- Uwe Neddermeyer: Von der Handschrift zum gedruckten Buch.
Schriftlichkeit und Leseinteresse im Mittelalter und in der frühen
Neuzeit. Quantitative und Qualitative Aspekte. (Buchwissenschaftliche
Beiträge aus dem Deutschen Bucharchiv München 61) Wiesbaden:
Harrassowitz 1998. 2 Teile. Teil 1: 556 S. (Text), Teil 2: S. 558-972
(Anlagen) Kart. DM 198,-.
ISBN 3-447-04068-8.
Wann beginnt das >Buchzeitalter<?
Von den nicht wenigen Arbeiten, die sich insbesondere in den
letzten Jahren mit dem Übergang von der Handschrift zum Druck und den
damit verbundenen soziokulturellen Umschichtungen beschäftigt haben,
nimmt die angezeigte Studie (zugleich Habil.-Schrift 1996, Universität
Köln) eine besondere Stellung ein, insofern sie methodisch der
bibliographischen Statistik verpflichtet ist. Die Ausgangsfrage lautet
"Wann beginnt das >Buchzeitalter<?"
Um es vorweg zunehmen: Der Verfasser setzt den Beginn des
>Buch-<Zeitalters um 1370 in das >Manuskript<-Zeitalter, denn bereits nach
der Mitte des 14. Jahrhunderts steigen die Buchproduktionszahlen (nicht
zuletzt als Auswirkung des gegenüber dem Pergament preiswerteren
Beschreibstoffes Papier) sprunghaft an und werden in großem Maße
auch pragmatische und literarische Textsorten verschriftlicht, so daß
ein durch steigende Alphabetisierungsraten gewachsenes Lesepublikum über
ein entsprechendes Buchangebot verfügen kann. Der Buchdruck beschleunigt
diesen Prozeß weiter; die technologische Umstellung nach 1470 bedeutet
keinen >Bruch< zum Handschriftenzeitalter, denn die
"Leistungsexplosion" ist aufgrund des "aufgestauten
Altbedarfs" (S. 539) möglich.
So weit das Hauptergebnis der fast tausend Seiten starken
Studie, das allerdings buchhistorisch arbeitende Mediävisten, die die
Kontinuitätsbeziehungen zwischen Handschrift und Druck für den
materiellen Schriftträger ebenso wie für das Buchwesen und die
Lesekultur seit längerem betonen, nicht überrascht. Es hieße
jedoch die Studie Neddermeyers ungerechtfertigt zu verkürzen, würde
man nicht auf die zahlreichen Einzelergebnisse verweisen, die
"Schriftlichkeit" auf der einen Seite, und
"Leseinteresse" auf der anderen, in zeitlichem Verlauf, regional-,
länder- und gruppenspezifisch und nach Lesestoffen zu quantifizieren
versuchen. Das Diagramm auf S. 581 ("Schaubild: Methodische
Vorgehensweise") zur Veranschaulichung der "Vorgehensweise",
wirft in seiner starken Schematisierung allerdings mehr Fragen auf, als es zu
erklären vorgibt.
"Schriftlichkeit" wird hier definiert über die
Gesamtzahl der (statistisch erschlossenen) Drucke/Handschriften; auf der
rechten Seite des Diagramms wird der quantitativen Grundlage in mehr
verwirrender als klärender Weise über Kästchen und
Pfeilverweise "Leseinteresse" zugeordnet. Dieses Diagramm
spiegelt (wohl unfreiwillig) den Haupteinwand, den man gegen Neddermeyers
Vorgehensweise vorbringen kann, nämlich die Lücke zwischen
quantitativer Methodik und weitreichenden qualitativen Hypothesen, die sie
stützen soll.
Nicht "auf das >halbe Buch< genau (S. 48)"
Zum Einsatz statistischer Verfahren
Der zweite Teil bietet auf über 250 Seiten Diagramme und
Tabellen, weiter sind in den ersten diskursiven Teil zahlreiche Tabellen zur
Untermauerung der Thesen eingestreut. Daher soll im Folgenden ohne die
Ergebnisse (zusammengefaßt S. 538-553) im Einzelnen zu diskutieren
nach dem Einsatz der statistischen Verfahren gefragt werden.
Von welcher Qualität sind die (mithilfe der
Statistik) zu überprüfenden Hypothesen?
Die Hypothesen sind nicht immer klar und explizit formuliert.
Teilweise sind sie in der Form von Fragenkatalogen angegeben (z.B. S. 34 u.
309), die für ihre Überprüfung mit statistischen Testverfahren
notwendige Operationalisierung wird jedoch nicht explizit gemacht. Inwiefern
z.B. besteht eine Korrelation zwischen dem (nicht operationalisierten)
>Leseverhalten< und den zumindest im Prinzip quantitativ erfaßbaren
Auflagenzahlen und -höhen? Unklar bleibt im der Regel auch, welche
Prämissen in die Hypothesen (bzw. Fragen) eingehen; so wird auf S. 309
eine "Ablösung" der Skriptorien durch die Offizinen ohne
Angabe von Gründen unterstellt. Dies betrifft auch so zentrale Thesen
wie die des >Manuskriptzeitalters< (S. 190) oder das Problem von
Kontinuität vs. Bruch (S. 452).
