Rauen über Ullmaier / Baßler: Popliteratur

IASLonline


Christoph Rauen

Nur ein Anfang – Was die Germanistik
über die Popliteratur zu sagen hat

  • Johannes Ullmaier: Von Acid nach Adlon. Eine Reise durch die deutschsprachige Popliteratur. Mainz: Ventil-Verlag 2001. 216 S. ca. 200 Abb. und Audio-CD Kart. € 20,40.
    ISBN 3-930559-83-8.
  • Moritz Baßler: Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten (Beck'sche Reihe; 1474) München: C.H. Beck 2002. 222 S. 9 Abb. Kart. € 12,90.
    ISBN 3-406-47614-7.


Da war mal was: Popliteratur

Wenn Christian Kracht im Jahre 2012 seinen neuesten, lange erwarteten Roman veröffentlichen wird, gibt es für die Rezensenten Gelegenheit zur Rückschau. Sie werden von der literarischen Herkunft des Autors sprechen, von der Pop-Welle der neunziger Jahren und von "Tristesse Royale – Das popkulturelle Quintett", das damals für soviel Aufsehen gesorgt hatte.

Sie werden an die vielen Markennamen erinnern, mit denen die Texte gespickt waren – sehr modisch, damals. Sie werden fragen, was aus manchen Freunden und Kollegen Krachts geworden ist. Gute Gelegenheit, einen Vergessenen hervorzuholen.

Vielleicht wird der eine oder andere Kritiker nostalgisch werden und behaupten, daß damals die Literatur noch auf ihre Zeit reagiert habe und gelesen worden sei, Relevanz besessen habe – wenn auch nicht alles wirklich gut war. Um seine Erinnerung aufzufrischen und den Stand der Forschung zu überblicken, wird er vielleicht nach literaturwissenschaftlichen Texten suchen. Schon heute kann man ihm einen Tip geben, wo er nachschlagen soll.

Sammeln und Archivieren

Die Literaturwissenschaftler beginnen mit der Archivierung: "Von Acid nach Adlon und zurück – Eine Reise durch die deutschsprachige Popliteratur" ist der zweite von drei Titeln zum Thema Popliteratur. Das Buch des Mainzer Germanisten Johannes Ullmaier, u.a. Autor einer Abhandlung zur Kulturwissenschaft, basiert auf einer Sendereihe des Hessischen Rundfunks. 1 Auf über 200 Seiten hat Ullmaier sehr Unterschiedliches aus den letzten vierzig Jahren zusammengebracht. Dabei ist ihm, obwohl er solchen Versuchen skeptisch gegenüber steht, eine eigene, unausgesprochene Definition des Begriffs Popliteratur unterlaufen: Extensiv und mit Lust am Detail sammelt er, was seit den späten sechziger Jahren als jung und neu galt, aber weder der Trivial- noch der herkömmlichen Hochliteratur zugeordnet werden kann.

Anlaß und Aufhänger ist der Publikumserfolg der neuen Autoren der neunziger Jahre. Man kann sich leicht ausrechnen, daß auch ein Buch über diese Bücher viele Leser finden wird. An diesem Kalkül ist nichts auszusetzen. Im Gegenteil: Es ist ein gesunder Reflex, wenn die Germanistik auf einen aktuellen Literatur-Trend reagiert. Sie müßte eigentlich die richtige Adresse sein, wenn man Genaueres erfahren will. Und ihr selbst eröffnet sich damit die Möglichkeit, ihre Methoden und Ansätze an einem neuen Gegenstand zu testen.

Kurse zum Thema werden angeboten, Seminar- und Abschlußarbeiten entstehen, es gibt also einen Bedarf an Analyse- und Erklärungsansätzen, an denen man sich orientieren kann. Eine literaturwissenschaftliche Studie war an der Zeit. Ullmaier hat sie nicht geschrieben, wollte sie wohl auch nicht schreiben. Das hat zum Glück jetzt Moritz Baßler unternommen, aber dazu unten mehr.

