Regener über Daiber: Wissenschaft über dem Nebelmeer

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Ursula Regener

Wissenschaft über dem Nebelmeer

Kurzrezension zu
  • Jürgen Daiber: "Experimentalphysik des Geistes" – Novalis und das romantische Experiment. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001. 336 S. Geb. DM 98,-.
    ISBN 3-525-20811-1.


Der Titel und das Titelbild (Caspar David Friedrichs Wanderer entdeckt über dem Nebelmeer eine Newtonsche Skizze) lassen aufmerken, versprechen sie doch über den Blick auf die Naturwissenschaft für die vielfach erklommenen Berge der deutschen Literaturwissenschaft einen hierzulande unübliches Steigeisen. Der Horizont, der hierüber erschlossen wird, stellt am Ende nicht weniger in Frage als die blaublumige Autonomie eines mitten in der >Kunstperiode< angesiedelten literarischen Œuvres.

Jürgen Daibers Studie verfolgt drei Ziele, denen sich die Novalis-Forschung bisher nur sporadisch und unsystematisch genähert hat. Sie unterzieht den Begriff des Experiments in den naturwissenschaftlichen Studien und literarischen Produktionen Friedrich von Hardenbergs endlich der noch ausstehenden umfassenden Analyse. Sie dokumentiert darüber hinaus die Einbettung des Experiments bei Novalis in den literarhistorischen Kontext seiner Epoche, der Frühromantik. Und sie bietet eine Darstellung der historischen Entwicklung des Begriffs Experiment, der seine spezifische Verwendung im Verstehenshorizont der Zeit nachvollziehbar macht. Diese Untersuchungsziele werden in vier Kapiteln und einem Anhang bearbeitet.

Gedankenexperimente

Die Einleitung kreist den Begriff des Experiments ein. Weder der von den Geisteswissenschaften bevorzugte unbestimmte Gebrauch des Begriffs im weitesten Sinne von >Versuch< noch die von den Naturwissenschaften klar umrissene Vorstellung einer empirischen Versuchsanordnung im Dienste der Veri- oder Falsifikation einer Hypothese treffen das von Schlegel oder Novalis unter "Experimentalphysik des Geistes" Vorgestellte. Mithilfe des wissenschaftstheoretischen Begriffs des "Gedankenexperiments" von Ernst Mach findet der Verfasser die begriffliche Schnittstelle zwischen den von C. P. Snow sogenannten "zwei Kulturen". Für den Naturwissenschaftler ist die Hypothesenbildung inklusive der gedanklichen Vorbereitung des Versuchs das "Gedankenexperiment", für den Literaten gibt es nichts darüber hinaus. Beiden geht es aber um neue Erkenntnisse. Der Künstler muß sich im Gegensatz zum Naturwissenschaftler hierbei aber nicht auf die Realität beschränken.

Novalis als Wissenschaftspoet

Im Anschluß an die neuere Forschung, die Hardenberg für den "neben Goethe naturwissenschaftlich kompetentesten Dichter jener Zeit" hält (S. 45) wird alles unternommen, um Novalis aus der Aura des "Dichters der blauen Blume" herauszulösen. Dazu belegt Jürgen Daiber im ersten Kapitel dessen enge Verbindungens zum naturwissenschaftlichen Experiment. Anhand der Auswertung der bis dato nur in Regestenform veröffentlichten Salinenschriften (Kap. 1.1.2 + 1.3) wird betont, daß Novalis im Rahmen seiner Ausbildung und seiner Berufstätigkeit als Salinenassessor eigene naturwissenschaftliche Experimente ausführt, die dem empirischen Exaktheitsideal der Aufklärung entsprechen. Dabei steht er in engem Kontakt mit den wichtigsten Experimentatoren seiner Zeit (Kap. 1.2.3 + 1.4). Daß aus dieser berufspraktischen Perspektive direkte Zugänge zu Novalis' poetischer Tätigkeit erwachsen, wird im Verlauf der Lektüre immer deutlicher.

Frühromantisches Experimentieren

Zunächst aber legt der Verfasser dar, daß das naturwissenschaftliche Exaktheitspostulat sich literarhistorisch erstmals bei den Frühromantikern niederschlägt. Erst hier ist von Experimenten in der Dichtung die Rede, erst hier werden Verfahrensbestandteile des von ihnen verwendeten Experimentbegriffs aus den Naturwissenschaften bezogen und die Übertragung des Begriffs in die literarische Sphäre theoretisch gesichert. Als Bezugssysteme bietet die Studie Abraham Gottlob Werners Mineralogie, Fichtes Wissenschaftslehre und die zeitgenössische Mathematik in Form der kombinatorischen Analysis und des Infinitesimalkalküls (das zu Novalis' "Experimentcalcul" mutiert) an. Vor allem anhand der Notizen des Allgemeinen Brouillon der Freiberger naturwissenschaftlichen Studien und der Salinenschriften untersucht Kapitel 2 die Prozesse der Übertragung von Verfahrenselementen des naturwissenschaftlichen Experiments in die Sphäre der Literatur. Auf theoretischer Ebene geht Novalis von seinem Studium der Schriften Kants und Schellings aus. In ihnen findet Hardenberg die Aufhebung der vom naturwissenschaftlichen Experimentator strikt eingehaltenen Grenze zwischen Subjekt und Objekt angedeutet, die spezifisch für seinen erweiterten Experiment-Begriff sein wird (Kap. 2.4).

