Schandera über Bollenbeck / Knobloch: Semantischer Umbau

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Gunter Schandera

Sola scriptura?
Anpassungsakrobatik
der Geisteswissenschaften
nach 1933 und nach 1945.

  • Georg Bollenbeck / Clemens Knobloch (Hg.): Semantischer Umbau der Geisteswissenschaften nach 1933 und 1945 (Reihe Siegen, Beiträge zur Literatur-, Sprach- und Medienwissenschaft; 144) Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter 2001. 238 S. mit 4 Abb. Kart. € 42,-.
    ISBN 3-8253-1010-8.

Inhalt

Georg Bollenbeck: Das neue Interesse an der Wissenschaftshistoriographie und das Forschungsprojekt >semantischer Umbau der Geisteswissenschaften< | Clemens Knobloch: Über die Schulung des fachgeschichtlichen Blickes: Methodenprobleme bei der Analyse des >semantischen Umbaus< in Sprach und Literaturwissenschaft | Peter Jehle: Semantischer Umbau und normaler Betrieb der Geisteswissenschaften | Frank Rutger Hausmann: >Termitenwahn< – Die Bedeutung der Gemeinschaftsforschung für die NS-Wissenschaft | Marcus Gärtner: >Die ganze Schwere des Irdischen sinnbildet im grasenden Vieh...< – Zur Sprache der germanistischen Literaturwissenschaft nach 1945 | Petra Boden: Kulturgeschichte im Wechsel der Zeiten? Ein Projekt an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und bildungsbürgerlicher Öffentlichkeit | Gerhard Kaiser: Vom allmählichen Abhandenkommen des Platzierungssinns: Denkstil und Resonanzkalkül in >verteilersprachlichen< Texten Emil Staigers | Rainer Rosenberg: Die Semantik der >Szientifizierung<. Die Paradigmen der Sozialgeschichte und des linguistischen Strukturalismus als Modernisierungsangebote an die deutsche Literaturwissenschaft | Alexandre Métraux: Diskursive Ressourcen und rhetorische Überschüsse in der Psychologie. Eine Fallstudie | Gerd Simon: Kontinuitäten und Brüche in der deutschen linguistischen Bedeutungsforschung 1933 und 1945 | Franz Thierfelder: >Deutsch als Weltsprache< oder ein Leben für die Völkerverständigung? |



Was heißt "semantischer Umbau"?

Für die gegenwärtige Konjunktur der Wissenschaftsgeschichte, namentlich der der Geisteswissenschaften, lassen sich verschiedene Gründe ausmachen. Das Bemühen, durch den Blick zurück den eigenen Standort zu bestimmen, Perspektiven für Heutiges und Künftiges zu erweitern, mag einer der gewichtigsten sein. Das Ende der großen einsinnigen Geschichtserzählungen macht das Feld unüberschaubar und befördert die Neigung zu Sammelbänden, deren heterogene Beiträge, weil sie von der Bewußtheit der Partialität und Perspektivität des historiographischen Tuns durchdrungen sind, manchmal durch nicht sehr viel mehr als den Einband zusammengehalten werden. Daß dabei in den letzten Jahren zahlreiche verdienstvolle Arbeiten zur Geschichte der Institutionen, Akteure und Konzepte entstanden sind, ist ein wichtiges und auch in einer breiteren Öffentlichkeit bemerktes Ergebnis.

Nach wie vor defizitär sind dagegen Studien, die sich mit der Rhetorik der Fächer und Disziplinen beschäftigen, ihrer kommunikativen Verfaßtheit, mit der sie sich zu ihrer sozialen Umwelt wie zum "Denkstil" und "Denkkollektiv" 1 ihrer jeweiligen Zeit in Beziehung setzt. Um diese "kommunikative, der Gesellschaft zugewandte Außenseite der geisteswissenschaftlichen Fächer" (S. 230) geht es im vorliegenden Band. Sie soll weitgehend durch "Konzentration [...] auf publizierte Texte, und zwar insbesondere auf >exoterische< Veröffentlichungen mit möglichst großer kommunikativer Reichweite und außerfachlicher Resonanz" (S. 230) eruiert werden. 2

Deren semantische Bestände sollen auf drei Sprachebenen beschrieben werden:

  • der von "(idealiter terminologisierten) >neutralen< fachsprachlichen" Begriffen;

