- Jochen Hengst: Ansätze zu einer Archäologie der Literatur. Mit
einem Versuch über Jahn
ns Prosa.
(M&P Schriftenreihe für Wissenschaft und Forschung) Stuttgart,
Weimar: J.B. Metzler 2000.
522 S. Kart. DM 70,-
ISBN 3-476-45249-2.
Notwendige Konstrukte
Die Literaturwissenschaft findet ihre Gegenstände nicht
bereits vor, sondern konstruiert sie. Das, was sie als >Werk< oder >Autor<
bezeichnet, ist nicht fraglos gegeben. Unstrittig ist heute, anders als noch
vor dreißig Jahren, daß die Literaturwissenschaft auf der
Grundlage von theoretischen Reflexionen ihre Gegenstände als Konstrukte
auszuweisen hat. Und damit beginnt eine Reihe von Problemen, die vielleicht
dort besonders augenfällig werden, wo diese Konstrukte unmittelbar ins
Praktische zu vermitteln sind: in der Editionsphilologie.
In den neueren Ausgaben von Hölderlin, Nietzsche oder
Kafka, um nur einige deutschsprachige Projekte zu nennen, wurden
herausgeberische Entscheidungen getroffen, deren Folgen weit in
literaturtheoretische Fragestellungen hineinreichen. Die Herausgeber
mußten für ihre Arbeit einen Werkbegriff festlegen oder auch
verwerfen und dabei meist ein kompliziertes Verhältnis von
Entwürfen, Vorstufen, Varianten und >autorisiertem< Text entwirren: Was
ist ein einzelnes Werk und was das Gesamtwerk eines Autors? Wo verlaufen die
Grenzen von beiden? Gehört die Wäschequittung im Nachlaß zum
Werk oder nicht? Gehören zum Beispiel bei Nietzsche die sogenannten
Wahnsinnszettel, die Korrekturen, die Heinrich Köselitz ausführte,
die Schreibübungen aus der Zeit des Jenaer Klinikaufenthalts zum Werk
oder nicht? Ein expandierter Begriff des Gesamtwerks kann alle möglichen
Schreibspuren absorbieren, aber dann sind immer noch innerhalb dieses
Binnenraums bestimmte Grenzen zu ziehen. Was ist ein einzelnes Werk, wenn das
Schreiben stets über die Ränder der Bücher hinausreicht und in
Notizen, Briefe und Revisionen des Geschriebenen ausfranst?
Solche Probleme der Editionsphilologie sind auch eine
Schauseite von literaturtheoretischen Fragestellungen, wie sie nicht zuletzt
von der Diskursanalyse angestoßen wurden. "Die
Grenzen eines Buches", erklärt Michel Foucault in der
Archäologie des Wissens, "sind nie sauber und streng
geschnitten: über den Titel, die ersten Zeilen und den Schlußpunkt
hinaus, über seine innere Konfiguration und die es autonomisierende Form
hinaus ist es in einem System der Verweise auf andere Bücher, andere
Texte, andere Sätze verfangen: ein Knoten in einem Netz." 1 Foucaults hat daraus die Konsequenz gezogen,
statt literarische Werke zu interpretieren, >Netze<, und das heißt
Diskurse, zu analysieren; die entscheidende Frage, ob und wie die Literatur
als ein eigener Diskurs zu konstruieren sei, hat er jedoch
offengelassen.
Das Werk und der Nachlaß
In all diese Fragen ist Jochen Hengsts Hannoveraner
Habilitationsschrift Ansätze zu einer Archäologie der Literatur.
Mit einem Versuch über Jahnns Prosa verwickelt. Hans Henny Jahnn
hat, laut eigener Aussage, "mengenmäßig im Alter zwischen 14
und 18 Jahren Jahren mehr geschrieben als im Alter zwischen 19 und 57
Jahren" (S.314) und darüber hinaus einen "Berg von
Abgesondertem und Ausgeschiedenem hinterlassen" (S.15). Diesen
Nachlaß hat Hengst gesichtet, und im Zuge dessen gelangte er zu dem
Schluß, daß eine Literaturtheorie fehlt, die das Verhältnis
von Nachlaß und Werk klären könne.
