Schäfer über Hengst: Ansätze zu einer Archäologie der Literatur

IASLonline


Armin Schäfer

Versuch einer Ontologie der Literatur
oder Was schreibt dem, der schreibt,
die Schrift in die Schrift?

  • Jochen Hengst: Ansätze zu einer Archäologie der Literatur. Mit einem Versuch über Jahnns Prosa. (M&P Schriftenreihe für Wissenschaft und Forschung) Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler 2000. 522 S. Kart. DM 70,-
    ISBN 3-476-45249-2.

Notwendige Konstrukte

Die Literaturwissenschaft findet ihre Gegenstände nicht bereits vor, sondern konstruiert sie. Das, was sie als >Werk< oder >Autor< bezeichnet, ist nicht fraglos gegeben. Unstrittig ist heute, anders als noch vor dreißig Jahren, daß die Literaturwissenschaft auf der Grundlage von theoretischen Reflexionen ihre Gegenstände als Konstrukte auszuweisen hat. Und damit beginnt eine Reihe von Problemen, die vielleicht dort besonders augenfällig werden, wo diese Konstrukte unmittelbar ins Praktische zu vermitteln sind: in der Editionsphilologie.

In den neueren Ausgaben von Hölderlin, Nietzsche oder Kafka, um nur einige deutschsprachige Projekte zu nennen, wurden herausgeberische Entscheidungen getroffen, deren Folgen weit in literaturtheoretische Fragestellungen hineinreichen. Die Herausgeber mußten für ihre Arbeit einen Werkbegriff festlegen oder auch verwerfen und dabei meist ein kompliziertes Verhältnis von Entwürfen, Vorstufen, Varianten und >autorisiertem< Text entwirren: Was ist ein einzelnes Werk und was das Gesamtwerk eines Autors? Wo verlaufen die Grenzen von beiden? Gehört die Wäschequittung im Nachlaß zum Werk oder nicht? Gehören zum Beispiel bei Nietzsche die sogenannten Wahnsinnszettel, die Korrekturen, die Heinrich Köselitz ausführte, die Schreibübungen aus der Zeit des Jenaer Klinikaufenthalts zum Werk oder nicht? Ein expandierter Begriff des Gesamtwerks kann alle möglichen Schreibspuren absorbieren, aber dann sind immer noch innerhalb dieses Binnenraums bestimmte Grenzen zu ziehen. Was ist ein einzelnes Werk, wenn das Schreiben stets über die Ränder der Bücher hinausreicht und in Notizen, Briefe und Revisionen des Geschriebenen ausfranst?

Solche Probleme der Editionsphilologie sind auch eine Schauseite von literaturtheoretischen Fragestellungen, wie sie nicht zuletzt von der Diskursanalyse angestoßen wurden. "Die Grenzen eines Buches", erklärt Michel Foucault in der Archäologie des Wissens, "sind nie sauber und streng geschnitten: über den Titel, die ersten Zeilen und den Schlußpunkt hinaus, über seine innere Konfiguration und die es autonomisierende Form hinaus ist es in einem System der Verweise auf andere Bücher, andere Texte, andere Sätze verfangen: ein Knoten in einem Netz." 1 Foucaults hat daraus die Konsequenz gezogen, statt literarische Werke zu interpretieren, >Netze<, und das heißt Diskurse, zu analysieren; die entscheidende Frage, ob und wie die Literatur als ein eigener Diskurs zu konstruieren sei, hat er jedoch offengelassen.

Das Werk und der Nachlaß

In all diese Fragen ist Jochen Hengsts Hannoveraner Habilitationsschrift Ansätze zu einer Archäologie der Literatur. Mit einem Versuch über Jahnns Prosa verwickelt. Hans Henny Jahnn hat, laut eigener Aussage, "mengenmäßig im Alter zwischen 14 und 18 Jahren Jahren mehr geschrieben als im Alter zwischen 19 und 57 Jahren" (S.314) und darüber hinaus einen "Berg von Abgesondertem und Ausgeschiedenem hinterlassen" (S.15). Diesen Nachlaß hat Hengst gesichtet, und im Zuge dessen gelangte er zu dem Schluß, daß eine Literaturtheorie fehlt, die das Verhältnis von Nachlaß und Werk klären könne.

