Reinalter über Maurice: Freimaurerei um 1800

Helmut Reinalter

Freimaurerei als Schule der Vernunft

Kurzrezension zu

  • Florian Maurice: Freimaurerei um 1800. Ignaz Aurelius Feßler und die Reform der Großloge Royal York in Berlin. (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 5) Tübingen: Max Niemeyer 1997. 441 S. Kart. DM 196,-. ISBN 3-484-81005-X.



Auf breiter Quellenbasis aufgebaut, untersucht der Verfasser in der vorliegenden Darstellung den masonischen Reformer Feßler und die Neuerungen in der Großloge Royal York in Berlin. Von 1796 bis 1802 reformierte Feßler die Rituale und die Verfassung der Berliner Großloge, womit er über regionale Grenzen der Freimaurerei hinaus bekannt wurde.
Die vorliegende Arbeit ist vorwiegend geistesgeschichtlich orientiert und leistet auch mit ihren sozialgeschichtlichen Bezügen einen wichtigen Beitrag zur Kulturgeschichte Berlins um 1800.


Entwicklung der Freimaurerei im 18. Jahrundert

Maurice leitet sein Thema mit einem historischen Grundriß über die Entwicklung der Freimaurerei im 18. Jahrhundert ein. Der historische Teil ist sehr breit angelegt, weil er viele Formen masonischen Lebens enthält, wie z. B. die Bereiche der Geselligkeit und Politik, der Religion, der inneren Verfassungen und der öffentlich-rechtlichen Eingliederung.

Dem Verfasser geht es am Beispiel Feßlers um eine Integrierung des Themas in die Gesamtperspektive der historischen Forschung. Das zunehmende Interesse der Fachhistorie am Thema der Freimaurerei führt Maurice darauf zurück, daß die Logen als wesentliches Segment der Gesellschaftsgeschichte des 18. Jahrhunderts anzusehen sind.


Einfluß der Freimaurerei auf den Aufklärungsprozeß

In der Einführung zu diesem Buch kritisiert Monika Neugebauer-Wölk allerdings in diesem Zusammenhang die Tatsache, daß die Substanz der Freimaurerei, besonders die Gestaltung der Grade, die Entwicklung der Systeme, die gesamte "Sinnhaftigkeit" masonischer Esoterik und deren Einfluß auf den Aufklärungsprozeß ausgeblendet wurden.

Diese Kritik trifft nur zum Teil zu, da es heute fundierte Arbeiten nicht nur über das Gradsystem der Freimaurerei und die Hochgrade, sondern auch über das Verhältnis von Aufklärung und Esoterik gibt, die die hier erwähnten Dimensionen der Freimaurerei sehr wohl zum Thema gemacht haben. Hier wären vor allem neuere Forschungen zur freimaurerischen Humanität, Anthropologie, Ritualistik und Symbolik zu nennen.


religiös inspirierte Ethik der Freimaurerei

Mehrfach werden diese Themenaspekte auch unter dem Begriff der "neuen Utopie" der Freimaurerei zusammengefaßt. Diese Utopie, die u. a. auch mit der universellen Ethik der Freimaurerei gleichgesetzt wird, sollte auf Werten aufgebaut sein, die nicht von religiösen Vorstellungen losgelöst betrachtet werden können. Diese Religiosität ist eine undogmatische, intuitive und individuelle Ahnung des "Göttlichen", die im masonischen Ritual erlebbar gemacht und nur in Symbolen ausgedrückt werden kann. Die hier erwähnte Ahnung wird innerhalb der Freimaurerei am Beispiel der jüdischen Mystik der Kabbala und ihrer Beziehung zur jüdischen Religion erklärt.

Das Menschenbild der Freimaurerei, eine philosophische Anthropologie, verlangt die Verfolgung einer ethischen Zielsetzung, die sich in initiatischer Weise am Transzendenten orientiert. In ihrer Idealvorstellung ist die Freimaurerei eine menschliche Lebensform, eine Kunst der Lebensphilosophie, religiös inspiriert und in Symbole verhüllt. Humanität und Menschlichkeit sind für die Freimaurerei nicht bloße Werte, die während der rituellen Arbeit formelhaft nachgesprochen werden, sondern vor allem konkrete Praxis.1


Zentralbegriff der Vernunft

Auch die Darstellung von Maurice reiht sich in diese Traditionslinie ein. Der Ansatz des Verfassers ist geprägt von einer rationalistischen Interpretation, die sich wohltuend von anderen, insbesondere von hermetisch-esoterischen Auslegungen abhebt. Bei seiner Deutung orientiert er sich an Feßler selbst, der seine eigene Vorstellung von Freimaurerei nach einer an Spinoza ausgerichteten Zwischenphase vor allem an Kant anlegte. Feßlers Zentralbegriff als Variante der Freimaurerei ist in der Tat die Vernunft, die von Maurice entsprechend herausgearbeitet wird. So ist deutlich erkennbar, warum Feßler als einer der ersten Freimaurer die naturrechtliche Vertragstheorie zur Grundlage einer Logenverfassung machte.

Ist zwar die Deutung der Freimaurerei als Schule der Vernunft aus der Sicht des Verfassers bei Feßler bestimmend, so wird trotz dieser Präferenz die masonische Vernunftvorstellung nicht verkürzt. Maurice sieht in den Feßlerschen Hochgradritualen eine Art "Liturgie eines rationalistischen Kultes" und interpretiert deren Ziel, die Freimaurerei im Gegensatz zu den traditionellen Konfessionen zu einer Kirche des "Vernunftglaubens" zu stilisieren. So wird der Inhalt freimaurerischer Rituale nicht als störendes Element empfunden, sondern in den Mittelpunkt masonischer Substanz gerückt.

