiftung zusammengekommen" (S. 5). Die für das symbolistische Gedicht als definitorischer Terminus angewandte >evocation d`une etat d´âme<, der rigide ästhetizistische Subjektivismus, wird hier umgewandelt in ein objektiviertes Weltbild, das auf der Wechselbeziehung zwischen Gott (= Maximin), Meister (= Dichter) und Jüngern beruht. Die Konsequenzen stellt Mitherausgeber Wolfgang Braungart in seinem Beitrag Schluß-Lied. Georges Ballade >Das Lied< dar:

Die ästhetischen Herausforderungen, die vom späteren Werk Georges ausgehen, liegen also [...] nicht nur darin, daß sich in diesem Werk eine rabiate Zeit- und Kulturkritik, eine oft gewalthaft aufgefaßte Sexualität, Religion und ständige Reflexion von Status und Aufgabe der Poesie auf eine bis dahin noch nicht gehörte Weise zu einem thematischen Gesamtkomplex verbinden, sondern im poetischen Anspruch dieser Texte, wirklich etwas zu sagen zu haben, zu verkündigen, zu belehren, zu deuten ohne jedes Zugeständnis an Innigkeit, Gefühlshaftigkeit, Erlebnishaftigkeit. Der poetische Gestus dieser Gedichte ist in dieser Hinsicht rhetorisch, nicht subjektiv-innig, radikal alyrisch, wenn man Subjektivität zum zentralen Merkmal von Lyrik macht. (S. 95)

George als >berufener Dichter<?

Die >Heilsgemeinschaft< der Jünger, an die sich die Rhetorik zuallererst richtet, zeichnet sich durch den Glauben an ein >Geheimes Deutschland< aus, als Gemeinschaft des Geistes in Gestalt großer Persönlichkeiten, halb der Öffentlichkeit entzogen, halb in ihr wirkend – die Gemeinschaft der Jünger ist ab den 1910er Jahren vornehmlich in der Wissenschaft tätig und zunehmend in streng hierarchischer Struktur gefasst. 2 Georges Positionierung, Georges "Selbsteinsetzung" (S. 7) als berufener Dichter, als Auserwählter in der Nachfolge Pindars, Dantes, Hölderlins legitimiert sich dabei durch einige wenige ihm folgende Jünger – eine Legitimation, so Böschenstein, "die in der Folgezeit nicht, nicht mehr, vielleicht noch nicht bestätigt wurde." (S. 8)

Böschensteins Beitrag, der – strikt hermeneutisch und werkimmanent – von einer kontrastiven Analyse von Gedichten ausgeht, gelangt mit dieser Feststellung zum zentralen Punkt seiner >keynote lecture<: Die Überprüfung der prophetischen Legitimation, der autokratischen Selbstüberhöhung Georges wird zum Anlass und zum eigentlichen Movens einer Tagung, die Georges Anspruch als Problem, als bloßes Phänomen oder als Aufgabe bis in unsere Zeit sich fortschreiben sieht – "Sonst wären wir heute nicht hier in fragender und prüfender Haltung versammelt." (S. 8)

2. Anmerkungen
zum Stand der Georgeforschung

Mit dieser Bestimmung setzt Böschenstein den Rahmen der Tagung und trifft ein grundlegendes Problem der Georgeforschung: Nicht die Dichtung selbst ist der zentrale Gegenstand, sondern Dichtung als Ausdruck des legitimatorischen Anspruchs eines Dichters, der als Künder einer religiös strukturierten Gegenwelt – eines >Geheimen Deutschland< – einen Heilsplan für eine neue Welteinheit in einem zerrütteten Weltzustand zu schaffen bereit ist.

Dichtung und Biographie werden schon früh in die entstehende >Person< Georges integriert, der frühen kritischen Betrachtung Georges durch Weber, Simmel und Borchardt stellen die Jünger die Innenansicht des Kreises, des >Staates< entgegen. Ein >Bild< Stefan Georges entsteht innerhalb des Kreises, das tatsächlich Produkt unzähliger divergierender Bilder 3 ist. Die Selbst- und Fremdinszeniertheit des Bildes wird – das ist das Besondere – dabei reflektiert und affirmativ aufgegriffen.

Die Deutung und Biographik des Kreises prägt auf lange Zeit die wissenschaftliche George-Rezeption, der vertretene Heils-Anspruch ruft jedoch zu jeder Zeit vehemente Kritik auf den Plan. Ein herausragendes Beispiel hierfür ist Gert Mattenklotts Buch Bilderdienst. 4 In scharfer, wenn auch von Polemik getragener Analyse legt Mattenklott für Georges Kreispolitik marketingstrategische Strukturen zugrunde. In einem Frontalangriff auf Boehringers Erinnerungsbuch Mein Bild von Stefan George 5 wird das Bild – konkreter: das Foto – Georges zu einem Reklameinstrument innerhalb einer diktatorischen Hierarchie umgewertet.

Neubestimmung
Mitte der 90er Jahre

Seit Mitte der 90er Jahre wurde die Methodik des wissenschaftlichen Umgangs mit dem >Problem< George-Kreis nochmals neu bestimmt: Mit der markanten Formulierung des Ästhetischen Fundamentalismus 6 untersuchte Stefan Breuer sowohl eine künstlerische Strömung als auch den George-Kreis aus soziologischer Sicht mit psychologischen Hilfsmitteln. Der Tatsache, dass seine Analyse der Vielschichtigkeit des Forschungsfelds durch den demonstrativen Verzicht auf die Einbeziehung der Dichtung nur begrenzt gerecht werden konnte, wurde durch eine Vielzahl anderer zeitgleich oder in der Folge entstehender Forschungen Rechnung getragen:

Ebenfalls aus soziologischer Sicht analysierten unter anderem Carola Groppe (Die Macht der Bildung) 7 und Rainer Kolk (Literarische Gruppenbildung) 8 das >Phänomen<.