Deshalb schlägt er vor, eine von ihm als "Literaturarchäologie" bezeichnete Theorie auszuarbeiten, zu der er erste Prolegomena sowie ein Anwendungsbeispiel geben will. Aus dem Nachlaß von Jahnn möchte er das "Andere des Werks" (S.17) rekonstruieren. Dazu sei die "Erweiterung des nüchternen Bibliotheksphänomens Nachlaß" (ebd.) zu einem "virtuellen Archiv" (S.15) erforderlich, das wiederum ein "virtuelles Werk" (S.17) einschließe; dieses virtuelle Werk sei aber nicht dem empirischen Autor zuzurechnen, sondern einem Konstrukt, das Hengst als >Jahnn< bezeichnet.

Ontologische Analyse des Imaginären

Mit seiner Literaturarchäologie knüpft Hengst vor allem an jene Schriften von Foucault an, die vor Überwachen und Strafen entstanden sind und in denen der Entwurf zu einer "Literaturontologie" (S.19) angelegt sei. Foucaults Einleitung (1954) zu der französischen Übersetzung von Ludwig Binswangers Traum und Existenz – ein Text, dessen Neuauflage Foucault untersagt hat 2 – versteht Hengst als eine "ontologische Analyse" des Imaginären: Dieses sei eine eigenständige Dimension des Seins, unterliege einer dezentralen Ordnung, entziehe sich dem intentionalen Subjekt und sei "eine offene sich selbst inszenierende Grundfiguration des modernen Denkens" (S.86). Insofern sich das Imaginäre im Medium der Schrift äußere, entstehe das, was gemeinhin Literatur heiße; die Aufgabe der Literaturarchäologie soll sein, formale Regeln anzugeben, nach denen dieses Imaginäre der Schrift funktioniere.

Wege der Foucault-Rezeption

Damit schlägt Hengst einen anderen Weg ein als die deutsche Foucault-Rezeption. Diese hat die Analytik des Imaginären weitgehend ausgeblendet und sich vornehmlich auf Fragen der Machtanalyse und Subjekttheorie konzentriert. Sie kann sich dabei durchaus auf Foucault selbst berufen, der, wie Hengst bemerkt, einen "Richtungswechsel des Denkens" vollzog und mit Die Ordnung der Dinge (1966) und der Archäologie des Wissens (1969) eine Abkehr von der "Analyse des Imaginären und dessen >rhetorischen Reichtümern<" (S.51) einleitete. Gleichwohl muß die Diskursanalyse eine Analytik des Imaginären nicht preisgeben. Dafür stehen zum Beispiel im deutschsprachigen Raum die Arbeiten von Georg Christoph Tholen, Michael Wetzel oder Annette Runte ein, die zudem zeigen, daß das Imaginäre von (technischen) Medien induziert ist und wie es von ihnen durchformt wird. 3

Von solchen Fragestellungen, die bei Hengst nicht diskutiert werden, sowie >klassischen< diskursanalytischen Positionen – ganz gleich, ob sie der Literatur nun den Status eines subversiven "Gegendiskurses" (vgl. S.111 u. 159) einräumen oder nicht –, setzt Hengst seine Literaturarchäologie ab. Anscheinend will er in der diskursanalytischen Theorie weder einen Verbündeten erkennen noch sie als Vorarbeit für sein eigenes Vorhaben nutzen. Statt dessen bürdet er sich auf, den Nachweis zu führen, daß die Literatur "eine autonome Schreib- und Seinsweise" ist, "die ihren Sinn und ihre Bedeutung ausschließlich in sich selbst trägt" (S.219).

Hengst markiert seine Position leider in oft unnötig polemischer Weise. Beispielsweise werden Projekte wie Jürgen Links Literaturtheorie, die "versuchten in den 70er und 80er Jahren die Foucaultsche Diskursanalyse für eine politische Kritik salonfähig zu machen" (S.62), auf zehn Zeilen als "hektische[r] Aktionismus" (S.63) abgefertigt. Anstatt die neuere Foucault-Rezeption der letzten zehn Jahre zu diskutieren, referiert er noch einmal die hinlänglich bekannten Positionen von Jürgen Habermas und Manfred Frank aus den 1980er Jahren (S.50-59).