  • der von "Scharnierbegriffe[n], deren Wirkung die Forschungsgeschichte und die öffentliche Resonanz umfassen soll (z. B. deutsche Dichtung, deutscher Geist, Muttersprache)";

  • der Ebene der "Basissemantik des jeweiligen politischen Systems. Sie umfaßt [...] Wert- und Identifikationsbegriffe (z. B. Volk, Rasse, Reich oder Klasse, Nationalkultur, Europa, Abendland, Pluralismus, Menschenrechte), deren Gebrauch innerhalb der geisteswissenschaftlichen Fächer Resonanzeffekte verspricht und >von außen< honoriert wird." Solche Bestände interessieren als "die semantischen Membranen und Transformationssysteme, die ein Fach mit seinen Grundbegriffen, Argumentations- und Deutungsmustern im beständigen Austausch mit der gesellschaftlichen Deutungs- und Weltbildproduktion halten" (S. 17).

Peter Jehle nennt in seinem Beitrag den Sachverhalt vereinfacht, aber treffend "doppelte Artikulation von Wissenschaft" (S. 42): Ihre Sprache ist innerfachlich adressiert oder adressierbar, zugleich braucht und organisiert sie externe Resonanzbedingungen, weil sie mit den Deutungsmustern und Leitbegriffen ihrer jeweiligen Gesellschaft in Beziehung treten muß, um als plausibel anerkannt zu werden (was letztlich auch eine Frage der Ressourcenverteilung ist). Daß das dann beim Wechsel der politischen Rahmenbedingungen auch mit einem Umbau semantischer Art erreicht werden kann, ohne an den Inhalten und Paradigmen etwas ändern zu müssen, ist eine der Erkenntnisse, die man aus dem vorliegenden Band gewinnt. Sie bestätigt unser Wissen um die Nichtparellisierbarkeit von politischer Geschichte und Wissenschaftsgeschichte und zeigt, wie sinnvoll es ist, die "fachgeschichtliche Orientierung an der politischen Semantik durch offenere System-Umwelt-Relationen auszutauschen", 3 die die vielschichtige Konstituierung von Wissenschaft aus ihrer Differenz und Kohärenz mit einer äußerst komplexen Umwelt erklären.

"Wissenschaftliche Fächer können sich weder >autonom< reproduzieren, noch können sie einfach politisch >mißbraucht< oder in Dienst genommen werden. [...] Die bequeme Vorstellung einer eindeutigen Beziehung von diktatorischer Herrschaft und Unterordnung, von Herrschenden und Beherrschten, ist aus unterschiedlichen Forschungsperspektiven dekonstruiert worden"(S. 28), schreibt Georg Bollenbeck. Und sein Mitherausgeber Clemens Knobloch vermutet nicht ohne Hintersinn, daß "die Resonanzabhängigkeit geisteswissenschaftlicher Terminologie nicht einfach eine Krankheit vergangener Zeiten ist, die gegenwärtig geheilt wäre oder überhaupt geheilt werden könnte"(S. 232). Letzteres mag, wenn man es ex negativo bewerten wollte, etwas zu tun haben mit jener "Fixfingrigkeit im Spekulativen", 4 die der exilierte Romanist Leo Spitzer 1945 an deutschen Kollegen beobachtet hatte, auch mit der Ubiquität und Verfügbarkeit eines Begriffs, der, so Max Wehrli, von Hegels "Weltgeist" über eins "seiner beliebtesten Surrogate, den Nationalgeist", bis zum Zeitgeist reicht und "in der Spannweite zwischen Weltgeist und Zeitgeist" 5 je nach Bedarf mal das eine und mal das andere favorisieren oder substituieren kann.

Dabei zeigt sich, positiv gewendet, aber auch die relative Autonomie geisteswissenschaftlicher Bestände und Paradigmen, die diverse Systemwechsel überdauern und hinter rhetorisch veränderten Fassaden ein mehr oder weniger erfülltes, auf jeden Fall aber langes Leben haben können (was Resistenz gegen allerlei politische Eilfertigkeiten durchaus einschließt). In der germanistischen Literaturwissenschaft etwa liegen die epistemischen Umbauten der disziplinären Programme (von der Nationalphilologie zur Geistesgeschichte, dann zur Werkimmanenz, schließlich zu Sozialgeschichte und Rezeptionsforschung) um 1910, in etwas geringerem Umfang um 1940, schließlich in den 60er Jahren, nicht jedoch in den Jahren um 1918, 1933 oder 1945, wie man vielleicht erwarten könnte. Ein Paradigmenwechsel erfolgt mitunter erst, wenn sich die außerdisziplinären Resonanzbedingungen so weit verändert haben, daß das Paradigma nicht mehr plausibel ist und damit historisch wird (im vorliegenden Band beschrieben am Muttersprachkonzept Leo Weisgerbers oder der Werkauffassung Emil Staigers und ihren Schicksalen im beginnenden Medienzeitalter, siehe unten).