Wie ist die Datenbasis in quantitativer und
qualitativer Hinsicht zu beurteilen?
Daß die Datenlage alles andere als unproblematisch ist,
wird vom Autor auf S. 47ff. konzediert. Insofern stellt er mit dem dort
zitierten Leitmotto von Gerhard Botz:
Zu messen, zu zählen und zu rechnen, ohne eine
genaue Vorstellung davon zu haben, was und zu welchem Ziel eigentlich
quantifiziert wird, erbringt auch in der Geschichte nichts.
seine Vorgehensweise selbst in Frage. Hinzu kommt, daß
er in seine Untersuchung Daten einbezieht, die teilweise als überholt
anzusehen sind, und die Datenquellen darüber hinaus insgesamt eine
große Heterogenität aufweisen. Die ausgewerteten Quellen beruhen
zudem auf traditionellen Klassifikationen, die nicht mit den vom Autor
bevorzugten übereinstimmen. Im einleitenden Teil trifft er u.a. unter
Berufung auf McLuhan und Giesecke eine Unterscheidung von >Buch< und
>Handschrift<, die so durchaus problematisch ist und in dieser Form wohl kaum
von den meisten Autoren der Datenerhebungen zugrundegelegt wurde bzw. werden
konnte. Weiterhin ist zu fragen, inwiefern die (aus Gründen der
Datenverfügbarkeit) vorgenommene Einschränkung auf das Reich
für die Inkunabelzeit überhaupt sinnvoll und zulässig ist.
Verf. versucht die Heterogenität der Quellen wenigsten
teilweise auszugleichen, indem er immer wieder neuere Literatur mit
Einzelergebnissen heranzieht und in die Datengrundlage einbaut. (Dies
führt u.a. auch zur Aufschwellung des Literaturverzeichnisses, das rund
2000 ! Titel aufweist.) Ob im Einzelnen aber wirklich sorgfältig
gearbeitet wurde, ist fraglich.
Stichprobenhaft wurde die Tabelle IV (S. 753ff.: Bekannte
Auflagenhöhen) für die Einträge zu Regiomontans Kalendern
(immer S. 755: "Calenderium" statt "Calendarium")
überprüft. Unter dem Jahr 1474 werden zwei und unter 1476 drei
(deutsche) Regiomontanus-Kalender aufgeführt, sämtlich als
"Holztafeldrucke" bezeichnet. Bei Ernst Zinner (Geschichte und
Bibliographie der astronomischen Literatur in Deutschland zur Zeit der
Renaissance. Stuttgart 1964) findet sich aber:
Nr. 46: Kalender 1475-1531, lat., Nürnberg: Regiomontan
1474 (Hain 13775)
Nr. 47: Kalender 1475-1531, dt., Nürnberg: Regiomontan
1474 (1. Fassung, Hain 13784)
Nr. 48: Kalender 1475-1531, dt., Nürnberg: Regiomontan
1474 (2. Fassung, Hain 13785)
Nr. 66: Kalender 1475-1531, dt., Nürnberg: Hans Sporer,
um 1476 (Holztafeldruck der 2. Fassung)
Nr. 67: Kalender 1475-1531, dt., Nürnberg: Hans Sporer,
um 1476 (Holztafeldruck der 2. Fassung)
Nr. 68: Kalender 1475-1531, dt., Nürnberg: Hans Sporer,
um 1476 (Holztafeldruck der 2. Fassung)
Zinner, auf den sich auch Neddermeyer als Quelle bezieht,
nennt also sechs Drucke, nicht fünf, zudem handelt es sich bei den
Nummern 46 bis 48 nicht um Holztafeldrucke, sondern um typographische Drucke
aus Regiomontans Offizin. Dies ist nicht nebensächlich, da Neddermeyer
Holztafeldrucke ausdrücklich aus der Statistik ausschließt. Ebenso
wird die Quelle der geschätzten Auflagenhöhe von 1000 nicht offen
gelegt. Fußnote 21, die hier Aufschluß geben soll(te), nennt
Zimmer-Nummern, die z.T. gar nichts mit Regiomontan zu tun haben.
Dies erschüttert nicht nur das Vertrauen in die
Stichhaltigkeit der statistischen Ergebnisse, sondern auch zu den zahlreichen
Tabellen und Listen zu Einzelproblemen, die u.U. für eine erste
Orientierung hilfreich sein könnten.
Wie sind die statistischen Methoden zu
beurteilen?