Viele der pauschalen Urteile über den "gegenwärtige[n] epigonale[n] Lacanismus und Diskurskritizismus" (S.47) sind ebensowenig nachvollziehbar wie etwa die über Gilles Deleuze und Félix Guattari. 4 Und unnötig ist es schließlich auch, die Frage nach der angemessenen Foucault-Rezeption zur "literaturethische[n] Frage" (S.63) zu stilisieren: Folgt aus einer diskursanalytischen Position automatisch die "Einwilligung in jene Marginalisierung und Profanisierung der Literaturanalyse, die deren heutigen Status im Kanon wissenschaftlicher Disziplinen und der gesellschaftlichen Kulturlandschaft kennzeichnet"? (ebd.) Und warum ist überhaupt darauf zu bestehen, daß der "Literaturanalyse" eine herausragende Stellung unter den wissenschaftlichen Disziplinen zukommen soll?

Selbstbezüglichkeit der Literatur

Hengsts Argumentation nimmt ihren Ausgang von der "Hypothese einer sehr intimen Beziehung Foucaults zur Literatur" (S.64), und ihre Hauptlast wird im wesentlichen von dem – oft vieldeutigen – Befund getragen, daß Literatur selbstbezüglich sei (S.149 u.ö.). Foucault sei es gelungen, das "Paradigma einer dezentralen >literarischen Seinsweise freizulegen<, die ohne auktoriales Subjekt auskam und keiner psychologischen Beschreibung bedurfte" (S.127). Exemplarisch sei dessen Analyse der Prosa von Raymond Roussel: "Das Ereignis der Rousselschen Prosa bestand für Foucault also darin, […] eine Darstellbarkeit des Imaginären entdeckt zu haben, die sich rein aus der Selbstinszenierung literarischer Akte vollzog und dem Imaginären einen literarischen Raum erschloß" (S.126).

Foucault selbst habe "keine kohärente ästhetische oder literarische Theorie ausgearbeitet" (S.109); seine "Auseinandersetzung mit der Literatur vollzog sich aber grundsätzlich unter der Fragestellung nach einer Darstellbarkeit des Imaginären und einer dezentralen Dimension von Wirklichkeit" (S.111). Entsprechend interessierten Foucault "keine Fragen der literarischen Form, des Stiles und der literarturgeschichtlichen oder literatursoziologischen Bedeutung" (S.113). Statt dessen setze er mit seiner Monographie Raymond Roussel 5 (1963) "zu einer Beschreibung eines Werkes an, das kein wie auch immer geartetes Subjekt der Prosa mehr kennt, sondern sich in >Verfahren<, der puren Praktizierung eines Technik, die eine Sprache ohne Sinn und hintergründige Bedeutung organisiert, erschöpft" (S.121).

Roussels Literatur sei das Beispiel "einer sich selbst inszenierenden Sprache" (S.122). Sie inszeniere eine "minimale wie immense Abweichung eines Wortes, ja Buchstabens – billard wird zu pillard –, wobei schon der Ausdruck >Abweichung< nur ungenau die Dimension des Aktes jener >Klangmodulation< 6 wiedergibt, die von der bloßen schriftbildlichen Umkehrung des Buchstaben b ausgelöst wird. In diesem >tropologischen Raum< einer identischen Sprache klafft jene kaum vernehmbare Lücke und Leere, die das Spiel der Worte organisiert" (S.122). Diese "minimale wie immense Abweichung eines Wortes", in der vielleicht ein Sprachwissenschaftler das Prinzip der Ausdifferenzierung der >langue< und mithin zwei Wörter erkennen würde, setze ein tautologisches Spiel in Gang: Es entstehe ein "Kreis von Worten […] aus sich selbst heraus, um sich wieder aufzulösen" (S.123).

Die Selbstinszenierung der Sprache sei nun das entscheidende Kennzeichen moderner Literatur: Sie sei "keine bloße Konstruktion" eines Autors, sondern "eine ontologische Figur, die im historischen Diskurs Veränderungen unterlag" (S.141f.), und ihr korrespondiere der Befund, daß sich "seit der Prosa Flauberts Literatur aus Literatur konstituiert" (S.149).

Naheliegende Einwände, etwa daß die "ontologischen Figur" einer sich selbst inszenierenden Sprache eine metaphysische Annahme ist, die geglaubt werden kann oder auch nicht, sollen hier hintanstehen.

Hengst versteht seine Literaturarchäologie als "eine differenzierende Analyse" (S.218), die nur, wie er eingesteht, "an der Schwelle zur Wissenschaftlichkeit und Formalisierung zu operieren" (S.183) vermag, unter Verzicht auf "ideengeschichtliche Instrumente wie Kommentar, Kritik und Interpretation, die noch auf einen ersten hintergründigen Diskurs unterhalb der Sprache verweisen" (S.183). Insofern spricht für die vorliegende Arbeit, daß sie in konkrete Vorschläge mündet, wie eine Literaturarchäologie praktiziert werden könne. Am Beispiel von Jahnn rekonstruiert Hengst so etwas wie eine Produktionsästhetik, die jedoch keinem intentionalen, empirischen Subjekt mehr zugerechnet werden soll.