Deshalb schlägt er vor, eine von ihm als
"Literaturarchäologie" bezeichnete Theorie auszuarbeiten, zu
der er erste Prolegomena sowie ein Anwendungsbeispiel geben will. Aus dem
Nachlaß von Jahnn möchte er das "Andere des Werks"
(S.17) rekonstruieren. Dazu sei die "Erweiterung des nüchternen
Bibliotheksphänomens Nachlaß" (ebd.) zu einem
"virtuellen Archiv" (S.15) erforderlich, das wiederum ein
"virtuelles Werk" (S.17) einschließe; dieses virtuelle Werk
sei aber nicht dem empirischen Autor zuzurechnen, sondern einem Konstrukt,
das Hengst als >Jahnn< bezeichnet.
Ontologische Analyse des Imaginären
Mit seiner Literaturarchäologie knüpft Hengst vor
allem an jene Schriften von Foucault an, die vor Überwachen und
Strafen entstanden sind und in denen der Entwurf zu einer
"Literaturontologie" (S.19) angelegt sei. Foucaults
Einleitung (1954) zu der französischen Übersetzung von Ludwig
Binswangers Traum und Existenz ein Text, dessen Neuauflage Foucault
untersagt hat 2 versteht Hengst als eine
"ontologische Analyse" des Imaginären: Dieses sei eine
eigenständige Dimension des Seins, unterliege einer dezentralen Ordnung,
entziehe sich dem intentionalen Subjekt und sei "eine offene sich selbst
inszenierende Grundfiguration des modernen Denkens" (S.86). Insofern
sich das Imaginäre im Medium der Schrift äußere, entstehe
das, was gemeinhin Literatur heiße; die Aufgabe der
Literaturarchäologie soll sein, formale Regeln anzugeben, nach denen
dieses Imaginäre der Schrift funktioniere.
Wege der Foucault-Rezeption
Damit schlägt Hengst einen anderen Weg ein als die
deutsche Foucault-Rezeption. Diese hat die Analytik des Imaginären
weitgehend ausgeblendet und sich vornehmlich auf Fragen der Machtanalyse und
Subjekttheorie konzentriert. Sie kann sich dabei durchaus auf Foucault selbst
berufen, der, wie Hengst bemerkt, einen "Richtungswechsel des
Denkens" vollzog und mit Die Ordnung der Dinge (1966) und der
Archäologie des Wissens (1969) eine Abkehr von der "Analyse
des Imaginären und dessen >rhetorischen Reichtümern<" (S.51)
einleitete. Gleichwohl muß die Diskursanalyse eine Analytik des
Imaginären nicht preisgeben. Dafür stehen zum
Beispiel im deutschsprachigen Raum die Arbeiten von Georg Christoph Tholen,
Michael Wetzel oder Annette Runte ein, die zudem zeigen, daß das
Imaginäre von (technischen) Medien induziert ist und wie es von ihnen
durchformt wird. 3
Von solchen Fragestellungen, die bei Hengst nicht diskutiert
werden, sowie >klassischen< diskursanalytischen Positionen ganz gleich, ob
sie der Literatur nun den Status eines subversiven "Gegendiskurses"
(vgl. S.111 u. 159) einräumen oder nicht , setzt Hengst seine
Literaturarchäologie ab. Anscheinend will er in der diskursanalytischen
Theorie weder einen Verbündeten erkennen noch sie als Vorarbeit für
sein eigenes Vorhaben nutzen. Statt dessen bürdet er sich auf, den
Nachweis zu führen, daß die Literatur "eine autonome Schreib-
und Seinsweise" ist, "die ihren Sinn und ihre Bedeutung
ausschließlich in sich selbst trägt" (S.219).