Zwischen "normalem Betrieb" und "Termitenwahn"

Die Reihe der Fächer und Disziplinen, die ins Bild kommen, eröffnen zwei Beiträge zur Romanistik bzw. von Romanisten. "Semantischer Umbau und normaler Betrieb der Geisteswissenschaften" überschreibt Peter Jehle seinen Beitrag (S. 51–57). Er fragt dezidiert nicht nach der Romanistik, sondern nach den Romanisten und ihrem Handeln: "Wie verarbeiten die Romanisten in ihrer Materie und mit ihren spezifischen Mitteln den NS?"(S. 48) Dabei beruft er sich auf "ein neues Interesse an der Rolle der Individuen und ihren Normen und Weltbildern" (Otto Gerhard Oexle 1997, zit. n. Jehle, S. 41), das neben der Betrachtung der Strukturen, Institutionen, Diskurse helfen kann, die Vorgänge vor dem Hintergrund der Handlungsmöglichkeiten und -bedingungen der Subjekte genauer zu konturieren.

Jehle gibt auf die Frage, die er stellt, keine umfassende Antwort (dafür wäre auch der Rahmen seines Beitrags zu knapp, zumal er im Literaturverzeichnis auf eine Reihe ausgezeichneter Untersuchungen verweisen kann, die durch seine eigene zu Werner Krauss zu ergänzen wäre, vgl. S. 36), aber er gibt die Richtung vor, in der die Antwort zu suchen ist. Sie betrifft die Mentalität der Akteure, die den "normalen" Wissenschaftsbetrieb um jeden Preis, das heißt unter allen Bedingungen, auch denen der Diktatur, aufrechterhielten, so daß eine Ablehnung, wie es Werner Krauss formulierte, "stets nur auf dem fachlichen Sondergebiet (erfolgte) und nicht dadurch, daß man das politische System selbst als eine untragbare Grundlage für alles geistige Leben brandmarkte". (Krauss 1983, zit. n.Jehser, S. 48)

Krauss verglich die philologischen Aktivitäten, auch die der eigenen Gruppe, mit dem "Tun einer Sekte, die ihren Ritus im Schutz der Exterritorialität unseres Fachs begehen konnte" (ebd.). Anpassungsleistungen, semantische Umbauten sind dabei nicht unbedingt als systemkonformes Verhalten zu werten, sie dienen aber in jedem Fall der Erhaltung solcher Schutzräume. Inwieweit das dann – jenseits strikt einzuhaltender Neutralität der Recherche – zu Fragen rechtlicher und moralischer Art hinführt, kann Jehles Aufsatz nur implizieren, aber er tut dies unmißverständlich. Vom "normalen" Betrieb der Wissenschaft, ihrem "intakten inneren Kern" zu reden, sei schon angesichts der großen Zahl entlassener jüdischer Wissenschaftler "zumindest ein Euphemismus" (S. 46). Weitergedacht wäre auch zu fragen: Wie haben denn die betreffenden Akteure, nachdem sie die freigewordenen Stellen problemlos unter sich neu besetzt hatten, fernerhin auf die wissenschaftlichen und persönlichen Wege ihrer ehemaligen Kollegen reagiert?

Daß man die wissenschaftliche Produktion der Exilierten weitgehend ignoriert hat, ist bekannt, vielleicht hat man zu wenig über sie gewußt; ob man von anderen Wegen, vom plötzlichen Verschwinden, das in die Konzentrationslager führte (etwa des Berliner Germanistenehepaars Helene und Max Herrmann), auch nichts gewußt hat, ist kaum bekannt und meines Wissens noch kaum thematisiert. Daß Jehle ein offenbar persönliches Dispositiv der Beteiligten ("normal", "Pflicht", "Ordnung") im Fach wiederfindet (oder vice versa), verwundert nicht. Er belegt es mit der langlebigen, aus der Weimarer Zeit bis in die 60er Jahre reichenden essentialistischen Konstruktion deutsch-französischer Binarität, von "Kultur" und "Zivilisation", die erst "wesenskundlich", dann "völkisch" und nach 1945 "abendländisch" interpretiert werden konnte. Die "Normalität", der "intakte Kern", der legitimatorische Mythos des aus der deutschen Klassik destillierten Kulturbegriffs schien immer vorhanden, und Zweifel an ihren philologischen Mandarinen verbot sich vorerst auch im Nachkriegsdeutschland. Daß dies für den westlichen wie den östlichen Teil galt, kann man Jehles Aufsatz gleichfalls entnehmen.