Das Beispiel Hans Henny Jahnn

Die literaturwissenschaftliche Forschung konnte am Nachlaß von Autoren wie etwa Musil oder Kafka zeigen, wie deren Schreibprozeß verlief, ob ihr Schreiben ein geduldiges Feilen an den Formulierungen war, wie bei Musil, oder ein von nur wenigen, sofortigen Korrekturen begleiteter Schreibstrom, wie bei Kafka. Hengst hingegen zielt in seiner literaturarchäologischen Beschäftigung mit dem Nachlaß von Jahnn auf die viel grundsätzliche Frage, wovon das Schreiben selbst angetrieben werde. Er stützt sich dabei vorwiegend auf in zwei privaten Archiven liegende Teile des Nachlasses von Jahnn, auf deren genauere Beschreibung in vorliegender Arbeit wohl aus pragmatischen Gründen verzichtet werden mußte. Wünschenswert wäre, auch diese Teile des Nachlasses der Forschung bald zugänglich zu machen.

Hengst konstruiert eine Instanz, die er als >Jahnn< bezeichnet. Der durchgestrichene Buchstabe hat sein Vorbild in einer überlieferten Schreibweise des Namens von Hans Henny Jahnns Großvater; auf einer Urkunde findet sich eine Litura, die Durchstreichung des Buchstabens n . Von Hengst wird wohl deshalb diese Schreibweise Jahnn zur Bezeichnung des virtuellen Werks übernommen, weil sie sowohl sachlich wie formal Aspekte zu konnotieren vermag, mit denen das Imaginäre der Schrift bestimmt wird: Differenz zu sich selbst, Wiederholung in sich, Zirkulation des Sinns usw.

Zwar sind von Hans Henny Jahnn wechselnde Schreibweisen seines Namens überliefert, die vielleicht auch auf das komplizierte Verhältnis des jungen Autors zu seiner Herkunft verweisen, und darüber hinaus hat Jahnn selbst die verschiedenen sozialen Rollen – Schriftsteller, Orgelbauer, Gründer einer Glaubensgemeinde – unterschieden, die er eingenommen hat. Doch solche einfachen psychologischen und biographischen Überlegungen sind mit der literaturarchäologischen Beschreibung allenfalls vage zu assoziieren. Hengst nährt sein Konstrukt Jahnn zwar von werkbiographischen Informationen, will aber dessen Funktionieren nach eigenständigen formalen Regeln erklären, die von aller (empirischen) Autorpsychologie freigehalten sein sollen.

Die Hyperbel, so Hengst, ist die zentrale rhetorische Figur des Schreibens in der Moderne, die dessen Selbstbezüglichkeit organisiert und jenen stetigen Schreibstrom namens Literatur antreibt, wie er am Beispiel von Hölderlin zu zeigen versucht. Die Hyperbel sei nicht zuletzt deshalb die exemplarische Figur der modernen Literatur, weil sie das System der Rhetorik überschreite und in ihr die besondere Erfahrung des "Scheiterns" (S.302) durchscheine. Als eine der "zentralen Makrostrukturen unserer modernen Erfahrung" (ebd.) sei die Hyperbel bei einer Reihe von Autoren in der Moderne (Hölderlin, Roussel, Nietzsche, Kafka oder Pessoa) nachweisbar. Wenn nun diese Makrostruktur jeweils "auf eine Subjektivität trifft" (ebd.), entstünde dabei "ein imaginäres Wirklichkeitsfeld" (ebd.), das sich dem intentional schreibenden Subjekt entziehe und jenes andere, virtuelle Werk forme.

Hyperbel ist bei Hengst vornehmlich eine Sammelbezeichnung für eine Fülle von ganz unterschiedlichen Verfahren, die einen "singulären Grad sprachlicher Intensität" (S.303) herzustellen vermögen, und hierzu zählt er auch die Litura des Namens. Das spezielle hyperbolische Verfahren, das sich speziell aus dem Nachlaß von Jahnn erschließe, sei die Ausschreibung der Litura des Namens Jahnn: "Das Gewahrwerden der Litura kann daher als eine Art Urszene der Jahnnschen Prosa bezeichnet werden" (S.307). Während in den frühen dramatischen Stücken "ein schwach ausgebildetes Ich seiner wildwüchsigen Schreibakte Herr zu werden versucht" (S.315), erfindet Jahnn bzw. Jahnn später Regeln, die das Schreiben stärker ordnen und es in kommensurablere Formen überführen.