Hengst markiert seine Position leider in oft unnötig
polemischer Weise. Beispielsweise werden Projekte wie Jürgen Links
Literaturtheorie, die "versuchten in den 70er und 80er Jahren die
Foucaultsche Diskursanalyse für eine politische Kritik salonfähig
zu machen" (S.62), auf zehn Zeilen als "hektische[r]
Aktionismus" (S.63) abgefertigt. Anstatt die neuere Foucault-Rezeption
der letzten zehn Jahre zu diskutieren, referiert er noch einmal die
hinlänglich bekannten Positionen von Jürgen Habermas und Manfred
Frank aus den 1980er Jahren (S.50-59).
Viele der
pauschalen Urteile über den "gegenwärtige[n] epigonale[n]
Lacanismus und Diskurskritizismus" (S.47) sind ebensowenig
nachvollziehbar wie etwa die über Gilles Deleuze und Félix Guattari. 4 Und unnötig ist es schließlich
auch, die Frage nach der angemessenen Foucault-Rezeption zur
"literaturethische[n] Frage" (S.63) zu stilisieren: Folgt aus einer
diskursanalytischen Position automatisch die "Einwilligung in jene
Marginalisierung und Profanisierung der Literaturanalyse, die deren heutigen
Status im Kanon wissenschaftlicher Disziplinen und der gesellschaftlichen
Kulturlandschaft kennzeichnet"? (ebd.) Und warum ist überhaupt
darauf zu bestehen, daß der "Literaturanalyse" eine
herausragende Stellung unter den wissenschaftlichen Disziplinen zukommen
soll?
Selbstbezüglichkeit der Literatur
Hengsts Argumentation nimmt ihren Ausgang von der
"Hypothese einer sehr intimen Beziehung Foucaults zur Literatur"
(S.64), und ihre Hauptlast wird im wesentlichen von dem oft vieldeutigen
Befund getragen, daß Literatur selbstbezüglich sei (S.149
u.ö.). Foucault sei es gelungen, das "Paradigma einer dezentralen
>literarischen Seinsweise freizulegen<, die ohne auktoriales Subjekt auskam
und keiner psychologischen Beschreibung bedurfte" (S.127).
Exemplarisch sei dessen Analyse der Prosa von Raymond Roussel: "Das
Ereignis der Rousselschen Prosa bestand für Foucault also darin, […]
eine Darstellbarkeit des Imaginären entdeckt zu haben, die sich rein aus
der Selbstinszenierung literarischer Akte vollzog und dem Imaginären
einen literarischen Raum erschloß" (S.126).
Foucault selbst habe "keine kohärente
ästhetische oder literarische Theorie ausgearbeitet" (S.109); seine
"Auseinandersetzung mit der Literatur vollzog sich aber
grundsätzlich unter der Fragestellung nach einer Darstellbarkeit des
Imaginären und einer dezentralen Dimension von Wirklichkeit"
(S.111). Entsprechend interessierten Foucault "keine Fragen der
literarischen Form, des Stiles und der literarturgeschichtlichen oder
literatursoziologischen Bedeutung" (S.113). Statt
dessen setze er mit seiner Monographie Raymond Roussel 5 (1963) "zu einer Beschreibung eines Werkes an, das
kein wie auch immer geartetes Subjekt der Prosa mehr kennt, sondern sich in
>Verfahren<, der puren Praktizierung eines Technik, die eine Sprache ohne
Sinn und hintergründige Bedeutung organisiert, erschöpft"
(S.121).