Hardenbergs "Zauberstab"

Wesentliches Instrument der Übertragung naturwissenschaftlicher experimenteller Verfahrensbestandteile hinein in die Dichtung ist für Hardenberg der "Zauberstab der Analogie" (Novalis: Schriften, Bd. III, S. 518). Die Analogie, die auch das naturwissenschaftliche Denken der Zeit bestimmt, wird als beherrschendes Stilmittel seines Enzyklopädistik genannten Projekts einer Poetisierung der Wissenschaften herausgearbeitet (Kap. 2.2). Als Gegenstände der Übertragung derartiger Strukturformen des Experiments an der materiellen Natur zu Gedankenfiguren einer inneren Experimentation bestimmt Jürgen Daiber: die galvanische Kette, die Reihe (Mineralienreihe, mathematische Reihe) und die chemische Mischung.

Kette, Reihe und Mischung in der Poesie

In Kapitel 3 und 4 schließlich entwickelt er an Novalis' poetischen Texten, auf welche Weise dieser seine Beschäftigung mit dem naturwissenschaftlichen Experiment für seine Literatur fruchtbar macht. Kapitel 3 zeigt anhand einer formalen Analyse des Romans Die Lehrlinge zu Sais, wie das in den naturwissenschaftlichen Experimenten und in der Enzyklopädistik erprobte Strukturprinzip der netzwerkartig zu denkenden Reihe zum beherrschenden Gestaltungsprinzip der Lehrlinge (und dessen "Axe" das Märchen von Hyazinth und Rosenblüte) wird. Kapitel 4 belegt für den Roman Heinrich von Ofterdingen die Übertragungsvorgänge experimenteller Operationen innerhalb der galvanischen Kette und der chemischen Mischung zu Gedankenfiguren einer inneren, ‚poetischen' Experimentation und erschließt damit insbesondere für das vielinterpretierte eingelegte Klingsohr-Märchen, wo mehrfach ein erstarrter Körper durch eine galvanische Kette zu neuem Leben erweckt wird, ein überzeugendes Interpretationsmodell. Das chemische Verfahren der Mischung nutzt Hardenberg im Ofterdingen als Mischung der Geschlechter, dem eine Verflüssigung (Mathildes Tod im Wasser) vorausgehen muß. Auf formaler Ebene kommt es zu einer Vermischung von Traum und Welt, der als Zielvorgabe bei Novalis die "symbolische Construction der transscendentalen Welt" innewohnt.

Naturwissenschaft für Geisteswissenschaftler

In einem gerade für Geisteswissenschaftler äußerst instruktiven Anhang, der an die einleitende Begriffsklärung anknüpft, erfolgt die historische Herleitung des Experiment-Begriffs von der Antike über die Scholastik hin zu den ersten "modernen" Experimentatoren (Galilei, Bacon, Newton). Neben einer diachronischen Darstellung der Entwicklung des Experiments enthält dies Kapitel eine Auflistung der Multiplikatoren (Buchpublikationen, Zeitungen, Zeitschriften) der experimentellen Methode, die für dessen Popularisierung in der kulturellen Öffentlichkeit des 18. Jahrhunderts verantwortlich zeichnen. Als literarische Belege werden Lessing und Wieland angeführt, Schillers medizinische Dissertation sowie seine frühen Gedichte hätten ebenfalls herangezogen werden können.

Fazit

Das, was der Verfasser im Fazit schließlich als Kern der von Novalis entwickelten "Experimentalphysik des Geistes" definiert, nämlich die "Fähigkeit des Bewußtseins, nach Analogien zu fahnden, unterschiedliche Bausteine der Wirklichkeit miteinander zu kombinieren, aus sich herauszutreten, um die äußeren Daten der Objektwelt zu erfassen und dabei gleichzeitig bei sich selbst zu bleiben, um diese äußeren Daten mit den Innenbildern des Subjekts zu koppeln und in den Prozeß der Erkenntnis zu integrieren" (S. 261) gilt in hohem Maße auch für die von ihm vorgelegte Studie. Sie überzeugt, egal ob ihr Gegenstand gerade naturwissenschaftlich, philosophisch, poetologisch oder poetisch ist, durch präzise sprachliche Annäherungen an komplexe Sachverhalte und ein Höchstmaß an Verständlichkeit. Wo Innovation sich nicht selbstbespiegelnd Blüten treibt, sondern ihr Potential aus der Berücksichtigung ungewohnter interdisziplinärer Wissensverbindungen gewinnt, beginnt auch der Geist des Lesers zu experimentieren.

PD Dr. Ursula Regener
Universität Augsburg
Universitätsstr. 2
D-86159 Augsburg

Ins Netz gestellt am 26.6.2001
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