Der Inhalt

"Von Acid nach Adlon" besteht aus vier "Trips". Aus der Welt der Neunziger zwingt ein "Flashback" zurück in die späten sechziger und die siebziger Jahre, als Rolf Dieter Brinkmann und Ralf-Rainer Rygulla durch die Anthologien "Fuck You!" und "Acid" den deutschen Lesern die zweite Welle der amerikanischen Beat-Autoren näherbrachten, Jörg Schröder Chef des März-Verlags war und "Underground" eine unproblematische Kategorie.

Von da an geht es vorwärts, in die Achtziger hinein, zur New Wave und dem, was daraus wurde. In diesem Kapitel spielt dann auch Musik eine Rolle, Bands wie S.Y.P.H., Die Tödliche Doris und Palais Schaumburg werden erwähnt. Ullmaier bringt in diesem Kapitel Autoren unter, die mit Musik angefangen haben wie Wolfgang Müller und Max Goldt. Unter dem Stichwort "Punk" wird Franz Dobler behandelt. Und Wiglaf Droste darf hier dann auch mal über sich selbst sprechen.

Die vierte Abteilung, "Kaltland Beat", führt dann wieder durch das gerade vergangene Jahrzent, nur das es diesmal nicht um die als solche geführten Pop-Autoren wie Alexa Hennig von Lange oder Joachim Bessing geht, sondern um Kathrin Röggla, Social Beat und Slam Poetry. Die Szene des Prenzlauer Bergs wird hier auch noch untergebracht. Außerdem tritt auf: Helge Schneider.

Hören und Weiterlesen

Dem Buch beigelegt ist eine CD mit Hörproben. Auf ihr findet sich viel Interessantes, Kurioses und Abseitiges, zum Beispiel Mitschnitte von der Tutzinger Tagung über Popliteratur. Und: Der Jungautor Benjamin Lebert entschuldigt sich beim Publikum für seine Nervosität, Jörg Fauser liest "Trotzki, Goethe und das Glück", Wolfgang Müller besingt den Elf, Rainald Goetz dagegen Sven Väth ...
Insgesamt sind es 49 Stücke und Stückchen, in die man gerne reinhört.

Der beste Grund, sich "Von Acid nach Adlon" zuzulegen, ist die an den Textteil angehängte Bibliographie. Sie heißt nicht Bibliographie, sondern "Swinging Gutenberg Galaxis". Nun gut. Sie ist ganze 47 Seiten lang und unterteilt in Rubriken wie "Vorläufer und popverwandte Avantgarde", "Zeitdiagnostik und Humor / Grosteske", "Techno", "Plattensammler- und Fan-Literatur" und "Autobiographien" – eine sehr gute Basis für weitere Lektüre.

Ist es subversiv?

Schwierigkeiten bereiten Ullmaiers eigene Stellungnahmen. Es geht um Literatur, also um Texte. Nein, zuerst und zuletzt geht es Ullmaier wie auch schon Thomas Ernst, dessen dünnes Heftchen "Popliteratur" kurz vorher erschienen ist, um eine ideologische Positionierung der Schriftsteller und ihrer Produkte, um die Verortung in einem Feld, daß durch die Extrempositionen "dissident" und "angepaßt" abgegrenzt ist. 2

In diesem Punkt unterscheiden sich die beide Bücher nicht von der im Feuilleton um die "Popliteratur" geführten Debatte. Sie fügen ihr aber auch kaum etwas von Wichtigkeit hinzu.