Nach einem Durchgang durch die außerliterarischen Aktivitäten Jahnns, die er als Fortsetzung der imaginären Schrift versteht (S.350-392), wendet sich Hengst den beiden Romanen Perrudja und Fluß ohne Ufer zu. Jenseits jeder Diskussion der Gattungszugehörigkeit und der literaturhistorischen Stellung der Romane wirft er die Frage auf, was diese "Schriftgefüge" (S.407) jeweils zusammehalte.

Jahnn überführt in seinen Romanen eine außerordentliche Vielzahl von Themen in eine komplexe Erzählstruktur, für die eine historisch-hermeneutische Literaturwissenschaft Parallelen bei Döblin und Joyce findet und den Begriff Montage vorschlägt. Zu Recht fordert Hengst hier eine differenziertere Begrifflichkeit ein, mit der die Prozessualität des Jahnnschen Schreibens besser erfaßt werden könne. Sein eigener Vorschlag, die Schriftgefüge als Episodenfolgen zu begreifen und nach deren Verkettungsregeln zu fragen, führt tatsächlich weiter. Er kann zeigen, daß eine Analyse an der Schließung und Öffnung der einzelnen Episode ansetzen sollte; hierzu ist von der künftigen Forschung eine genaue Analyse der Verkettungsregeln zu erwarten.

Jahnn gelingt es in den Romanen zunehmend eine "noch ungeordnet erscheinende Dezentralität und Parataktik der Episodik zu organisieren und in eine literarische Ordnung zu bringen" (S.453), und zugleich unterläuft er diese Ordnung wieder. Weil Jahnn nur "aus sehr pragmatischen Gründen gezwungen [war], eine Veröffentlichung in Gestalt eines Roman vorlegen zu müssen" (S.440), stellt Hengst seine Beschreibung der Texte auf den "Gesichtspunkt des Unabgeschlossenen" (ebd.) um. In der Tat sind sowohl die Fragment gebliebene Fortsetzung von Perrudja als auch der fragmentarische letzte Teil von Fluß ohne Ufer Beispiele für Romanschlüsse, die sich auf eigentümliche Weise herkömmlichen Erzählkategorien entziehen. Denn einerseits verknappt Jahnn seine Romane stringent auf ein Ende hin und öffnet sie zugleich wieder.

Grundsätzlichkeit der Theoriebildung und Anspruch der Literaturarchäologie sowie die Art und Weise ihrer exemplarischen Anwendung wecken eine gewisse Skepsis. Denn die Literaturarchäologie stellt durchaus vergleichbare Fragen mit denen, wie sie bereits die historisch-hermeneutische Literaturwissenschaft oder auch die Diskursanalyse aufwerfen. Eine Beschreibung rhetorischer Figuren, eine Suche nach Erzählverfahren oder eine Klärung des Verhältnisses von Nachlaß und Werk ist auch innerhalb einer herkömmlichen Literaturwissenschaft möglich. Die Antworten, die Hengst hier gibt, wie etwa seine Beschreibung der Romane Jahnns bzw. Jahnns als Episodenfolgen, bedürfen jedenfalls keines neuen Theorieentwurfs, um gegeben werden zu können.

Authentische Schrift?

Die Literaturarchäologie soll ihre Anwendung unter anderem in Editionen finden, welche "die Perspektive des Autors und des authorisierten [sic] Werkes zwar nicht außer Acht" ließe, sie würde die "Schrift aber nicht dem Werk opfern, damit ein Autor entstehen kann" (S.488), und sich "nicht nur als eine Art Werkstattausgabe verstehen wollen, sondern es ginge um die Freilegung einer pluralen Schreibweise, die den Gegensatz von Autor und Leser eo ipso ad absurdum führen würde; es ginge einzig darum, dem Grundsatz einer rohen, materialen und dokumentierenden Schrift Geltung zu verschaffen" (ebd.). Eine solche "literaturarchäologische Edition", räumt Hengst ein, "würde vermutlich nicht allzu weit von textkritischen Faksimile-Ausgaben abweichen" (ebd.); Jahnns Nachlaß wäre dementsprechend in einer "faksimilierten, nur mit einer diplomatischen Umschrift versehenen" (S.491) Edition zugänglich zu machen. 7 Das käme in der Praxis zwar vielen laufenden Editionen gleich, wird von Hengst aber als Ausdruck seiner Theorie verstanden, die annimmt, daß hierbei "wieder so etwas wie eine authentische Schriftlichkeit von Literatur zur Sprache kommen könnte, um Schreibakte unmittelbar erfahrbar werden zu lassen" (S.209).