Als Antwort auf Breuers Ästhetischen Fundamentalismus kann Braungarts Ästhetischer Katholizismus 9 gelesen werden. Der als zweiter Teil von Braungarts Habilitationsschrift Ritual und Literatur 10 erschienene Band verdient besondere Aufmerksamkeit, weil er in die von Breuer psychologisch ausgedeutete Leerstelle des Funktionszusammenhangs des Kreises die Dichtung einsetzt. Die Dichtung Georges überschreitet in ihrem Gestus eine individuelle Position und wird so als Teil des hermeneutischen Zirkels zum konstituierenden Element eines Kreises, in dem performative Elemente – d.i. insbesondere die stark ritualisierte Rezitationsweise des George-Kreises – höchste Bedeutung erlangen. >Lyrik< meint damit nicht das einzelne Gedicht, sondern den mehr oder weniger ritualisierten Prozess, der die Rezeption umfasst.

Zwischen Breuers biographisch-soziologischer Analyse und Braungarts hermeneutischer Untersuchung einer ritualisierten Dichtung entsteht ein gewaltiges, nicht nur thematisches sondern vor allem methodisches Spannungsfeld, in dem sich die 27 im hier besprochenen Band abgedruckten Beiträge auf höchst unterschiedliche Weise positionieren. Die Herausgeber des Bandes, zu denen neben den bereits angesprochenen Bernhard Böschenstein und Wolfgang Braungart auch Ute Oelmann, die Leiterin des Stuttgarter George-Archivs, gehört, haben die Beiträge nach folgenden Gesichtspunkten geordnet:

  • Beiträge zu Stil, Typus und Ästhetik des Georgeschen Werkes nach 1900 (siehe 3.)
  • Studien zur politischen Dichtung Georges (siehe 4.)
  • Studien zu Georges Verhältnis zur Antike (siehe 4.)
  • Studien zur Wirkung im Kreis (siehe 5.)
  • Studien zur weiteren Rezeption (siehe 6.)
  • Komparatistische Studien (siehe 7.)

3. Beiträge zu Stil, Typus und Ästhetik
des Georgeschen Werkes nach 1900

Zur Deutung innerhalb des Kreises

Bezieht Böschensteins Beitrag, Stefan Georges Spätwerk als Antwort auf eine untergehende Welt, der den Band eröffnet, sein bereits skizziertes argumentatives Potential aus der hermeneutischen Analyse einzelner Gedichte und stellt dem Leser George als "verzichtende Stimme" in der Spannung zwischen Weltabkehr und der Umsetzung der prophezeiten Zukunft vor, so nimmt der darauffolgende Beitrag von Cornelia Blasberg, »Auslegung muß sein«. Zeichen-Vollzug und Zeichen-Deutung in Stefan Georges Spätwerken, eine andere Perspektive ein, indem er sich auf die Deutung innerhalb des Kreises konzentriert.

Schon vor 1933 muß es meiner Ansicht nach schwierig gewesen sein, die Illusion aufrechtzuerhalten, es gebe jenseits der emsig betriebenen George-Deutung und von ihr unberührt eine reine Sphäre biographischer und poetischer >Faktizität< – zu offenkundig war >George< ein lebendiges Produkt vielfältiger, rivalisierender und sich gegenseitig verstärkender Interpretationen. (S. 20)

"Der Kommentar bannt den Zufall des Diskurses" 11 – so Foucault; im Georgekreis dient er, Blasberg zufolge, auch der Überbrückung der Kluft "zwischen heiliger und profaner Sphäre" (S. 18). Die Folgen der durchgehenden Kommentierung der George-Dichtung durch Ernst Morwitz, der das Augenmerk Cornelia Blasbergs gilt, sind unübersehbar und keineswegs unbedenklich: Aus den divergenten und in großen Zeitabständen erschienenen Gedichtbänden wird durch Morwitz eine Einheit in linearer Abfolge und Entwicklung.

Die betont untergeordnete Selbstpositionierung des Kommentators bei zugleich bestehendem "originären Zusammenhang von Dichtung und Hermeneutik im George-Kreis" (S. 19) führt zu gesteigerter Wirkung: Claude Davids Monographie Stefan George. Sein dichterisches Werk bezieht sich auf Ernst Morwitz in der Annahme, dass dieser die "kollektiven Mythen" des Kreises offenbare. 12 Der heutige Leser werde damit – so Blasberg weiter – in jenen als authentisch angesehenen, originären, "als hermeneutisch vorausgesetzten Zirkel von Autor, Werk und Rezipienten" (S. 18) hineingeführt.

Die Tatsache, daß wir George heute >mit< Gundolf, Boehringer, Salin, Hildebrandt und natürlich >mit< Morwitz lesen, ist in der Sache begründet. Deshalb – also nicht nur wegen ihrer ideologischen Interessen – taugt keine dieser Erinnerungsschriften als explanans, sondern hat ihren historischen Wert als notwendiges explanandum heutiger Lektüren und Analysen. (S. 33)

Gerade die Modernität der späten Gedichtbände – so Blasbergs Fazit – "liegt darin, daß Interpretation nur eine weitere Figur aus dem Repertoire des Texte selbst ist" (S. 33)

Isotopien des >Anderen<?

Eine Ausnahme von der vorherrschenden hermeneutischen Methode der Gedichtanalyse bildet Ralf Simons Aufsatz Das Wasser, das Wort. Lyrische Rede und deklamatorischer Anspruch beim späten Stefan George. Seine strukturalistische Analyse der Isotopie >Wasser< – genauer: >grundloses Wasser< – untersucht die Frage des >Anderen< in Georges Spätwerk. Simon weist nach, dass die Isotopien des >Anderen< stets doch wieder als Bezug auf das eigene, dichtende Selbst entstehen – stets ist eine Enttautologisierung angestrebt, bleibt jedoch unerfüllt. Georges Gott, der legitimierende Funktion für sein prophetisches Werk hat, erweist sich in jedem einzelnen Fall als (bloß) eigen-inszenierter Gott:

Der Versuch, enttautologisierend Fremdreferenz in die Hermeneutik der Sakralsphäre einwandern zu lassen, endet einmal wieder bei einer Zeugung aus dem Selbstbezug heraus. (S. 66)

Der Beitrag von Ernst Osterkamp Die Küsse des Dichters. Versuch über ein Motiv im >Siebenten Ring< beruht auf der Feststellung: "Es wird viel geküsst im Siebenten Ring" (S. 69). Mit Osterkamps Betrachtung dieses Motivs sind Überlegungen zum >Anderen< aus einer völlig anderen Perspektive verknüpft: Der Kuss erscheint als äußerste körperliche Annäherung, die die Grenzen des Selbst noch wahrt. Osterkamp stellt das Kussmotiv im Siebenten Ring in den Kontext der christlichen Kussallegorik, welche den Kuss als "Höhepunkt der Liebesbeziehung zwischen Gott und Gläubigem bezeichnet" (S. 86). Das "Zentralsymbol des Siebenten Ringes" wird so als "Heils- und Heiligungsgeste" (S. 86) zum äußersten Gegenpol einer als unheilvoll erfassten Zeit.