Frank Rutger Hausmanns Aufsatz ">Termitenwahn< – Die Bedeutung der Gemeinschaftsforschung für die NS-Wissenschaft" (S. 58–79) kann als komplementäre Studie zu Jehles Beitrag gelesen werden, weil sie zeigt, wie unscharf die Grenze zwischen "normalem Betríeb" und seiner Funktionalisierung war und wie schnell sie in Richtung der letzteren überschritten werden konnte; eine Rückkehr dürfte problematischer gewesen sein. Die Gemeinschaftssemantik hatte ihre Karriere ja lange vor dem NS begonnen, in der Jugend- und Wandervogelbewegung, die später eine sozialdemokratische, eine kommunistische (bis zur "sozialistischen Menschengemeinschaft" der 60er Jahre reichende) und eine nationalsozialistische Variante ausbildete. Hausmann zeigt, daß semantische Verschiebungen – hier des Gemeinschaftsbegriffs ins Völkische – durchaus praktisch-politische Entsprechungen haben konnten, bei denen interne Dispositionen die Indienstnahme und Verwertung beförderten.

Im Zeichen des Gemeinschaftsgedankens, schreibt Hausmann, füllten deutsche Wissenschaftler in den Planspielen des NS ihre Rollen "wissentlich oder unwissentlich mit dem gebotenen Eifer >gemeinschaftlich<" (S. 76) aus. Gemeinschaft war dabei immer hierarchisch verstanden, als dienende Unterordnung des einzelnen unter ein führerbestimmtes, quasi-militärisch organisiertes Ganzes, das mit dem tradierten Wissenschaftsverständnis, das von der Gleichstellung der Fächer ausgegangen war, kaum noch kompatibel war. Hausmann betont, daß "eine umfassende Studie zur NS-Gemeinschaftsforschung" (S. 62) bisher fehlt, und trägt Überlegungen dafür sowie Ergebnisse seiner Recherchen vor, die – wie man es bei diesem Autor gewohnt ist – ab ovo gewonnen sind und neue Fakten zutage fördern. Sie kommen unter anderem zu dem Ergebnis, daß es sich bei den dargestellten geistewissenschaftlichen Gemeinschaftsprojekten zumeist um "Zweckforschung handelte, die helfen sollte, das deutsche Großraumprojekt zu realisieren" (S. 76).

Texte und Märkte

Eine Blütenlese von Zitaten aus der germanistischen Wissenschaftssprache nach 1945 bietet Marcus Gärtner in seinem Aufsatz ">Die ganze Schwere des Irdischen sinnbildet im grasenden Vieh...< – Zur Sprache der germanistischen Literaturwissenschaft nach 1945"(S. 80–96). Die Pastiche stammt aus einer Trakl-Interpretation aus dem Jahr 1957 (S. 85) und soll das Abhandenkommen kommunikativer Funktionalität belegen. In der Tat wurden im In- wie im Ausland zunehmende Verständnisbarrieren registriert, "wandte man sich gegen [t]he whole ideological terminology, the neoromantic atmosphere<, die aus solchen Begriffen wie Geist, Seele, Sein töne" (Ferdinand Gowa in Germanic Review 1953, zit. S. 88). Teile des fachlichen Sprechens waren, so eine zeitgenössische Wahrnehmung, infiziert von "esoterischer Beschwörung, weltliche[m] Kirchenlatein, einer nur noch von Auguren zu würdigenden Priestersprache wissenschaftlicher Geheimreligion" (Wolfgang von Einsiedel 1952, zit. S. 86). Während ältere Autoren (Pongs, Kluckhohn, Korff, Strich und viele andere) Nachauflagen erlebten, bei denen nur noch die Vor- oder Nachworte umgeschrieben werden mußten, betraf das Problem vor allem Jüngere.