Ernst schafft es sogar, ihr manchmal niedriges Niveau noch zu unterschreiten. Im Stil von Lexikoneinträgen werden Ad-hoc-Urteile und kulturkritische Allgemeinaussagen von ihm als gesichertes Wissen verkauft. Die Schlußfolgerung, die er nach seinem Schnelldurchgang durch das 20. Jahrhundert zieht:

Besaß die Popliteratur in der Vergangenheit eine geringe gesellschaftliche Akzeptanz, weil sie sozialkritisch war, die Grenze zwischen Hoch- und Alltagskultur beseitigte, sprachkritische oder -experimentelle Konzepte entwickelte oder Tabuthemen aufgriff, so war all dies vom popkulturellen Quintett nicht beabsichtigt [...] Ankunft der Popliteratur in der Mitte der Gesellschaft [...] diese neue Popliteratur ist nicht mehr wütender Protest gegen die Verhältnisse, sondern angenehmer Begleitsound zur Berliner Republik. 3

"Besondere Beachtung findet die Frage, ob die jeweilige Popliteratur subversive Kräfte besitzt", das könnte als Motto für beide Bücher dienen. 4 Peter Kemper, Redakteur des Hessischen Rundfunks, formuliert es in seiner Einleitung zu "Von Acid nach Adlon" immerhin als Frage: "Werden hier die letzten subversiven Werte verraten, oder kommt >Pop als totale Gegenwart und Beschwörung der Oberfläche< hier erst wahrhaft zu seinem Recht" (S.5)?

Hinter dem auratischen Begriff der >Subversion<, die hier wie dort zum Prüfstein der Qualität erhoben wird, versteckt sich aber nicht viel mehr als der weniger leuchtende und mittlerweile nicht mehr so gern benutzte der Gesellschaftskritik. 5 Abweichend, rebellisch, progressiv soll Literatur sein.

Bei den Texten von Rolf Dieter Brinkmann und Hubert Fichte ist man sich einig: Das ist Literatur als Widerstand gegen die Verhältnisse, also gute Literatur. Die Schriftsteller dagegen, die in den Neunzigern auftauchten und das Pop-Etikett für sich beanspruchten oder damit belegt wurden, sind den Autoren suspekt. Ihre angebliche Ideologielosigkeit macht sie politisch unzuverlässig, ihre Schreibweise verspricht keine ästhetischen Innovationen, ihr Erfolg bei einer breiten Masse ist fragwürdig, ihre Fixierung auf Äußerlichkeiten banal, ihre Herkunft aus dem Medienbetrieb zeigt an, wohin sie gehören: Unterhaltung.

Für Ernst ist der Fall damit erledigt. Ullmaier setzt einen Bereich der bewahrenswerten Pop-Literatur dagegen, zu dem vor allem Marginales seit den achtziger Jahren gehört; als ob die Tatsache, das etwas weniger wahrgenommen wird, schon für es spreche. Die Texte der als Autorin bisher kaum wahrgenommenen Sängerin von Stereo Total lobt er mit diesen Worten:

Bestimmte Haltungen erscheinen so – wenn auch zum Preis der Esoterik – eher überlebensfähig als im derzeit fruchtlosen Bemühen, sie substantiell dem Mainstream mitzuteilen. (S. 114)

Um "Haltungen" geht es also auch hier, und zwar um die richtigen, läßt sich vermuten. Mit Literatur und ihrer Beschreibung hat das alles wenig zu tun.

Die Frage nach dem kritischen Potential von Literatur ist erlaubt. Nur muß man sich bewußt sein, daß sie, so unvermittelt gestellt, an dem vorbeizielt, was Literatur ist an der Popliteratur. Ullmaier, mehr noch Ernst lesen die Texte "inhaltistisch", fixiert auf Themen und Meinungen. Sie unterstellen die Identität von Erzähler und Autor, anstatt zu zeigen, wie und warum die Texte diesen Irrtum provozieren. Und sie unterstellen dem Publikum eine identifikatorische Lektüre, um es zusammen mit den Schriftstellern als reaktionär abtun zu können. Daß man als Leser Interesse und Spaß an dieser Literatur haben kann, ohne gleich die Einstellungen der Figuren und Erzähler zu teilen – diese Möglichkeit ist nicht vorgesehen.