Das Inventar der statistischen Methoden bleibt auf die
deskriptive Statistik beschränkt, das statistische Instrumentarium ist
traditionell. Hinzu treten nicht unproblematische Hochrechnungen. Auf S. 69
wird z.B. ein Faktor 15 als Verlustrate angegeben; die Begründung
"hauptsächlich wegen der größeren Anschaulichkeit"
ist aber wohl kaum als stichhaltig zu bezeichnen. Allgemein fällt auf,
daß das Datenmaterial weitreichend interpretiert wird, wo doch strikte
statistische Testverfahren einschließlich einer Fehlerbetrachtung
eine solche ist nirgendwo zu finden einzusetzen gewesen wären
wären.
Oder doch auf das >ganze Buch< genau?
Ein verpaßter Paradigmenwechsel?
Nicht auf das >halbe Buch< genau (s.o.) sollte hochgerechnet
werden: Aber wie sind dann Tabellen zu bewerten wie z.B. S. 191
("Entwicklung der Handschriftenproduktion in den Reichsregionen"),
in denen ein errechneter (hochgerechneter) Wert für die Gesamtproduktion
aller Manuskripte mit 1.901.733 angegeben wird? Zugegeben, damit sind >ganze
Bücher< gemeint, nicht >halbe<, aber es steht doch zu befürchten,
daß nachdem die absoluten (und die dazugehörigen Prozentziffern)
nun einmal in der Welt sind , diese immer weiter tradiert werden, denn es ist
nur zu menschlich, es gern ganz genau wissen zu wollen, und auch
Wissenschaftler sind nur Menschen. Robert Escarpit hat
dieses Bedürfnis anschaulich beschrieben: 1
Bibliometrics imply that something is measured, and
certainly, if I look back twenty five years and try to recall what was the
main motivation which launched me on the trail of what I then called the
sociology of literature, I must recognize that it was the desire to measure
things instead of simply making impressionistic comments about literary
works. There is no doubt I was trying to make myself secure. […] I was
seeking intellectual safety in numbers, i.e. in quantification and
measurement. The truth is as I soon found out that the ground was even
more slippery in the quantitative approach than in conventional literary
criticism."
Die französische Leserforschung hat inzwischen einen
Paradigmenwechsel von der bibliographischen Statistik (die seit den sechziger
Jahren bevorzugt wurde) zur Erforschung der individuellen Lesepraktiken
vollzogen. Henri-Jean Martin hat diesen im "Leipziger Jahrbuch zur
Buchgeschichte" (1991, S. 31ff.) u.a. mit einer methodischen Kritik der
Bibliometrie begründet, und Roger Chartier und Guglielmo Cavallo haben
in der Einleitung zum kürzlich erschienenen Sammelband "Die Welt
des Lesens" (1999, 12 ff.) die Wende zu den geschriebenen
Lesewörtern bekräftigt. (Die beiden erstgenannten Titel fehlen
übrigens im umfangreichen Literaturverzeichnis des Verf.)
Statistische Beschreibungsverfahren und Methoden sollen hier
nicht generell in Frage gestellt werden. Es geht in dieser Kritik lediglich
um die Frage der Formulierung von Hypothesen, ob die angestellten
Rechenexempel tatsächlich zur Beweisführung geeignet sind sowie um
die Validität des zugrundeliegenden Datenmaterials. Hans-Jörg
Künast (‚Getruckt zu Augspurg'. Buchdruck und Buchhandel in Augsburg
zwischen 1468 und 1555. Tübingen 1997) 2 sich in seiner vorbildlichen Studie
ebenfalls statistischer Methoden bedient, dies aber anhand von ihm
erarbeiteten und geprüften Materials, das eine statistische Deskription
in Diagrammen und Grafiken erfährt. Die Ergebnisse werden in einen
Interpretationsrahmen integriert, der genau das beinhaltet, wonach in der
Statistik gefragt wurde.
Nach Martin "befindet sich die bibliographische
Statistik noch in der Phase der ersten Gehversuche"; seine Hoffnung
setzt er u.a. auf "rechnergestützte Kataloge" (ebd. S. 33).
Die beste computergestütze Auswertung ist aber nur so gut wie die
digitalisierten Daten: auch wenn Programme wie "Excel" es leicht
machen, Tabellen, Diagramme und Grafiken in erstaunlicher Vielfalt zu
generieren.
Prof. Dr. Günther Görz
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
Informatik (Künstliche Intelligenz)
Haberstr. 2
D-91058 Erlangen
Prof. Dr. Ursula Rautenberg
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
Buchwissenschaft
Harfenstr. 16
D-91054 Erlangen
Ins Netz gestellt am 05.06.2001
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Anmerkungen
1 Robert Escarpit: Methods in
reading research. In: Studies on research in reading and libraries. Hrsg. v.
IFLA Round Table on Research in Reading. München u.a. 1991, S. 2.
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2 Vgl. die Rezension von Ursula Rautenberg:
http://iasl.uni-muenchen.de/rezensio/liste/rautenbe.htm zurück
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