Beiträge zu stilistischen Fragen

Mit stilistischen Fragen befassen sich drei weitere Beiträge dieser Abteilung: Neben Kai Kauffmanns Aufsatz zur Transformation des Hymnischen in Stefan Georges Œuvre befasst sich Wolfgang Braungart anhand des Gedichts Das Lied mit dem Liedhaften bei Stefan George. Mit dem – anonymen – Abdruck dieses Textes in der 9. Folge der Blätter für die Kunst erfolgt eine Hinwendung Georges zum >Volkston<, die grundsätzliche poetologische Fragen aufwirft: Wenn George für seine Lyrik Liedhaftigkeit beansprucht, seine Lieder jedoch keineswegs immer die formalen Elemente und die zum Ausdruck gebrachte Authentizität vermitteln, wird sein Bezug auf das Lied, Braungart zufolge, zu einer progressiven Aussage. Diese ist eng verknüpft mit Georges Verwendung des "performativen Gestus, die Ansprache und Hinsprache auf den anderen, dem das Gedicht etwas zu sagen haben soll. Das Gedicht wird so zur symbolischen Handlung" (S. 92 f.)

Gerade dieser performative Gestus, der in Das Lied seinen Ausdruck findet, ist konstitutiv für die Kreisbildung. Das Lied besteht als

metapoetisches Gedicht, das seinen entscheidenden poetischen Impuls daraus bezieht, daß es das lyrische Gedicht ebenso hinter sich läßt wie die Verkündigungspoesie. Es erzählt von der Entstehung eines Liedes, das den Sänger selbst überdauert, wenn dieser längst vergessen ist, das also zu einer archaischen Form von Poesie zurückkehrt, in der der Autor selbst hinter dem Werk verschwindet. Auch dies ist also verstehbar als ein schon früh formulierter, unerhört moderner Selbstkommentar Georges zu seinem eigenen Werk.
(S. 101)

Dass Gespräche für das Leben des Kreises konstitutiv waren, geht allein schon aus der Vielzahl der veröffentlichten Gesprächsbücher der Kreismitglieder hervor; dass das Gespräch – und insbesondere der Übergang zum Spruchhaften – für Georges Dichtung ein bedeutendes Stilmittel waren, zeigt Paul Gerhard Klussmann anhand szenischer Dichtungen im Spätwerk Georges. Nina Gutschinskajas Betrachtung wendet sich unter anderem der Divergenz der Figurationen zu, die die Gedichte des Neuen Reichs kennzeichnet.

Wolfgang Osthoff kehrt mit seinem Beitrag innerhalb des Bandes Das neue Reich wiederum zur Analyse des Gesprächs zurück – das Gedicht Das Gespräch des Herrn mit dem römischen Hauptmann betrachtet er ausgehend von einer Sentenz in der 8. Folge der Blätter für die Kunst, die besagt, dass eine Erneuerung des Dramas nur aus dem Rhythmus kommen könne. Die metrische Form des Gedichts, welches wie die großen Tragödien nur aus jambischen Trimetern besteht, beruht im Gegensatz zum formalen Bezug nicht auf einem antiken Konzept von Schuld. Die Tragik "ist neuzeitlich, d.h. sie folgt aus dem individuellen So-und-nicht-anders-Sein des Hauptmanns" (S. 128). Diese Tragik besteht – so Osthoff – als Tragik der Zeit seit 1914 auch für George als Maß des Sich-Bescheidens.

4. Studien zur politischen Dichtung Georges /
Studien zu Georges Verhältnis zur Antike

Gänzlich fern von solchen poetologischen Erörterungen zeigt sich ein weiterer Beitrag, der einen neuen Abschnitt des Bandes einleitet: Marita Keilsson-Lauritz befasst sich mit der Codierung männermännlicher Intimität im Spätwerk Stefan Georges und legt mit diesem Untertitel sehr markant die Leitlinien Ihres Textes fest: Wenn Stefan Georges Texte im Sinne einer Kodierung erfasst werden, so muss man das Anliegen der Autorin folglich als Bemühen um Entkodierung, um das Aufschlüsseln, Herausheben, Bergen von etwas Verborgenen begreifen. Hinter dieses Dekodieren tritt das Spätwerk zurück: Der Text als Schlüssel zur Biographie, die sich so leicht jedoch scheinbar nicht entschlüsseln lässt:

Der Streit um die Frage, ob und wie homosexuell der Dichter Stefan George unter Umständen gewesen sei [...], kann leicht dahingehend entschieden werden, daß er sich selbst so nicht definierte. (S. 142)

Dies ist der Autorin kein Hindernis, sondern Anreiz zu einer Investigation von Werk und Dichter, denn andererseits "muß man schon mit Blindheit geschlagen sein, um nicht wahrzunehmen, daß die mannmännliche Erotik Georges Werk über weite Teile bestimmt" (S. 142).

Keilsson-Lauritz' Einordnung des Werks Stefan Georges in den historischen Kontext der >Schwulenbewegung< nach Oscar Wilde eröffnet interessante Perspektiven: Die Überführung der Lyrik Georges in die Terminologie der Homoerotik oder des Sadomasochismus bereichert die George-Forschung, auch wenn sie sich im steten Grenzgang einer allzu einfachen Interpretation >ad hominem< befindet.