Alle reden durcheinander – Ich auch

"Von Acid nach Adlon" besteht zu einem großen Teil aus Statements, die Ullmaier extra eingeholt und im Haupttext und den Randspalten seines Buches durcheinander gewirbelt hat. Mit Kathrin Röggla, Frieder Butzmann, Wiglaf Droste, Hadayatullah Hübsch und Feridun Zaimoglu wurden vor allem Autoren befragt, die den gegenwärtig am meisten beachteten Popliteraten nicht sehr wohlwollend gegenüberstehen. Von der Adlon-Fraktion selbst kommt keiner zu Wort. Wollten sie nicht, oder hat Ullmaier gar nicht angefragt? 6

Es wundert jedenfalls nicht, wenn das hier präsentierte Meinungsbild schief wird. Man ist sich weitgehend einig, daß die zeitgenössische Erfolgsliteratur schlecht ist. Die Ausnahme: Thomas Meinecke, Autor der Romane "Tomboy" und "Hellblau". Meinecke ahnt, daß er als Runtermacher vor den Karren gespannt werden soll, und beugt dem vor.

Ich finde mich in Interviewsituationen naturgemäß in der Position, daß ich die Fraktion, die sich unterhaltend an Pop-Phänomenen abarbeitet, verteidige gegen die kulturpessimistischen Altersanzeichen von Leuten meiner Generation. So kommt man meist gar nicht soweit, darüber zu reden, was an diesen Sachen dann doch auch schlecht ist. (S. 40)

Ganz abgesehen von Fragen der Wertung besteht in Ullmaiers Buch ein Mißverhältnis zwischen Interview-Statements und Pressezitaten auf der einen, und den Primärtexten auf der anderen Seite. Im ersten Kapitel "Republik Royal" stehen dreizehn gar nicht oder kaum erläuterten (es versteht sich alles von selbst) Textstellen 166 Kommentare gegenüber. Das schafft insgesamt einen diffusen Eindruck, der wohl auch beabsichtigt ist: Das Buch empfiehlt sich als "dezentrierte[r] Ezählmix" (S. 5). So kann man natürlich auch sagen, daß es sich um ein unübersichtliches Textkonglomerat handelt.

Konsequent wäre es gewesen, auf den eigenen Begleittext ganz zu verzichten. Zumal er sich so unschön liest. Ullmaier schreibt in einem süffisanten Stil, der meistens nur angestrengt klingt. Seine Sätze sind so vollgestopft mit sperrigen Komposita und Einschüben, daß sich das Gemeinte oft nur noch schwer herausziehen läßt. Man braucht langen Atem und viel Frustrationstoleranz, will man einen Satz bis an sein Ende verfolgen, der so anfängt:

Mit dem eliteschulgestählten Durchblick reicher Erben irrt der Held – in freudlosestmöglicher On-The-Road- bzw. (eher) Sentimental-Journey-Tradition – durch die Nobelfoyers und Speisewägen eines von degoutant gestylten SPDlern, Rentner-Nazis, Business-Men und Autonomen verunstalteten Deutschlands, um [...]. (S. 33)

Sekundärliteratur-Pop

Massenhaft Bildchen, Photos, Grafiken, Beatles-Textstellen neben den Seitenzahlen, ineinander verschobene Texte, eine wahre Zitatflut, Brocken aus den geführten Interviews – muß ein Buch über Pop unbedingt poppig aufgemacht sein? Gut, Ullmaiers Zusammenstellung erhebt keinen expliziten Anspruch auf Wissenschaftlichkeit. In der Gebrauchsanweisung wird ein Jelinek-Zitat angeführt, das man anscheinend auf "Von Acid nach Adlon" beziehen soll: "dies soll kein ernstes werk sein so wie viele sondern mehr beschwingten karakters. eine leichte fröhliche reiselektüre für unbeschwerte ferien fürs sommerliche urlaubsgepäck" (S. 7).