Gärtner beschreibt die Sachverhalte, fragt aber nicht nach den Ursachen. Gerade das wäre im Zusammenhang mit der im Buch verhandelten Problemstellung interessant gewesen. Zu vermuten ist, daß mit dem – zumindest partiellen – Verlust der Orientierung an der gewohnten Basissemantik auch die Scharnierbegriffe abhanden gekommen waren und Unsicherheiten bestanden, zunächst immerhin unter den Bedingungen der allierten Aufsicht in Deutschland, wo und wie denn nun für beides Ersatz zu finden sei. Um so verblasener, unverbindlicher, inhaltsleerer mußten die Vokabeln sein, noch dazu, wenn es um Karrieren ging und Anstoß um jeden Preis zu vermeiden war.

Sicher erklärt das z. B. den merkwürdig "manirierten Jargon" (S. 88) bei Fritz Martini, dessen persönliches Umbauprogramm im NS am Vergleich zwischen seiner Dissertation am Anfang der NS-Zeit und der Habilschrift in deren späterer Phase ablesbar ist, worauf Gärtner leider nicht hinweist, und nun abrupt abgebrochen ist. Walter Boehlich hat schon 1956 vermutet, "daß Martini seinen alten Stil gewaltsam loswerden wollte und sich nun einen neuen zurechtgezimmert hat, der sich durch Übertreibungen verrät" (Boehlich 1956, zit. S. 88). Pars pro toto?

Einen ebenso originellen wie ertragreichen Ansatz für ihre Studie findet Petra Boden ("Kulturgeschichte im Wechsel der Zeiten? Ein Projekt an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und bildungsbürgerlicher Öffentlichkeit", S. 97–121). Sie vergleicht drei Bände eines mehrbändigen "Handbuchs der Kulturgeschichte", das zwischen 1934 und 1939 erschienen war (Herausgeber: Heinz Kindermann), mit deren Neufassung in der bundesrepublikanischen Neuausgabe in den Jahren 1960 bis 1986 (Herausgeber: Eugen Thurnher). 6 Der "reichsdeutschen" Erstausgabe hatte Erich Trunz als besonderen Vorzug "die geglückte Herausarbeitung des spezifisch >Deutschen an der deutschen Kultur" (S. 97) attestiert; "deutsches Wesen" als leitende Wertvorstellung konstituiert auch die bundesdeutsche Neuausgabe. Das Fatale ist, daß in beiden Fällen auf Abgrenzung und Diskriminierung, auf Ausgrenzung des "Fremden" gesetzt ist. "Fremd sind Ausländer, sind Juden, ist >fahrendes Volk<, ist der >Pöbel<.

"Vor den gezeigten Gemeinsamkeiten werden die Differenzen sekundär", resümiert die Autorin.

Indem man beide Korpora nebeneinander stellt, wird in aller Deutlichkeit klar, daß es letztlich kein wesentlicher Unterschied ist, ob das Andere, das Fremde deswegen anders und fremd erscheint, weil es >rassisch< anders aufgefaßt wird [...] oder ob die dem >Anderen< zugeschriebenen Werte und Normen als fremde und minderwertige gegenüber dem >Eigenen< herabgesetzt werden. Sie werden in beiden Fällen als schlechtere und deshalb die deutsche Kultur bedrohende konnotiert. (S. 120)

Ein bestürzender Befund, der verstärkt wird, wenn man die Details des Vergleichs zur Kenntnis nimmt, die hier leider nicht referiert werden können. Das Maß an Klischees, Halbwahrheiten, Vorurteilen ist erschreckend, und daß es in der bundesdeutschen Öffentlichkeit bis in die 80er Jahre offenbar keine Wahrnehmung gab, die sich daran stieß, ist es ebenso.

Oder ist die Tatsache, daß die Autorin keine Rezensionen fand (anders als bei der ersten Ausgabe) vielleicht Ausdruck einer weithin unterbliebenen Rezeption, weil es das bildungsbürgerliche Publikum, auf dessen Bücherschränke die Macher der (teuer und aufwendig ausgestatteten) Reihe offenbar zielten, in den späten 60er Jahren und danach so schon nicht mehr gab? Den entsprechenden mentalitätsgeschichtlichen Wandel lassen die einschlägigen Untersuchungen ja bereits in der 2. Hälfte der fünfziger Jahre beginnen. 7 Waren die Resonanzbedingungen für diese Neuedition und ihre Werteontologie zum Zeitpunkt ihrer Produktion noch vorhanden? Auch Auflage- und Verkaufsziffern hätten darüber – unter anderem – etwas sagen können, ganz abgesehen von der offenbar nicht erfolgten Rezeption im Fach. Bemerkenswert immerhin, daß die Reihe so und nicht anders produziert werden konnte.