Weimarer Republik

Max Kommerells Buch Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik aus dem Jahr 1928 ist Klaus Schuhmacher Anlass, über Positionen des Intellektuellen unter der Ägide von Webers Begriff des >charismatischen Führertums< nachzudenken. Das Weimar Goethes und Schillers begegnet hier der Weimarer Republik in den Endzwanzigern:

Weimar gegen Weimar, einmal unentdeckte Klassik gegen unzulängliche Moderne, dann aber auch geheimer Staat gegen ungeliebte Republik. (S. 157)

Der "Gegenkönig" 13 Rudolf Borchardt mit seinem steten Bemühen, die Öffentlichkeit zu gewinnen, verkörpert den Gegenpol zu Georges Kreispolitik: "George war in einer literarischen Öffentlichkeit nach dem ersten Weltkrieg vor allem als Geheimnis anwesend..." (S. 171). Beiden gemeinsam war jedoch die Sehnsucht nach Überwindung des als katastrophal empfundenen Geschichtszusammenhangs; die Aufhebung der Zeit des Niedergangs in einem kommenden Reich – dies mit durchaus religiösem Charakter:

Borchardts Führertum begründete sich im Bedürfnis nach existentiell-transzendentaler Legitimation, dasjenige Georges im Tabu, das umkreisend zu besprechen ist. Chiffrenhaft verkürzt kann man von einer Konfrontation katholischer und protestantischer Inszenierung sprechen. (S. 171)

Bismarck / 1. Weltkrieg

Eine andere zeitliche Einordnung Georges versucht Achim Aurnhammer, indem er das unveröffentlichte Gedichtfragment Der Preusse, welches den Zeitgedichten des Siebenten Ringes zuzuordnen ist, der grassierenden >Bismarcklyrik< seiner Zeit gegenüberstellt. Hier nimmt Georges Gedicht – so Aurnhammer – eine Sonderstellung ein:

Auf dem Höhepunkt des Bismarck-Kultus um 1900, der vor allem vom Bürgertum getragen wurde, wird Bismarck, mehr noch die Bismarck-Verehrung, von George demontiert. (S. 193)

Mit Georges noch vor Beginn des ersten Weltkriegs verfassten prophetischen Zeilen – "Zehntausend muss der heilige wahnsinn schlagen / / Zehntausend muss die heilige seuche raffen / / Zehntausende der heilige krieg" 14 – beginnt Jürgen Egyptien seine Betrachtung über Die Haltung Georges und des George-Kreises zum 1. Weltkrieg.

Die Kriegsbegeisterung findet zu Beginn des Krieges in weiten Teilen des George-Kreises Zuspruch: Der Krieg wird als Kulturwandel, als Erfüllung einer deutschen Mission – so Egyptien – auch hier zum quasi metaphysischen Ereignis. George selbst begrüßt wohl den Untergang des maroden wilhelminischen Deutschlands, beklagt nach anfänglichem Schweigen jedoch bald den Verlust an deutscher Jugend für ein den eigenen Zielen nicht konformes, unnutzes Unterfangen:

Weder hat er sich von dem Fanatismus der Auguststimmung anstecken lassen, noch hat er sich dem pathetischen Pazifismus der jüngeren expressionistischen Schriftstellergeneration angeschlossen. (S. 205)

Die abschließende Analyse des Gedichtes Krieg, mit dem George 1917 versuchte, eine große Öffentlichkeit zu erreichen, stellt die utopischen Aspekte den über die Funktion des gegenwärtigen Krieges desillusionierenden Teilen gegenüber und ermöglicht dabei interessante Einblicke in Georges Geschichtsbild:

Geschichte erscheint [als] Folge von Emanationen aus einer Zeitkugel, in der der Unterscheid zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufgehoben ist. (S. 212)

Landschaftsdarstellung
als Zeitkritik

Auch Friedmar Apel spannt in seinem Beitrag den Bogen zu Rudolf Borchardt, zieht jedoch Hofmannsthal und Josef Nadlers Deutsche Literaturgeschichte (1941 / 1961) hinzu, um so ein Fundament für die Betrachtung der Landschaftsdarstellung als Zeitkritik im Spätwerk Georges zu schaffen. Dabei geht er von einem Ausspruch Georges – zitiert bei Vallentin – aus:

>Jetzt, wo man noch auf Jahre darauf rechnen müsse, vom Ausland abgesperrt zu sein, sei es umso nötiger, dass man sich auf die deutsche Landschaft konzentriere und deren Gehalt und Kräfte hebe und sammle.< 15

Und führt aus:

In der Folgezeit werden in der Darstellung der Landschaft die Zeichen des Gemachten, der freien Schöpfung durch den souveränen Dichter, die die frühen Landschaftsdarstellungen in Algabal und im Jahr der Seele kennzeichneten, zurücktreten zugunsten einer antiidealistischen Anschauung, die Landschaft als Raum des Handelns denkt. (S. 214)

Die Darstellung der Landschaft wird so zum Spiegel der Bemühungen des Dichters, zum Reflexionspunkt der gegenwärtigen Verfassung und des utopischen Potentials des >Geheimen Deutschland<. In Das neue Reich kehrt George bezeichnenderweise zu einer Sprache der Entsagung zurück, die einen Gegenwartsverlust der Texte zur Folge hat. Am Ende seines künstlerischen Schaffens nimmt George – so Apel – sein "Programm einer auf tatsächliche Anschauung des Landes und der Landschaft gegründeten kündenden Deutung wieder zurück" (S. 223).

Religiöse und antike
Elemente bei Stefan George

Stefan Breuer beschäftigt sich in seinem Beitrag in Erweiterung seiner allgemein gehaltenen Überlegungen zum religiösen Gehalt des Ästhetischen Fundamentalismus mit der Religion Stefan Georges: Seine Analyse fungiert als mehr oder weniger deutlich formulierte Abgrenzung zu Wolfgang Braungarts Habilitationsschrift, die die Rituale des George-Kreises unter der Ägide des Ästhetischen Katholizismus untersucht.

Breuer weist hingegen nach, dass Elemente der Gnosis im George-Kreis ebenso deutlich vertreten waren wie die des Christentums. Dies führt aufgrund der starken Differenzen bezüglich des "Weltbildes", der "Erlösungskonzeption" und des "Verständnisses von Inkarnation" keineswegs zu einer gegenseitigen Verstärkung: Der George-Kreis führt "nicht Gnosis und Christentum zusammen, sondern betreibt ihre wechselseitige Aufhebung" (S. 239).