Trotzdem: Bei diesem publizistischen Modethema, zu dem irgendwie irgendwo sicher alles schon einmal gesagt wurde, wären Unterscheidungen und Thesen, wäre Klarheit und Struktur wünschenswert gewesen. Es gibt keine sich durchziehende Argumentation, die man verfolgen könnte, nur die halb eingestandene, halb wieder zurückgenommene Überzeugung, mit der Popliteratur sei es bergab gegangen.

Die Texte selbst, ihre Sprache und Erzählweise, das wird kaum behandelt. Es ist nur konsequent, besonders Acht zu geben auf die Inszenierung neuerer Autoren. Daß etwa eine improvisierte Zwischenansage Stuckrad-Barres abgedruckt und auf der beigefügten CD zu hören ist, dagegen läßt sich nichts sagen. Das trägt der Tatsache Rechnung, daß die Präsentation des Autors als Ereignis (nicht: als Gewissen der Nation, im Hintergrund die Bücherwand) mittlerweile eine wichtige Rolle spielt. Deswegen aber auf eine genauere Ansicht der Primärtexte selbst ganz zu verzichten, ist falsch. Gerade wenn man wie Ullmaier die jüngeren Autoren von einer literaturkritischen Position aus ablehnt, müßte man sie da packen, wo sie angreifbar sind: Bei dem Anspruch, Literatur und Unterhaltung zu sein.

Ullmaier dagegen hangelt sich an Schlagwörtern entlang und bewegt sich von Anfang an auf einer Abstraktionshöhe, auf der die dünne Luft der Debatten über Gegenwartskultur herrscht.

Deutsche Popliteratur – eine Geschichte? des Verfalls?

Ullmaier kann die historische Linie, die er durch vier Jahrzehnte zieht, nicht plausibel machen. Im Geleitwort heißt es:

[...] schnell zeigte sich in unseren Gesprächen, daß die aktuellen Pop-Propheten aus dem Hotel >Adlon< im mittlerweile verblaßten Traditionszusammenhang von frühen Beat- und Pop-Autoren wie Hubert Fichte oder Rolf Dieter Brinkmann gesehen werden sollten. (S. 5)

Aber warum? Wo ist die programmatische, stilistische, gattungsgeschichtliche oder inhaltliche Kontinuität? Ullmaier zitiert Franz Dobler: "Was aktuell an Popliteratur passiert, hat mit Rolf Dieter Brinkmann nichts zu tun" (S. 18). Dem hätte man, wenn man schon eine Geschichte erzählen will, etwas Konkretes entgegensetzen müssen.

Ullmaier schreibt selbst, es sei "naiv, im Rückgang an den Ursprung ein Orakel zu vermuten hinsichtlich der Frage, was und wie die >wahre<, >ideale< Pop-Dichtung zu sein hätte" (S. 48). Aber ist nicht schon die Rede von einem Ursprung problematisch?

Womit also rechtfertigt Ullmaier die hergestellte Genealogie?

Worum es geht, ist vielmehr, etwas von dem offenbar weithin Vergessenen zu evozieren, was damals an thematischen, formalen und performerischen Vorstößen im Schwange war, und zu erahnen, welche Ansprüche und Hoffnungen damit verbunden wurden. (S. 48)

Das ist, für sich gesehen, lohnend und interessant, aber keine hinreichende Begründung für den Zusammenhang, den Ullmaier stiften möchte.

Bei kaum einem der Autoren, die in den neunziger Jahren debutierten, sind sichtbare Anschlüsse an die Beat-Literatur auszumachen. Es gibt keinen festen Traditionszusammenhang "deutsche Popliteratur", es gibt allenfalls Elemente, die damals und heute eine Rolle spielen: etwa der Gestus der Jugendlichkeit, Referenzen (Musik, Film, Jugendsprache usw.), die älteren Menschen nicht zur Verfügung stehen, die Forderung oder der Anspruch, mit den eigenen Texten, was Sprache oder Themen betrifft, näher an der Wirklichkeit, näher am Leben zu sein, und die Umsetzung dieses Anspruchs in der Darbietung der Texte.