Roussels Literatur sei das Beispiel "einer sich selbst
inszenierenden Sprache" (S.122). Sie inszeniere eine
"minimale wie immense Abweichung eines Wortes, ja Buchstabens
billard wird zu pillard , wobei schon der Ausdruck
>Abweichung< nur ungenau die Dimension des Aktes jener >Klangmodulation< 6 wiedergibt, die von der bloßen
schriftbildlichen Umkehrung des Buchstaben b ausgelöst wird. In
diesem >tropologischen Raum< einer identischen Sprache klafft jene kaum
vernehmbare Lücke und Leere, die das Spiel der Worte organisiert"
(S.122). Diese "minimale wie immense Abweichung eines Wortes", in
der vielleicht ein Sprachwissenschaftler das Prinzip der Ausdifferenzierung
der >langue< und mithin zwei Wörter erkennen würde, setze ein
tautologisches Spiel in Gang: Es entstehe ein "Kreis von Worten […] aus
sich selbst heraus, um sich wieder aufzulösen" (S.123).
Die Selbstinszenierung der Sprache sei nun das entscheidende
Kennzeichen moderner Literatur: Sie sei "keine bloße
Konstruktion" eines Autors, sondern "eine ontologische Figur, die
im historischen Diskurs Veränderungen unterlag" (S.141f.), und ihr
korrespondiere der Befund, daß sich "seit der Prosa Flauberts
Literatur aus Literatur konstituiert" (S.149).
Naheliegende Einwände, etwa daß die
"ontologischen Figur" einer sich selbst inszenierenden Sprache eine
metaphysische Annahme ist, die geglaubt werden kann oder auch nicht,
sollen hier hintanstehen.
Hengst versteht seine Literaturarchäologie als
"eine differenzierende Analyse" (S.218), die nur, wie er
eingesteht, "an der Schwelle zur Wissenschaftlichkeit und Formalisierung
zu operieren" (S.183) vermag, unter Verzicht auf
"ideengeschichtliche Instrumente wie Kommentar, Kritik und
Interpretation, die noch auf einen ersten hintergründigen Diskurs
unterhalb der Sprache verweisen" (S.183). Insofern spricht für die
vorliegende Arbeit, daß sie in konkrete Vorschläge mündet,
wie eine Literaturarchäologie praktiziert werden könne. Am Beispiel
von Jahnn rekonstruiert Hengst so etwas wie eine Produktionsästhetik,
die jedoch keinem intentionalen, empirischen Subjekt mehr zugerechnet werden
soll.
Das Beispiel Hans Henny Jahnn
Die literaturwissenschaftliche Forschung konnte am
Nachlaß von Autoren wie etwa Musil oder Kafka zeigen, wie deren
Schreibprozeß verlief, ob ihr Schreiben ein geduldiges Feilen an den
Formulierungen war, wie bei Musil, oder ein von nur wenigen, sofortigen
Korrekturen begleiteter Schreibstrom, wie bei Kafka. Hengst hingegen zielt in
seiner literaturarchäologischen Beschäftigung mit dem Nachlaß
von Jahnn auf die viel grundsätzliche Frage, wovon das Schreiben selbst
angetrieben werde.
Er stützt sich dabei vorwiegend auf in zwei privaten
Archiven liegende Teile des Nachlasses von Jahnn, auf deren genauere
Beschreibung in vorliegender Arbeit wohl aus pragmatischen Gründen
verzichtet werden mußte. Wünschenswert wäre, auch diese Teile
des Nachlasses der Forschung bald zugänglich zu machen.
Hengst konstruiert eine Instanz, die er als >Jahnn< bezeichnet.
Der durchgestrichene Buchstabe hat sein Vorbild in einer überlieferten
Schreibweise des Namens von Hans Henny Jahnns Großvater; auf einer
Urkunde findet sich eine Litura, die Durchstreichung des Buchstabens n
. Von Hengst wird wohl deshalb diese Schreibweise Jahnn zur Bezeichnung
des virtuellen Werks übernommen, weil sie sowohl sachlich wie formal
Aspekte zu konnotieren vermag, mit denen das Imaginäre der Schrift
bestimmt wird: Differenz zu sich selbst, Wiederholung in sich, Zirkulation
des Sinns usw.