Der letzte Aufsatz dieser Gruppe beschäftigt sich mit Georges >Griechenbild<. Von Interesse ist hier unter anderem Jürgen Paul Schwindts Gegenüberstellung des Plato-Bildes Ulrich von Wilamowitz-Moellendorffs und des George-Kreises: Gelten Plato und seine Schüler diesem als charismatisch strukturiert, "als Verbund des überlegenen Lehrers und der lernenden Jünger [...], als Urbild des Georgekreises" (S. 259), so sind sie jenem "Archetyp [] der preußischen wie der >international< gedachten Akademie, eines Verbandes freiheitlich forschender Männer und Frauen" (S. 260).

5. Studien zur Wirkung im Kreis

Friedrich Wolters / Friedrich Gundolf

Mit dem Aufsatz von Carola Groppe kehrt der Band wiederum zu zwei zentralen Figuren des George-Kreises zurück: Die Autorin widerlegt in ihrer Darstellung der Weltanschauungsmodelle von Friedrich Wolters und Friedrich Gundolf die Sicht auf den George-Kreis als "weitgehend ideologisch geschlossene Formation"
(S. 265).

Anhand von Gundolfs Auffassung von Gefolgschaft und Jüngertum (1908) und Wolters Befassung mit Herrschaft und Dienst (1909) stellt die Autorin grundlegende Unterschiede im Anspruch an die Bildung fest: Für Gundolf nennt sie als zentrale Position die "Formierung einer neuen Bildungselite" als "Refugium gegenüber den zersetzenden Tendenzen der Gesellschaft" mit Freiraum für den Einzelnen. Groppe bewertet dies insgesamt als eine "ästhetische Auslegung, da sie weitgehend auf politische und soziale Dimensionen verzichtet" (S. 273). Auch Wolters gehe zunächst von einem rein geistigen Reich aus, beziehe die Erkenntnisse dann jedoch zunehmend auf die politischen Gegebenheiten:

Diese Ästhetisierung des politischen Feldes wurde von Wolters in Reden und Vorträgen sukzessive zu einer politischen Ästhetik [...] ausgebaut, deren grundsätzliche Problematik in der Beanspruchung weltanschaulich-ästhetischer Prinzipien zur Reform der Gesamtgesellschaft und im Fehlen ethischer Kategorien bestand.
(S. 276)

Beiden gemeinsam war die große Wirkung, die Groppe nicht zuletzt der Aura Georges zuschreibt, welche in einer orientierungslosen Zeit in Zirkeln um beide Universitätsprofessoren weiterwirkte.

Den Wandel des >Jüngers< Friedrich Wolters zeichnet Michael Philipp, Herausgeber des George / Wolters-Briefwechsels, in seinem Beitrag über den Paulus des George-Kreises genauer nach. Die Publikationen Wolters – Herrschaft und Dienst (1909), Wandel und Glaube (1911), schließlich die Blättergeschichte Stefan George und die Blätter für die Kunst (1929) – haben die innere Struktur und die äußere Wahrnehmung des George-Kreises stark geprägt. Wolters' nach seinem quasireligiösen Initiationserlebnis – ohne besondere Nähe zum Dichter – "betriebene heilsgeschichtliche Interpretation Georges ist mit ihren Aspekten der Verkündigungsgeste, Erlösungsvorstellung, Erneuerungssehnsucht und der Suche nach Heilsgewissheit eine Facette der religiösen Aura der Literatur um 1900"
(S. 298).

Biographik des George-Kreises

Auf grundlegendere Weise versucht Helmut Scheuer die Biographik des George-Kreises an sein Konzept der Typisierung biographischer Schriften des 18. bis 20 Jahrhunderts anzubinden. Mit dem Hinweis darauf, dass "jede Biographie [...] ein didaktisches Modell" (S. 300) ist, ordnet Scheuer die Biographik des George-Kreises letztendlich einem vormodernen Anspruch zu. Vorherrschend sei die Flucht aus der als bedrückend erfahrenen Gegenwart in eine mythisierte – als einheitlich, geschlossen und total erfahrene – Vergangenheit. Alle Biographien basieren auf dem "alten Mythos des handlungsmächtigen und selbstgewissen Subjekts"
(S. 312). Zwar beschreibt der Autor die vorherrschend angewandte >Typisierung< als moderne Technik, doch:

Mit ihren charismatischen Persönlichkeiten erträumen die Georgeaner vormoderne Zustände, in der [!] der einzelne in klare soziale Bezugsfelder gestellt ist. (S. 314)

Ernst Bertram / Norbert von Hellingrath

Nach dieser eher überblicksartigen Einordnung kehrt der Band wieder zurück zur Betrachtung der Facetten einer Einzelbiographie: Rainer Kolk stellt die frühen Schriften des sich später ganz Thomas Mann zuwendenden Ernst Bertram vor.

Dass der nachmalige Hochschullehrer bereits in seinem Nietzsche-Buch herkömmliche, quellengestützte Wissenschaft ablehnt, sondern stattdessen eine "wertsetzende und -vermittelnde wissenschaftliche Praxis" (S. 323) bevorzugt, steht in engem Zusammenhang mit dem von Bertram vorgestellten Begriff der Legende: ">Die Legende eines Menschen, das ist sein in jedem neuen Heute neu wirksames und lebendiges Bild<." 16 Grundstein der vom George-Kreis in verschiedenen Ausprägungen betriebenen >scienza nuova< bleibt dabei die Wirksamkeit des Bildes, die herzustellen zum Auftrag von Wissenschaft wird. Durch die Publikation des Habilitationsgutachtens für Ernst Bertram seitens Berthold Litzmann wird der Beitrag abgerundet.

Norbert von Hellingrath, dem der George-Kreis die bedeutende Publikation von Hölderlins Pindar-Übertragungen und der Feiertags-Hymne in den Blättern für die Kunst verdankt, widmet sich der nächste Aufsatz von Bruno Pieger.