Der Katalog von Merkmalen, den Ullmaier am Anfang des Buches vorschlägt, kann einem beim Feststellen dieser Elemente helfen: Unterteilt ist er in

  • Autor / Werk (Popularität, Inszenierungs- und Promotionsformen usw.)

  • inhaltliche Schwerpunkte (jugendliche Subkulturen, Drogen usw.) und

  • formale Aspekte (Alltagssprache, Genre-Versatzstücke usw.).

Man kann Gemeinsamkeiten feststellen, Unterschiede herausarbeiten, etwa in der Verwendung von Motiven. Ullmaier setzt zu solchen Versuchen an, zum Beispiel stellt er einen von Hadayatullah Hübsch im Rückblick hymnisch und hermetisch geschilderten LSD-Trip neben den nüchternen Bericht des Autor-Erzählers in "Livealbum". Es kommt Ullmaier vor, "als schlage man nach dem Koran ein Lifestyle-Magazin auf" (S. 55). Seltsam nur seine Erklärung dafür: "Natürlich differiert die LSD-Erfahrung stark nach Temperament, Situation und anderen Faktoren [...]" (ebd.).

Ein Blick auf die jeweilige Erzählweise hätte hier mehr gebracht: Hübsch will die Erfahrung direkt abbilden ("wie sind wir in dieses Haus gekommen?"), es gibt keine Distanz zwischen erzähltem und erzählendem Ich. Bei ihm geht es darum, den Leser an einer religiösen Erleuchtung teilhaben zu lassen: "Auf einmal war es also da – ES war da [...] diese unendliche Zartheit des Seins [...]". Stuckrad-Barre objektiviert das Erlebnis und übersetzt es in allgemeinverständliche Bilder: "Ich [...] kreiste in Hochgeschwindigkeit und verpaßte immer wieder die weiterführende Abzweigung; ähnlich wie beim Hallen-Rad-Rennen, wo das ZIEL-Schild ja bloß die Rückseite des START-Schildes ist [...]". Ein Grund für diesen Unterschied ist, daß Drogenerlebnisse seit den sechziger Jahren entzaubert wurden. Aber warum dafür die Literatur verantwortlich machen?

"Von Acid nach Adlon" will eine durchgängige Geschichte erzählen, trotz aller selbst vorgebrachter Einwände, weil es einen Verfall, eine Pervertierung erzählen will. Noch einmal aus dem Vorwort:

Provozierte die 1969 erschienene Textsammlung >Acid< doch damals nicht nur den etablierten Literaturbetrieb. Man könnte vielmehr sagen: Ihr verstörender Gestus kehrt heute in der dreisten Selbstinszenierung einer "Republik Royale" spiegelverkehrt wieder. (S. 5)

Spiegelverkehrt, daß heißt die Popliteratur hat die Seiten gewechselt, das muß man wohl auch politisch verstehen. Allerdings hütet sich Ullmaier, so weit wie das konkret-Spezial aus dem letzten Herbst zu gehen und den Popautoren mal eben Revisionismus und Nationalismus vorzuwerfen. 7 Es bleibt beim Vorwurf, nicht kritisch genug zu sein.

Zusammenfassung: Haben Sie Spaß mit diesem Buch

Ullmaiers Buch ist keine literaturwissenschaftliche Arbeit, es untersucht nicht Texte nach Form, Inhalt und Kontext. Dem Aufbau nach ist es eine Literaturgeschichte, aber als solche folgt es Prämissen, die es zu Recht selbst anzweifelt. Es bietet eine Menge fremder und eigener Urteile, man möchte es aber auch nicht der Literaturkritik zurechnen, weil es einen Zickzackkurs verfolgt und die eigenen Aussagen ständig relativiert werden.

Es ist, alles in allem, ein aufwendig ausgestattetes Lesebuch, nur an vielen Stellen weniger eines zur Popliteratur als zur Diskussion darüber. Es macht Spaß, es durchzublättern, man stößt auf Bekanntes, Neues und Vergessenes, findet eine Menge Lese-Anregungen und Stoff zur Auseinandersetzung. Wer mehr erwartet, wird enttäuscht werden.