Die Neuausgabe des Bandes, der sich mit der Goethezeit befaßt, schreibt übrigens der britische Germanist Walter Horace Bruford (1965), den Vorgängerband hatte Franz Koch (1937) verfaßt, der wegen seiner NS-Belastung nicht mehr präsentabel war. Die Gründe für diese Wahl würde man gern kennen. Brufords Buch über das 18. Jahrhundert und die Goethezeit (Cambridge 1935), wurde in Deutschland wohlwollend rezensiert und lag schon 1936 hier als Übersetzung vor, während das seiner germanistischen Kollegin Eliza M. Butler zum ähnlichen Zeitraum, gleichfalls 1935 in Cambridge erschienen, wegen seiner kritischen Haltung zur deutschen Entwicklung sofort verboten wurde und erst 1948 in einer – verkürzten – deutschen Ausgabe erschien. 8 Für Bruford gilt auch, daß er seine Kontakte zu "völkischen" Autoren, so Hans Grimm, wenig kritisch reflektierte; noch 1979 formulierte er den Euphemismus von "the flight [sic!] of Jewish autors". 9

Welches Klassikkonzept seinem Goethebuch von 1965 zugrundeliegt, auch wenn es sicher kein deutschnationales Wertungsmuster ist, erfährt man aus der in diesem Teil erstaunlich kurz geratenen Studie leider nicht, und der unterbliebene Vergleich zu dem Goethe-Buch von 1935 würde sicher nicht, wie die Verfasserin meint, den Rahmen sprengen (S. 120), sondern ihn sinnvoll erweitern.

Von Resonanzbedingungen und ihren Veränderungen ist auch in Gerhard Kaisers Beitrag über Emil Staiger die Rede ("Vom allmählichen Abhandenkommen des Platzierungssinns: Denkstil und Resonanzkalkül in >verteilersprachlichen< Texten Emil Staigers", S. 132–157). Den Verfasser interessiert weniger die epistemische Seite der unter dem Etikett der Werkimmanenz zusammengefaßten Richtungen, sondern die Frage, warum das Staigersche Programm "vor allem im Nachkriegsdeutschland solche erheblichen Resonanzeffekte mobilisieren kann" (S. 143). Die Fragestellung, scheint mir, greift zu kurz: Affinitäten gegenüber dem stilkritischen Programm sind in Deutschland weit früher vorhanden, und seit 1940 gibt es Anzeichen für einen Paradigmenwechsel. Welche Resonanzbedingungen für ein scheinbar "unpolitisch-asketisches Philologen-Ethos", hinter dem sich so mancherlei verbergen kann, wären denn vor 1945 auszumachen? Ist es hier wie da die Möglichkeit des Rückzugs in die Reservatio der sola scriptura, die die gewohnte Erklärungshegemonie garantiert, aber von außen weniger angreifbar macht?

Ist es sinnvoll, in dieser Hinsicht 1945 überhaupt als Zäsur anzusetzen, und wenn ja, wo liegen die Differenzen zur Zeit davor und danach? Wenn der Verfasser im Zusammenhang mit Staigers Züricher Literaturpreisrede zur Feststellung kommt, daß 1966 gänzlich andere Resonanzbedingungen – auch in der außerfachlichen Öffentlichkeit – vorlagen, dann hat er völlig recht, auch wenn er damit kaum etwas Neues sagt. Der alte Kanon hatte sich überlebt, nicht nur in der Diskursgemeinschaft der Germanisten, das bildungsbürgerliche Kulturverständnis relativiert:

Was als modernekritisches Löwengebrüll intendiert gewesen sein mag, wird somit aus mentalitätsgeschichtlicher Perspektive zur symbolträchtigen Coda des abschwellenden Schwanengesangs einer in wachsendem Maße marginalisierten, bildungsbürgerlichen Kunsthypostase. (S. 152)