Hellingraths Bezug zu George ergibt sich aus der intensiven Lektüre – besonders der Zeitgedichte – des Siebenten Rings, steht jedoch zugleich in einem Spannungsfeld zu den durch seine Tante Elsa Bruckmann vermittelten Anschauungen Rudolf Alexander Schröders und Hugo von Hofmannsthals. Hellingrath bekennt sich zu Georges Dichtung, tut dies aber insbesondere im Bewusstsein der Begrenzung von "Georges Sprachmöglichkeiten" (S. 343) – George wird so zum Scheiternden und in diesem Scheitern wird seine Dichtung zum Symbol des Übergangs für eine kommende Zeit. Insofern liest Hellingrath Georges "Gescheitertsein [als] Signum für die höchste poetische Möglichkeit" (S. 343).

Aus Piegers als Anstoß für die Forschung formulierten, intensiven Lektüre einer Lektüre auf der Basis und vermittelt durch die Hölderlin-Rezeption ergibt sich die Möglichkeit einer kritischen, teils distanzierten und doch in allem affirmativen George-Rezeption.

6. Studien zur weiteren Rezeption

Mit den folgenden beiden Beiträgen verlässt der Band den Bannkreis des George-Kreises und wendet sich der zeitgenössischen Rezeption durch Rudolf Borchardt zu.

Dieter Burdorf zeichnet die Entwicklung der George-Kritik Rudolf Borchardts nach. Von Betrachtungen zu Das Jahr der Seele und Der Siebente Ring bis zu den 1936 entstandenen Aufzeichnungen Stefan George betreffend versuchte Borchardt vornehmlich "die >Gestalt< des Dichters zu erfassen" (S. 355) und George aus dem Umfeld seines Kreises herauszulösen und dabei als singuläre literarische Größe darzustellen. Die Texte seit Beginn der 30er Jahre wurden zu Lebzeiten Borchardts nicht veröffentlicht, sie tragen zunehmend "denunziatorische" Züge und bemühen sich, Georges Dichtung einzig aus seiner Homosexualität zu erklären.

Hauptpunkte der literarischen Kritik in den Aufzeichnungen Stefan George betreffend sind "der Vorwurf der Unmusikalität und fehlenden Klangorientierung seiner Lyrik sowie die George unterstellte Fremdheit im deutschen Kulturraum"
(S. 362). Der Siebente Ring – 1936 einzig als Beleg für die scheinbar alles beherrschende Homosexualität Georges gelesen – gilt Borchardt bei seinem Erscheinen 1907 noch als >magnum opus< Georges, als "Neben- ja Ineinander von kläglichem Scheitern und höchstem Gelingen" (S. 370) zwar, doch als "eine der wichtigsten deutschsprachigen Lyrikpublikationen des frühen 20. Jahrhunderts" (S. 376). Burdorf gelingt es nachzuweisen, dass die die "Vielgestaltigkeit und innere[ ] Widersprüchlichkeit" (S. 377) des Gedichtbandes nachvollziehende Kritik Borchardts diesen letztendlich – wie von ihm propagiert – zum idealen Kritiker Georges werden lässt.

Mit den Anthologien Rudolf Borchardts im zeitgeschichtlichen Kontext beschäftigt sich der Aufsatz von Gerhard Kaiser. Mit Deutsche Denkreden (1925), Ewiger Vorrat deutscher Poesie (1926) und Der Deutsche in der Landschaft (1927) bemüht sich Borchardt insgesamt um eine Rückbesinnung auf die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, es ist der "Versuch, die individuell bildende und national bindende Macht formgewordenen Deutschtums unter verschärften politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen zur Geltung zu bringen" (S. 394).

In Bezug zu Hofmansthal

Auch bei dem Beitrag von Karl Schefold spielt Borchardt eine bedeutende Rolle: Aus dem persönlichen Erlebnis einer Rede Borchardts Ende der 20er Jahre entwickelt der Autor die Grundzüge von "Hofmannsthals Bild von George". 17 Schefold stellt insbesondere die lebenslange Bindung Hofmannsthals an George heraus und relativiert dabei die Bedeutung Borchardts für den Dichter. Dabei kehrt seitdem "Hofmannsthal 1891 George begegnet war, [...] das Motiv des Unterschiedes zwischen einem Stärkeren und einem Schwächeren in Hofmannstahls Werk immer wieder" (S. 400).

Gibt Schefold einen Überblick über die Beziehung Hofmannsthal / George, so beschäftigt sich der nachfolgende – dem Andenken Karl Schefolds gewidmete – Beitrag von Andreas Thomasberger mit einem eng gefassten Zeitraum, dem Sommer 1912. Der Autor beschreibt den Siebenten Ring als eine Herausforderung Hofmannsthals. Hofmannsthal hatte sein letztes Gedicht vor Erscheinen des Siebenten Rings veröffentlicht, sich seitdem jedoch – wie der Autor nachweist – noch mit mehreren lyrischen Projekten befasst. Sowohl Georges als auch Hofmannsthals Texten liegt dabei "als vergleichbares Motiv der dichterischen Arbeit das Problem zugrunde, Übergehendes zu gestalten"(S. 410), doch entwickeln sich die Kontexte des lyrischen Sprechens radikal auseinander – hier zum monologischen des Gedichtsbandes, dort zum dialogischen des Dramas.

7. Komparatistische Studien

Zwei komparatistische Studien beschließen den Band: Jutta Elgart untersucht das >mythische Bild< bei George und Yeats. Die letzte Schaffensperiode der beiden Dichter ist durch die Tendenz zu märchenhaften, liedhaften Gedichten gemeinsam, beide sehen sich – der Autorin zufolge – am Punkt eines "Wechsel[s] der Zivilisationen"(S. 429). Doch unterscheidet sich der Anspruch beider in ihrer Haltung zur sich neugestaltenden Welt: während George diese gestaltend formen will, entwickelt Yeats lediglich ein Schema, "eine synthetische Kosmogonie aus traditionellen Weltanschauungen, Dichtung und Wissenschaft"(S. 429).