Im Beschwören dieser unmittelbaren Erfahrung wird vielleicht nochmals der Abstand deutlich, den die Literaturarchäologie zur herkömmlichen Literaturwissenschaft einnehmen will: Trotz ihrer Radikalität, mit der die Literaturarchäologie bestimmte Konstrukte wie Autor und Werk gänzlich verabschieden will, führt sie Bekanntes weiter, aber verwirft zugleich die hieran geknüpften Unterscheidungsmöglichkeiten, die – wie schwach sie durch theoretische Reflexion auch immer abgesichert sein mögen – dennoch erstaunlich leistungsfähig sind. Den Literaturarchäologen bleibt hingegen nur die Andacht vor dem Imaginären der Schrift.


Dr. Armin Schäfer
Universität Bayreuth
Sprach- und Literaturwissenschaftliche Fakultät
Universitätsstr. 30
95440 Bayreuth

Ins Netz gestellt am 05.06.2001
IASLonline

Copyright © by the author. All rights reserved.
This work may be copied for non-profit educational use if proper credit is given to the author and IASLonline.
For other permission, please contact IASLonline.

Diese Rezension wurde betreut von der Redaktion IASLonline. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez - Literaturwissenschaftliche Rezensionen.


Weitere Rezensionen stehen auf der Liste neuer Rezensionen und geordnet nach

zur Verfügung.

Möchten Sie zu dieser Rezension Stellung nehmen? Oder selbst für IASLonline rezensieren? Bitte informieren Sie sich hier!


[ Home | Anfang | zurück ]



Anmerkungen

Alle Hervorhebungen im Original werden in den Zitaten kursiv wiedergegeben.

1 Michel Foucault: Archäologie des Wissens. 5. Auflage Frankfurt/M.: stw 1992, S.36    zurück

2 Siehe Didier Eribon: Michel Foucault und seine Zeitgenossen. München: Klaus Boer 1998, S.252.   zurück

3 Vgl. etwa die Beiträge von Georg Christoph Tholen und Michael Wetzel in der Reihe Literatur und Medienanalysen. 4 Bände. München: Wilhelm Fink 1989-1994. Sowie Annette Runte: Biographische Operationen. Diskurse der Transsexualität. München: Fink 1996.   zurück

4 Etwa in der Feststellung, "daß es Foucault nicht nur darum ging, gute essayistische Prosa vorzulegen, sondern – anders als Deleuze/Guattari – den Anspruch einer Erweiterung wissenschaftlicher Analyse einzulösen." (S.43) "Allerdings insistiert die Foucaultsche Archäologie trotz des Eingeständnisses, den sicheren Boden eines Subjekts des Wissens verlassen zu haben – anders als bspw. Deleuze/Guattari –, auf der Verwendung wissenschaftlicher Praktiken und Techniken wie Analyse, Beschreibung, Diagnose und Reflexivität." (S.61) "Foucaults Verhalten läßt sich gegenüber Deleuze in jeder Hinsicht als permanenter Wartezustand bezeichnen, der unmittelbar am Ort der Grenze bleibt und im ortlosen, schwankenden Schwebezustand verharrt. Deleuze/Guattaris Denken wird dagegen von einem Aufbruch bestimmt, der die Grenze zur schwärmerischen Postmoderne bereitwillig überschritten hat." (S.197)   zurück

5 Michel. Foucault: Raymond Roussel. Frankfurt/M.: edition suhrkamp 1989.   zurück

6 Alain Robbe-Grillet: Rätsel und Transparenz bei Raymond Roussel. In: Hanns Grössel (Hg.): Raymond Roussel. Eine Dokumentation. München: Hanser 1977, 109   zurück

7 Für eine – ebenso polemische wie scharfsinnige – Kritik der Faksimile-Edition vgl. Gunter Schäble: Die Faksimile-Freundschaft. Kafka und die Herausgeber. In: Merkur 54:4 (2000), S.287-300.   zurück