Als Gründe für den Wandel, seit der 2. Hälfte der 50er Jahre nennt Kaiser unter anderem die "wachsende Akzeptanz der kulturellen Moderne, die zunehmend breitenwirksame Akzeptanz und die Etablierung einer vorrangig konsumorientierten Massen- und Populärkultur" vor dem "Hintergrund der wachsenden ökonomischen Prosperität und der zunehmenden politischen und kulturellen Westbindung". Letzteres freilich wäre zu hinterfragen, weil sich die gleichen Vorgänge nahezu zeitgleich im anderen deutschen Staat abspielten und Staigersche Positionen, nicht selten mit denselben Argumenten vorgetragen, auch hier in der Germanistik wie in der außerfachlichen Öffentlichkeit zunehmend obsolet wurden, selbst wenn ihre Vertreter sie kulturpolitisch noch eine Zeitlang instrumentalisierten. 10

Rainer Rosenbergs knappe Studie zu semantischen Verlaufsgeschichten seit Ende der 60er Jahre ist wesentlich erfreulicher zu lesen als ihr pretentiöser Titel. ("Die Semantik der >Szientifizierung<. Die Paradigmen der Sozialgeschichte und des linguistischen Strukturalismus als Modernisierungsangebote an die deutsche Literaturwissenschaft", S. 122–131) Indem er Veränderungen bis in die Gegenwart verfolgt, bildet der Beitrag den Abschluß des literaturwissenschaftlichen Komplexes. Die in den 60er Jahren begonnene Theoriedebatte war aus der Forderung nach wissenschaftlicher und politischer Rechtfertigung des Fachs entstanden; ihre Ergebnisse macht Rosenberg an Paradigmen der Sozialgeschichte (den "meist in einen gesellschaftstheoretischen Diskurs eingebundenen literatursoziologischen, sozialgeschichtlichen und ideologiekritischen Verfahrensweisen", S. 123) und des Strukturalismus fest (wo wäre die rezeptionstheoretische Wende einzuordnen?). Auch wenn manche Versprechen uneingelöst blieben, waren Modernisierung und Szientifizierung unübersehbar.

In der Folge gab es eine Fülle breit gestreuter Ansätze, die kaum mehr in einem Gesprächszusammenhang standen, aber einem eminenten Wettbewerbs- und Legitimationsdruck unterlagen. "Synkretistisches Verhalten" (S. 124) nennt Rosenberg freundlich die terminologische Freibeuterei, die jenseits methodologischer Supervision auch stattfand. Selbst die Diskurstheorie mit ihrem "antihermeneutischen Affekt" hat viele Versprechen nicht halten können, denn "wenn eine prinzipielle Unbestimmbarkeit des Signifikats angenommen wird, stellt sich eine neue Art von Textimmanenz her" (S. 129). Autoreferentialität als "point of return" der ganz anderen Art?

Was am Ende ins Bild kommt, sind gegenwärtige Entwicklungen kulturwissenschaftlicher, empirischer oder medienwissenschaftlicher Art, die – ohne die Aufgeregtheit der Rufe nach Paradigmenwechseln – ihre heuristischen oder pragmatischen Interessen erproben. Man möchte die Hoffnung Rosenbergs auf einen Wissenschaftsstil teilen, der ohne "Aufgabe des Rationalitätsanspruchs" sich gegen alle "Totalisierungs- und Systematisierungsversuche" sperrt, und auf eine Generation von Wissenschaftlern, die "die Verallgemeinerungen aufschiebt, weil sie keine große Theorie, die für sie die Erklärungen immer schon bereit hält, mehr akzeptiert".(S. 131)

Taxonomie oder Axiologie?

Den letzten Komplex bilden drei Beiträge, die – einmal aus der Sicht der Psychologie, zweimal aus der der Linguistik – belegen, wie schnell klassifikatorisches Unterscheiden in hierarchisches Bewerten, Taxonomie in Axiologie umschlagen kann, zumal dann, wenn ersterem immer schon die Tendenz zur Hierarchienbildung zugrundelag.

Alexandre Métraux ("Diskursive Ressourcen und rhetorische Überschüsse in der Psychologie. Eine Fallstudie", S. 158–174) zeigt, wie die eidetische Psychologie Erich Jaenschs bereits in den zwanziger Jahren Wahrnehmungstypen konstruierte, die nicht im Sinne von Differenzen, sondern von Wertordnungen verstanden waren. Das brauchte dann 1933 nur noch rassisch instrumentalisiert zu werden, um einen "Gegentypus" auszumachen, der "vom Franzosentum, vom Judentum und von dem ganz spezifisch und ausgeprägt >modernen< Menschentum, kurz gesprochen, vom >Asphaltmenschentum<" besetzt ist. (Jaensch 1933, zit. S. 165) Es versteht sich, daß Jaensch ansonsten den dezisionistischen Duktus seiner Expertensprache für derartige Ableitungen benutzt und diesen gerade dadurch die Aura endgültiger Wahrheiten zu geben sucht.