Die Rezeptionsgeschichte Georges in Ungarn stellt Sándor Komáromi dar. Hier ist zunächst Georg Lukács' "Die neue Einsamkeit und ihre Lyrik" zu nennen, in den zwanziger Jahren wird George dann von Antal Szerb als ">wichtiges Element des geistigen Wiederaufbaus in Deutschland nach dem Krieg<" (S. 434) gewürdigt; interessant ist der Nachruf Lorinc Szabós auf George, der das Prophetische hervorhebt:

Den ganzen Menschen wollte er wiederhaben, an dem hat er in sich selbst gebaut. [...] Der Georgesche >Schrei< wurde zur Quelle des >neuen Pathos< [...] Der lebte in allen modernen Extasen – Aktivismus, Messianismus, Expressionismus – fort. (S. 437)

Die Darstellung Georges als expressionistische Galionsfigur ist nur möglich durch eine radikale Herauslösung aus dem ihm eigenen Kontext und durch eine Stilisierung Georges zu einer Überfigur. Komáromi stellt im folgenden noch den George-Kreis als Modell für die Kreisbildung um Karl Kerény dar; eine Einschätzung der "ästhetische[n] Qualität des Georgeschen Werkes in der ungarischen Rezeption" rundet den Überblicksbeitrag ab.

8. Fazit
"Da brach die alte not - euch ward ein sinn.." 18

Einige Zeilen aus der Einleitung von Wolfgang Braungarts Buch Ritual und Literatur sollen den Rahmen für die abschließenden Betrachtungen des besprochenen Bandes vorgeben:

Es ist nicht so, wie uns Poststrukturalismus und Dekonstruktivismus und, in ihrem Gefolge, die Intertextualitätstheorie glauben machen wollen, daß sich der einzelne literarische Text in ein virtuell unendliches Spiel von Zeichen und Texte auflöse, daß sich der Sinn unendlich aufschiebe oder womöglich ganz verflüchtige. [...] Die primäre Leseerfahrung sucht und findet im Lesen einen Sinn. 19

Wenn Wolfgang Braungarts Feststellungen sich als richtig erweisen sollen, so muss man zugleich fragen, wem unter den sinnsuchenden Lesern Georges seit dem Siebenten Ring das Sinnfinden beschieden war: Von Erich Schmidt überliefert Gundolf zum einen den Ausspruch, dass ">die Reimreinheit wie sie die um George betrieben [...] unsinnig<" 20 sei. Zum anderen gibt Ute Oelmann in ihrer editorischen Notiz zum Stern des Bundes eine Aufzeichnung Thormaehlens wieder, nach der "ihm und den Freunden >...Teile [des Buches] in ihrem Gesamt und ihrem Sinn verborgen [blieben], bis in wiederholtem Lesen und Wiederhören die Tiefe des dichterischen Raumes und die Vielfalt und Weite des Gedankenbaus nach und nach erst in Jahren sich ganz erschloß<". 21

>Sinn< ?

Ist >Sinn< tatsächlich die primäre Kategorie zur Betrachtung der Dichtung Georges? Von Einzeldichtungen wie Der Krieg einmal abgesehen, die von größerer öffentlicher Wirkung waren, erschloss Sinn sich wohl zuallererst dem engeren, esoterischen Rezipientenkreis des >Staats<, mehr als das: Auslegung wurde geradezu zum Bindeglied des Kreises – dies belegt der besprochene Band auf profunde Weise.

Die Legitimation Georges durch die Jünger hatte Bernhard Böschenstein in seinem Eröffnungsvortrag vorausgesetzt und nach einer Bestätigung durch heutige oder spätere Zeiten gefragt – auch das eine Sinnfrage. Doch >Sinn< ergibt sich außerhalb des George-Kreises – so eine mögliche Gegenthese – eben nicht aus einer "primären Leseerfahrung", sondern erst aus der genauen Kenntnis von Stefan Georges >Ritualen der Literatur<. Durchbrochen wird die Kreisstruktur nicht. Das auf Ausdeutung und Auslegung beruhende Kreisgefüge besteht in der Wissenschaft als Ganzes – oder muss nichtig in sich zusammenfallen: der George-Kreis – in schöner Doppeldeutung – als hermeneutischer Zirkel. Für die Wissenschaft ist er, so scheint es, nur zu analysieren aus der Perspektive eines immensen und gar nicht individuellen Vorverständnisses.

Trotzdem ist der George-Kreis heute reines Objekt der Wissenschaft, keinesfalls mehr prägendes Subjekt einer >scienza nuova<. Dies mag manch einem der durch die >heiligen< Binger Hallen gegangen ist und sich in der wissenschaftlichen Tradition des Kreises wähnt, nicht ganz recht sein: doch mit >neuer< Wissenschaft ist bei George heute kein Staat mehr zu machen.

Meister – Kreis – Öffentlichkeit

Die methodischen Innovationen gehen in eine andere Richtung: Das enge Verhältnis in der Wechselbeziehung von Meister-Kreis-Öffentlichkeit genauer in den Blick genommen zu haben, ist in den 90er Jahren ein Verdienst der Monographien Kolks, Braungarts, Groppes und Breuers. Dass die betreffenden und die weiteren Beiträge des Bandes der oben beschriebenen >hermeneutischen Falle< nicht entgehen, ist die Kehrseite von Braungarts Sinn-Postulat: Die Texte, die zur Analyse des Kreisgefüges zur Verfügung stehen, sind weniger Außenwahrnehmungen als vornehmlich Biografika und Briefwechsel zwischen >Jüngern< und mit dem >Meister<.

Aber wenn eine als performativer Akt unter Kreismitgliedern verstandene Hermeneutik als konstitutives Bindeglied des Kreises verstanden werden kann, so befindet sich die George-Forschung heute an einer interessanten Schnittstelle: Der Kreis beginnt als Kompendium buchstäblicher >hommes des lettres<, Menschen aus Buchstaben, die als Figuren erst im stillschweigenden heutigen "Zeichenvollzug" dem wissenschaftlichen Blick "wieder-erstehen", erfasst zu werden. Die ehemaligen Akteure sind durch wechselseitige Selbst- und Fremdinszenierung 22 Subjekte und Objekte eines umfassenden Diskurses geworden und werden im heutigen wissenschaftlichen Diskurs wiederum im Beziehungsgefüge des Kreises positioniert.