Zwar sind von Hans Henny Jahnn wechselnde Schreibweisen seines
Namens überliefert, die vielleicht auch auf das komplizierte
Verhältnis des jungen Autors zu seiner Herkunft verweisen, und
darüber hinaus hat Jahnn selbst die verschiedenen sozialen Rollen
Schriftsteller, Orgelbauer, Gründer einer Glaubensgemeinde
unterschieden, die er eingenommen hat. Doch solche einfachen psychologischen
und biographischen Überlegungen sind mit der
literaturarchäologischen Beschreibung allenfalls vage zu assoziieren.
Hengst nährt sein Konstrukt Jahnn zwar von werkbiographischen
Informationen, will aber dessen Funktionieren nach eigenständigen
formalen Regeln erklären, die von aller (empirischen) Autorpsychologie
freigehalten sein sollen.
Die Hyperbel, so Hengst, ist die zentrale rhetorische Figur
des Schreibens in der Moderne, die dessen Selbstbezüglichkeit
organisiert und jenen stetigen Schreibstrom namens Literatur antreibt, wie er
am Beispiel von Hölderlin zu zeigen versucht. Die Hyperbel sei nicht
zuletzt deshalb die exemplarische Figur der modernen Literatur, weil sie das
System der Rhetorik überschreite und in ihr die besondere Erfahrung des
"Scheiterns" (S.302) durchscheine. Als eine der "zentralen
Makrostrukturen unserer modernen Erfahrung" (ebd.) sei die Hyperbel bei
einer Reihe von Autoren in der Moderne (Hölderlin, Roussel, Nietzsche,
Kafka oder Pessoa) nachweisbar. Wenn nun diese Makrostruktur jeweils
"auf eine Subjektivität trifft" (ebd.), entstünde dabei
"ein imaginäres Wirklichkeitsfeld" (ebd.), das sich dem
intentional schreibenden Subjekt entziehe und jenes andere, virtuelle Werk
forme.
Hyperbel ist bei Hengst vornehmlich eine Sammelbezeichnung
für eine Fülle von ganz unterschiedlichen Verfahren, die einen
"singulären Grad sprachlicher Intensität" (S.303)
herzustellen vermögen, und hierzu zählt er auch die Litura des
Namens. Das spezielle hyperbolische Verfahren, das sich speziell aus dem
Nachlaß von Jahnn erschließe, sei die Ausschreibung der Litura
des Namens Jahnn: "Das Gewahrwerden der Litura kann daher als eine Art
Urszene der Jahnnschen Prosa bezeichnet werden" (S.307). Während in
den frühen dramatischen Stücken "ein schwach ausgebildetes Ich
seiner wildwüchsigen Schreibakte Herr zu werden versucht" (S.315),
erfindet Jahnn bzw. Jahnn später Regeln, die das Schreiben stärker
ordnen und es in kommensurablere Formen überführen.
Nach einem Durchgang durch die außerliterarischen Aktivitäten Jahnns, die er
als Fortsetzung der imaginären Schrift versteht (S.350-392), wendet sich
Hengst den beiden Romanen Perrudja und Fluß ohne Ufer zu.
Jenseits jeder Diskussion der Gattungszugehörigkeit und der
literaturhistorischen Stellung der Romane wirft er die Frage auf, was diese
"Schriftgefüge" (S.407) jeweils zusammehalte.
Jahnn überführt in seinen Romanen eine
außerordentliche Vielzahl von Themen in eine komplexe
Erzählstruktur, für die eine historisch-hermeneutische
Literaturwissenschaft Parallelen bei Döblin und Joyce findet und den
Begriff Montage vorschlägt. Zu Recht fordert Hengst hier eine
differenziertere Begrifflichkeit ein, mit der die Prozessualität des
Jahnnschen Schreibens besser erfaßt werden könne. Sein eigener
Vorschlag, die Schriftgefüge als Episodenfolgen zu begreifen und nach
deren Verkettungsregeln zu fragen, führt tatsächlich weiter. Er
kann zeigen, daß eine Analyse an der Schließung und Öffnung
der einzelnen Episode ansetzen sollte; hierzu ist von der künftigen
Forschung eine genaue Analyse der Verkettungsregeln zu erwarten.