In diesem Zusammenhang stellt sich allerdings die Frage, ob hier die freimaurerische "Einübungsethik", ein Kernbestand masonischer Ritualistik, mit ihren einzuübenden Inhalten nicht zu einer Prinzipienethik verändert wird, wenn man den Einfluß der Kantischen Philosophie in Betracht zieht. Feßlers Konsequenz, seine Ritualreform, resultiert aus der zeitgenössischen Kritik am praktizierten Ritual, das damals zur Posse verkam. In der Interpretation von Maurice bleibt bei Feßlers "sensualistischer Liturgie" nur mehr ein gradweiser Unterricht, der die Funktion als Initiationsmittel in der Freimaurerei übersieht.


Außenbeziehungen der Freimauerei

Auch die Außenbeziehungen der Freimaurerei werden in der vorliegenden Untersuchung dargestellt. Bei Maurice wandelt sich die Freimaurerei von einer Schule der Vernunft zu einer "Schule der Gesetzmäßigkeit". Er vertritt die Meinung, daß sich die scharfe Trennung in der Freimaurerei von Innen und Außen nicht aufrecht erhalten lasse, wie auch die grundsätzliche Opposition von Moral und Staat nicht länger behauptet werden könne (wie z. B. noch bei Reinhart Koselleck). Im Verhältnis der Freimaurerei zum Staat und Absolutismus erweist sich deren Haltung als ein Indikator für das jeweilige Staatsverständnis. Dieser wichtige Aspekt wird im Buch von Maurice überzeugend herausgearbeitet.


Thematischer Aufbau

Die Arbeit ist auch mit der Auswahl der thematischen Schwerpunkte sehr gut gegliedert. Sie beginnt mit der allgemeinen Entwicklung der deutschen Freimaurerei im 18. Jahrhundert, läßt dann Feßlers Konzeption der Freimaurerei folgen, thematisiert den zeitgenössischen Diskurs über das Verhältnis der Freimaurerei zum absolutistischen Staat und bringt dabei auch Feßlers spezifischen Beitrag dazu ein.

In den weiteren Kapiteln folgen die Logenreform, ihre Motive und Ziele am Beispiel der Feßlerschen Hochgrade, und die politischen Entwicklungen, insbesondere die Analyse von Feßlers Versuch einer kritischen Geschichte der Freimaurerei, in der die problematische These vertreten wurde, daß die Freimaurerei durch die Tradition einer esoterischen Lehre Jesu geprägt worden sei.

Im letzten Teil seiner Darstellung geht es dem Verfasser um die Wechselwirkungen zwischen Theologie und den Geheimgesellschaften im ausgehenden 18. Jahrhundert. Drei Konzeptionen bestimmen dabei Feßlers Verständnis der Freimaurerei:

  • der Begriff des Reiches Gottes auf Erden,
  • die Vorstellung von Jesu als Geheimbündler
  • und die Erlösung durch eine esoterische Tradition.

Maurice verliert aber trotz starker Betonung der Ambivalenz der Aufklärung, der Mystik und Religion, nie den realen Boden der Wissenschaftlichkeit, wenn er hervorhebt, daß die Freimaurerei ein Raum sei, in dem vieles möglich erscheint wobei dieser Raum nicht undefiniert ist, weil er wieder-erkennbare Strukturen und Regeln enthält.


Weiterführende Fragen

Die vorliegende, sehr gründliche Arbeit eröffnet einige neue Forschungsperspektiven, die bei weiterer Vertiefung die Frage klären könnten, was die Kategorie der Vernunft im Rahmen der Selbstorganisation der Freimaurerei und ihren Systemen bedeutet und welches Verhältnis sie zur Esoterik und hermetischen Tradition aufweist. Damit könnte vielleicht der tradierte Gegensatz zwischen exoterischer und esoterischer Deutung der Freimaurerei überwunden werden.

Diejenigen Forscher/innen, die stärker den esoterischen Charakter der Freimaurerei betonen, dürfen allerdings die große Bedeutung des Aufklärungs- und Vernunftpotentials der Freimaurerei im Sinne einer "reflexiven Aufklärung" nicht übersehen, weil sie sich sonst in eine Abseitsstellung begeben, die dem Wesen der Freimaurerei nicht gerecht werden kann.


Prof. Dr. Helmut Reinalter
Universität Innsbruck
Institut für Geschichte
Innrain 52
A-6020 Innsbruck

Ins Netz gestellt am 09.11.2000.

Copyright © by the author. All rights reserved.
This work may be copied for non-profit educational use if proper credit ist given to the author and IASL online.
For other permission, please contact IASL online.


Weitere Rezensionen stehen auf der Liste neuer Rezensionen und geordnet nach

zur Verfügung.

Möchten Sie zu dieser Rezension Stellung nehmen? Oder selbst für IASL rezensieren? Bitte informieren Sie sich hier!


[ Home | Anfang | zurück ]



Anmerkungen

1Vgl. dazu: Helmut Reinalter: Die Freimaurer. München 2000, bes. S. 32ff.; Edmund Runggaldier: Philosophie der Esoterik. Stuttgart 1996; Monika Neugebauer- Wölk (Hg.): Aufklärung und Esoterik. Hamburg 1999; Giuliano di Bernardo: Die Freimaurer und ihr Menschenbild. Wien 1989; ders.: Die neue Utopie der Freimaurerei. Wien 1997; Rudolf Schlögl: Alchemie und Avantgarde. Das Praktischwerden der Utopie bei Rosenkreuzern und Freimaurern. In: Die Politisierung des Utopischen im 18. Jahrhundert. Tübingen 1996, S. 117ff. zurück