Baßler über die neuen Archivisten

Wie man es anders machen kann, zeigt Moritz Baßler in der eben erst erschienenen Studie "Der deutsche Pop-Roman". 8

Baßler behandelt ausschließlich Autoren der Neunziger (Andreas Mand, Thomas Brussig, Christian Kracht, Thomas Meinecke, Wolf Haas u.v.m.) und verzichtet auf eine historische Herleitung, wie sie Ernst (der sogar Dada bemüht) oder Ullmaier versuchen.

"Der deutsche Pop-Roman" kommt ohne allen Layout-Schnickschnack aus. Baßler verhehlt seine grundsätzliche Sympathie für die Autoren nicht. An manchen Stellen ist sein Ton ein wenig nonchalant, das tut den ganz konventionellen Text-Analysen aber keinen Abbruch. Vor allem bietet er, wenn auch auf die verschiedenen Kapitel verstreut, eine diskussionswürdige These an, die sich etwa so umreißen läßt:

Jenseits der literarischen Wunschvorstellung einer ursprünglichen, reinen Sprache (siehe Handke, Strauß) haben die Texte immer schon diskursivierte Sachverhalte zum Gegenstand und versuchen auf unterschiedliche Weise, dem Rechnung zu tragen. Die Elemente der Gegenwartskultur, über die geschrieben wird, sind allgemein bekannt, waren aber bisher noch nicht "Gegenstand jener künstlerischen Anstrengung gewesen, über die Dinge ins kulturelle Archiv gelangen". 9

Leitbild dieser Literatur, so könnte man es auf den Punkt bringen, ist also nicht die genuine Schöpfung, sie folgt auch keiner Avantgarde-Ästhetik des absolut Neuen, noch einem als Realismus ausgegebenen Programm ("neues Erzählen"), das nach dem Vorbild des Hollywood-Films nur noch einen Plot verwirklicht. Es geht ihr um die Verpflanzung von Elementen aus dem Bereich des Profanen in den der Literatur und die Effekte, die sich damit erzielen lassen. Baßler benennt und beschreibt eine Reihe von Verfahren, mit deren Hilfe das geschieht: Sammeln, Kombinieren, Archivieren, Generieren.

Das Ergebnis ist eine "Literatur der zweiten Worte", die im Zweifelsfall eher zum Pastiche als zur Satire tendiert. Sie ist, soviel noch einmal zur Ideologie, nicht von einer eindeutig-kritischen Haltung getragen und kann es auch nicht sein, weil das einen Standpunkt außerhalb des alltäglichen und medialen Geredes erfordern würde, den sich keiner der Autoren mehr anmaßen mag.

Baßler geht nicht gleichmacherisch mit den zum Teil sehr unterschiedlichen Büchern um. Sie werden nicht auf seine These zurechtgestutzt. Seine Überlegungen kreisen um einen Idealtyp dieser Literatur, eben den "deutschen Pop-Roman": Das wäre ein neue Form des Diskursromans, ein Genre, in dem das Gerede und die Namen selbst zur Hauptfigur werden. 10 In den USA ist Bret Easton Ellis mit "American Psycho" und "Glamorama" dem wohl am nächsten gekommen, im deutschsprachigen Bereich vielleicht Thomas Meinecke mit "The Church of John F. Kennedy", "Hellblau" und "Tomboy", dem Baßler ein ganzes Kapitel widmet.

An diesem Befund könnten und müßten dann historische Erklärungsversuche ansetzen. Baßler hält sich hier zurück.

Baßler macht, um was sich die anderen drücken: Die Texte untersuchen. Wenn er sich Benjamin von Stuckrad-Barres "Soloalbum" vornimmt und die Bauweise offenlegt, möchte man einen Schwung Feuilleton-Artikel pro und contra Popliteratur in die Altpapiertonne werfen. Nicht, weil seine Analyse so genial wäre, sondern weil sich hier überhaupt jemand die Mühe macht, nachzusehen, was da auf dem Papier steht.