Bernhard Böschensteins Frage nach der Bestätigung von Georges Legitimierung in der heutigen Zeit muss hier wiederholt werden: Es gibt heute keine Vertreter des Kreises mehr, an die Georges Worte sich noch direkt richteten, und die, die sich mit George beschäftigen, sind mit einem Anspruch konfrontiert, der schon zu Lebzeiten Georges nicht unwidersprochen bleiben konnte. Die Frage stellt sich: Können die Heutigen tatsächlich dazu berufen sein, die Legitimation Georges für ihre Zeit zu überprüfen, und: bleibt von George mehr als das Faszinosum eines Geschichte gewordenen Phänomens? "Auf die Gewalt, mit der [George] den Zeitgenossen sein Bild eingraben wollte, antwortet eine nicht geringere des Vergessen: als triebe der mythische Wille seines Werkes, zu überleben, mythisch zu dessen eigenem Untergang" 23 – so Adorno 1967.

George aktuell

Eine zunehmende Marginalisierung Georges wäre tatsächlich denkbar, doch ist das Gegenteil der Fall: Das kleine, hervorragend gestaltete Binger George-Museum besteht erst seit wenigen Jahren. Zahlreiche Besucher finden sich ein, um sich in Leben, Wirken und Werk Georges einführen zu lassen. Die kritische Gesamtausgabe schreitet voran und auch die Stefan George-Gesellschaft hat sich neu formiert und sieht sich in der Lage, ein Jahrbuch herauszugeben – das alles trotz Adornos Prophezeiung. Ihm zum Trotz befindet sich der vorliegende Band und insbesondere die international ausgerichtete Binger Tagung auf dem Höhepunkt eines regelrechten Wissenschaftsbooms – George ist also keineswegs vergessen.

Doch die zu Beginn des Fazits zitierte Feststellung Wolfgang Braungarts richtet sich auf Fragen, die die Methodendiskussion und auch der Band nicht beantwortet hat: Was kann eine Dichtung, die sich strikt und strikter an eine eng begrenzte Rezipientenzahl Auserwählter richtete, dem heutigen, außerhalb des Kreises und außerhalb der Zeit Stehenden, prinzipiell >bedeuten<? Und wie muss >Sinn< strukturiert sein, der sich einer heutigen >primären Leseerfahrung< erschließt?

George, das mag auch hier anklingen, bleibt als Problem aktuell und wird, so steht es zu wünschen, dies auf lange Sicht sein.


Ralf Rättig, M.A.
Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Institut für Theaterwissenschaft
Welderweg 18
D - 55099 Mainz

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Anmerkungen

1 Theodor W. Adorno: George. In T.W.A.: Noten zur Literatur. Frankfurt / M.: Suhrkamp 1998. 7. Auflage, S. 535.   zurück

2 Vgl. hierzu die bei Stefan Breuer wiedergegebene Skizze von E.-E. Starke: Der »Stern des Bundes«. In: Stefan Breuer: Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus. Darmstadt: WBG 1995.   zurück

3 Vgl. die Darstellungen in Robert Boehringer: Mein Bild von Stefan George. Stuttgart: Klett-Cotta 1998.   zurück

4 Gert Mattenklott: Bilderdienst. Ästhetische Opposition bei Beardsley und George. 1967.   zurück

5 Robert Boehringer: Mein Bild von Stefan George. Stuttgart: Klett-Cotta 1998.   zurück

6 Stefan Breuer: Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus. Darmstadt: WBG 1995.   zurück

7 Carola Groppe: Die Macht der Bildung. Das deutsche Bürgertum und der George-Kreis 1890-1933. 1997.   zurück

8 Rainer Kolk: Literarische Gruppenbildung. Am Beispiel des George-Kreises 1890-1945.Tübingen: Max Niemeyer 1998. Vgl. hierzu die Rezension von Carola Groppe in IASLonline: http://iasl.uni-muenchen.de/rezensio/liste/groppe.htm   zurück

9 Wolfgang Braungart: Ästhetischer Katholizismus. Stefan Georges Rituale der Literatur. Tübingen: Niemeyer 1997. Vgl. hierzu die Rezension von Kai Kauffmann in IASLonline: http://iasl.uni-muenchen.de/rezensio/liste/kauffman.htm   zurück

10 Wolfgang Braungart: Ritual und Literatur. Tübingen: Max Niemeyer 1996.   zurück

11 Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt: Fischer 1991. S. 20.   zurück

12 Claude David: Stefan George. Sein dichterisches Werk. München 1967. S. 340, zitiert bei Cornelia Blasberg in dem besprochenen Band, S. 18.   zurück

13 So eine Kapitelüberschrift in Stefan Breuer: Ästhetischer Fundamentalismus (Anm. 6), S. 148.   zurück

14 Stefan George: Der Stern des Bundes. Bearbeitet von Ute Oelmann. Stuttgart: Klett-Cotta 1993. S. 31.   zurück

15 Berthold Vallentin: Gespräche mit Stefan George 1902-1931. Amsterdam 1961. S. 52, zitiert bei Friedmar Apel in dem besprochenen Band, S. 214.   zurück

16 Ernst Bertram: Nietzsche. Versuch einer Mythologie. Bonn 1989. 10 Auflage,
S. 9, zitiert bei Rainer Kolk in dem besprochenen Band, S. 323.   zurück

17 Ein gleichnamiges Buch (Hugo von Hofmannsthals Bild von Stefan George Visionen des Endes – Grundsteine neuer Kultur.) erschien 1998 in Basel als eigenständige Publikation.   zurück

18 Stefan George: Der Stern des Bundes (Anm. 2), S. 88.   zurück

19 Wolfgang Braungart: Ritual und Literatur. (Anm. 10) S. 5.   zurück

20 Stefan George / Friedrich Gundolf: Briefwechsel. Herausgegeben von Robert Boehringer mit Georg Peter Landmann. München u.a.: Küpper 1962. S. 102.   zurück

21 Stefan George: Der Stern des Bundes (Anm. 2), S. 124.   zurück

22 Zusätzlich geformt durch bildliche (photographische, später bildhauerische) Mittel.   zurück

23 Adorno: George (Anm. 1), S. 524.   zurück