Jahnn gelingt es in den Romanen zunehmend eine "noch ungeordnet erscheinende
Dezentralität und Parataktik der Episodik zu organisieren und in eine
literarische Ordnung zu bringen" (S.453), und zugleich unterläuft
er diese Ordnung wieder. Weil Jahnn nur "aus sehr pragmatischen
Gründen gezwungen [war], eine Veröffentlichung in Gestalt eines
Roman vorlegen zu müssen" (S.440), stellt Hengst seine Beschreibung
der Texte auf den "Gesichtspunkt des Unabgeschlossenen" (ebd.) um.
In der Tat sind sowohl die Fragment gebliebene Fortsetzung von Perrudja
als auch der fragmentarische letzte Teil von Fluß ohne Ufer
Beispiele für Romanschlüsse, die sich auf eigentümliche Weise
herkömmlichen Erzählkategorien entziehen. Denn einerseits verknappt
Jahnn seine Romane stringent auf ein Ende hin und öffnet sie zugleich
wieder.
Grundsätzlichkeit der Theoriebildung und Anspruch der
Literaturarchäologie sowie die Art und Weise ihrer exemplarischen
Anwendung wecken eine gewisse Skepsis. Denn die Literaturarchäologie
stellt durchaus vergleichbare Fragen mit denen, wie sie bereits die
historisch-hermeneutische Literaturwissenschaft oder auch die Diskursanalyse
aufwerfen. Eine Beschreibung rhetorischer Figuren, eine Suche nach
Erzählverfahren oder eine Klärung des Verhältnisses von
Nachlaß und Werk ist auch innerhalb einer herkömmlichen
Literaturwissenschaft möglich. Die Antworten, die Hengst hier gibt, wie
etwa seine Beschreibung der Romane Jahnns bzw. Jahnns als Episodenfolgen,
bedürfen jedenfalls keines neuen Theorieentwurfs, um gegeben werden zu
können.
Authentische Schrift?
Die Literaturarchäologie soll ihre Anwendung unter
anderem in Editionen finden, welche "die Perspektive des Autors und des
authorisierten [sic] Werkes zwar nicht außer Acht" ließe,
sie würde die "Schrift aber nicht dem Werk opfern, damit ein Autor
entstehen kann" (S.488), und sich "nicht nur als eine Art
Werkstattausgabe verstehen wollen, sondern es ginge um die Freilegung einer
pluralen Schreibweise, die den Gegensatz von Autor und Leser eo ipso ad
absurdum führen würde; es ginge einzig darum, dem Grundsatz einer
rohen, materialen und dokumentierenden Schrift Geltung zu verschaffen"
(ebd.). Eine solche "literaturarchäologische Edition",
räumt Hengst ein, "würde vermutlich nicht allzu weit von
textkritischen Faksimile-Ausgaben abweichen" (ebd.); Jahnns Nachlaß wäre dementsprechend in einer
"faksimilierten, nur mit einer diplomatischen Umschrift versehenen"
(S.491) Edition zugänglich zu machen. 7
Das käme in der Praxis zwar vielen laufenden Editionen gleich, wird von
Hengst aber als Ausdruck seiner Theorie verstanden, die annimmt, daß
hierbei "wieder so etwas wie eine authentische Schriftlichkeit von
Literatur zur Sprache kommen könnte, um Schreibakte unmittelbar
erfahrbar werden zu lassen" (S.209).