Ullmaier häuft Material an und steuert die entsprechenden Schlagwörter zur Popliteratur bei. Baßler leistet den ersten literaturwissenschaftlichen Beitrag zu ihrer Aufarbeitung.


Christoph Rauen, M.A.

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Ins Netz gestellt am 31.05.2002
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Anmerkungen

1 Johannes Ullmaier: Kulturwissenschaft im Zeichen der Moderne. Hermeneutische und kategoriale Probleme (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der deutschen Literatur; 84) Tübingen: Niemeyer 2001. Vgl. die Rezension von Nicolas Pethes in IASLonline: http://iasl.uni-muenchen.de/rezensio/liste/pethes2.html    zurück

2 Thomas Ernst: Popliteratur. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt / Rotbuch Verlag 2001.   zurück

3 Thomas Ernst (Anm. 2), S.75.   zurück

4 Thomas Ernst (Anm. 2), S.9.   zurück

5 Dem Schlagwort >Subversion< widmet sich: Diedrich Diederichsen: Subversion – Kalte Strategie und heiße Differenz. In: D. D.: Freiheit macht arm. Das Leben nach Rock'n'Roll 1990–93. Köln: Kiepenheuer und Witsch 1993, S.33–52.   zurück

6 Auf der Web-Seite des Ventil-Verlages nimmt Ullmaier dazu Stellung. Danach fragt man sich erst recht, was los ist: "Sicher spielt die Nähe oder Ferne zu bestimmten Szenen eine Rolle. Ebenso die Unlust, Lebenszeit für die Kontaktierung Prominenter aufzuwenden, deren Prominenz sich ja gerade dadurch definiert, nie Zeit zu haben. Welche Gespräche aber real zustandekommen und welche nicht, ist bei einem so ungeplanten Projekt wie >Von Acid< viel zufälliger, als es im fertigen Buch erscheint. Wenn die bekannten Popliteraten eher indirekt zu Wort kommen, hat das den trivialen Grund, daß sie sowohl mit ihren Thesen als auch mit ihren Reaktionen auf Kritik überall erschöpfend präsent sind – was man von Autoren wie Wolfgang Müller, Jürgen Ploog, Jan Off und vielen anderen, die auch etwas zu sagen haben, nicht unbedingt behaupten kann. Gemessen daran, wie selten diese Stimmen öffentlich vermißt werden, erscheinen mir die neuen Popliteraturstars im Buch nicht unterrepräsentiert." Nachzulesen auf: http://www.ventil-verlag.de/autoren/ullmaier.htm

Vielleicht weiß der Rezensent Julian Weber mehr? "Während sich [...] manche ProtagonistInnen über die Zweckmässigkeit des Popbegriffs in Texten und Interviews Gedanken machen, lassen sich andere hofieren wie Popstars und gehen gar nicht erst auf die Interviewwünsche von Ullmaier ein". In: WoZ 37 vom 13. September 2001.   zurück

7 Siehe zum Beispiel: Joachim Rohloff: Jüngstes Deutschland. Sentimentale Bedürfnisse nach einer heilen deutschen Nation. Zum Geschichtsbild der sogenannten Generation Golf. In: konkret Literatur 26 (2001 / 2002). Collection Gaga. S.4–5. Auch: Alfred Schobert: Überdüngtes Gewässer. Rainald Goetz und Botho Strauß: Über den revisionistischen Kern des popliterarischen Pudels. In: konkret Literatur 26 (2001 / 2002). Collection Gaga, S.24–25.   zurück

8 Moritz Baßler: Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten (Beck'sche Reihe; 1474) München: C.H. Beck 2002.   zurück

9 Moritz Baßler (Anm. 8), S.21.   zurück

10 Moritz Baßler (Anm. 8), S.88.   zurück