Im Beschwören dieser unmittelbaren Erfahrung wird
vielleicht nochmals der Abstand deutlich, den die Literaturarchäologie
zur herkömmlichen Literaturwissenschaft einnehmen will: Trotz ihrer
Radikalität, mit der die Literaturarchäologie bestimmte Konstrukte
wie Autor und Werk gänzlich verabschieden will, führt
sie Bekanntes weiter, aber verwirft zugleich die hieran geknüpften
Unterscheidungsmöglichkeiten, die wie schwach sie durch theoretische
Reflexion auch immer abgesichert sein mögen dennoch erstaunlich
leistungsfähig sind. Den Literaturarchäologen bleibt hingegen nur
die Andacht vor dem Imaginären der Schrift.
Dr. Armin Schäfer
Universität Bayreuth
Sprach- und Literaturwissenschaftliche Fakultät
Universitätsstr. 30
95440 Bayreuth
Ins Netz gestellt am 05.06.2001
Copyright © by the author. All rights reserved.
This work may be copied for non-profit educational use if proper credit is
given to the author and IASLonline.
For other permission, please contact IASLonline.
Diese Rezension wurde betreut von der Redaktion IASLonline. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez - Literaturwissenschaftliche Rezensionen.
Weitere Rezensionen stehen auf der Liste
neuer Rezensionen und geordnet nach
zur Verfügung.
Möchten Sie zu dieser Rezension Stellung nehmen?
Oder selbst für IASLonline rezensieren? Bitte
informieren
Sie sich hier!
[ Home | Anfang |
zurück ]
Anmerkungen
Alle Hervorhebungen im Original werden in
den Zitaten kursiv wiedergegeben.
1 Michel Foucault: Archäologie des
Wissens. 5. Auflage Frankfurt/M.: stw 1992, S.36
zurück
2 Siehe Didier Eribon: Michel Foucault und
seine Zeitgenossen. München: Klaus Boer 1998, S.252. zurück
3 Vgl. etwa die Beiträge von Georg
Christoph Tholen und Michael Wetzel in der Reihe Literatur und
Medienanalysen. 4 Bände. München: Wilhelm Fink 1989-1994. Sowie
Annette Runte: Biographische Operationen. Diskurse der Transsexualität.
München: Fink 1996. zurück
4 Etwa in der Feststellung, "daß es
Foucault nicht nur darum ging, gute essayistische Prosa vorzulegen, sondern
anders als Deleuze/Guattari den Anspruch einer Erweiterung
wissenschaftlicher Analyse einzulösen." (S.43) "Allerdings insistiert
die Foucaultsche Archäologie trotz des Eingeständnisses, den
sicheren Boden eines Subjekts des Wissens verlassen zu haben anders als
bspw. Deleuze/Guattari , auf der Verwendung wissenschaftlicher Praktiken und
Techniken wie Analyse, Beschreibung, Diagnose und Reflexivität." (S.61)
"Foucaults Verhalten läßt sich gegenüber Deleuze in jeder
Hinsicht als permanenter Wartezustand bezeichnen, der unmittelbar am Ort der
Grenze bleibt und im ortlosen, schwankenden Schwebezustand verharrt.
Deleuze/Guattaris Denken wird dagegen von einem Aufbruch bestimmt, der die
Grenze zur schwärmerischen Postmoderne bereitwillig überschritten
hat." (S.197) zurück
5 Michel. Foucault: Raymond Roussel.
Frankfurt/M.: edition suhrkamp 1989. zurück
6 Alain Robbe-Grillet: Rätsel und
Transparenz bei Raymond Roussel. In: Hanns Grössel (Hg.): Raymond
Roussel. Eine Dokumentation. München: Hanser 1977, 109 zurück
7 Für eine ebenso polemische wie
scharfsinnige Kritik der Faksimile-Edition vgl. Gunter Schäble: Die
Faksimile-Freundschaft. Kafka und die Herausgeber. In: Merkur 54:4 (2000),
S.287-300. zurück
|