Einige Fragen läßt der knappe Beitrag von Gerd Simon offen ("Kontinuitäten und Brüche in der deutschen linguistischen Bedeutungsforschung 1933 und 1945", S. 175–181). Mit ihrer Hypostasierung der Sprache hätten sowohl Georg Schmidt-Rohr wie Leo Weisgerber den – vergeblichen – Versuch gemacht, "die Sprache neben Blut und Boden als 3. Größe in die NS-Weltanschauung zu integrieren", wofür Simon den Begriff "Sprachfaschismus" benutzt. Dieser habe "sehr viel mit dem biologisch begründeten Rassismus der überzeugten Nationalsozialisten gemeinsam". (S. 176f.)

Der nachfolgende Beitrag von Matthias Krell kennt den Begriff nicht, und Andreas Gardt spricht von "Sprachnationalismus". 11 Mir scheint der Begriff im Rahmen dieses Aufsatzes zu apodiktisch und zu wenig zu differenzieren (was wäre beispielsweise dann "Sprachnationalismus"?), zumal die im Titel angekündigten "Kontinuitäten und Brüche nach 1945" nicht referiert sind. Möglich, daß Simons Begründungen in den sechs eigenen Texten deutlicher werden, die er im Literaturverzeichnis nennt, für den Leser dieses Aufsatzes sind sie es nur bedingt.

Ein Muttersprachkonzept, das mühelos von "Deutsch als Weltsprache" im Nachkrieg zu "Deutsch für Ausländer" mutiert, dabei aber den einstigen kulturhegemonialen Anspruch beibehält, untersucht Matthias Krell material- und kenntnisreich am Beispiel des Schaffens von Franz Thierfelder ("Franz Thierfelder: >Deutsch als Weltsprache< oder ein Leben für die Völkerverständigung?", S. 182–202).

Krell zeigt, wie das Bewußtsein "einer besonderen Menschheitssendung" des Deutschen (Thierfelder 1938, zit. S. 182) über den Begriff der "Nationalsprache" Zugang zum europäischen Gedanken der Völkerverständigung und "problemlos Anschluß an den Diskurs der >europäischen Integration<" (S. 191) findet. Die jeweilige Semantik und Rhetorik erweisen sich als "relativ resistent gegenüber jeweils unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Resonanzbedingungen" (S. 183). Warum das freilich so ist, läßt der Beitrag offen, hier wäre sicher weiter nachzufragen gewesen.

Fazit

Die Beiträge der beiden Herausgeber bilden den Rahmen des Bandes, sie stehen am Anfang (Georg Bollenbeck: "Das neue Interesse an der Wissenschaftshistoriographie und das Forschungsprojekt >semantischer Umbau der Geisteswissenschaften<", S. 9–40) und am Ende des Buchs (Clemens Knobloch: "Über die Schulung des fachgeschichtlichen Blickes: Methodenprobleme bei der Analyse des >semantischen Umbaus< in Sprach und Literaturwissenschaft", S. 203–233). Das Programm, das sie entwickeln, wurde zu Beginn dargestellt und muß nicht nochmals referiert werden; interessant ist, wie es aufgegangen ist bzw. umgesetzt werden konnte.

Zunächst: Es ist ein empfehlenswerter, nützlicher und wichtiger Sammelband entstanden, den in der Tat ein gemeinsames Programm zusammenhält, auch wenn dies selbst noch diskutabel und in unterschiedlichem Maß zum Tragen gekommen ist. Drei Aspekte scheinen mir für die Weiterführung des Unternehmens wichtig; seine Schwierigkeiten und Gefahren schließen dabei Beckmesserei jeglicher Art aus.

  1. Deutlich wird, daß nicht alle Beiträge dem Programm, semantische Umbauten im Zusammenhang mit politischen Zäsuren zu eruieren, folgen; durchaus nützliche, aber eben andere kognitive Interessen liegen dann zugrunde. Das mag zunächst nur ein Problem der Erwartungshaltung des Lesers sein, kann aber ebenso mit Unschärfen des Programms zusammenhängen. In einigen Beiträgen hat man den Eindruck, daß die Semantik des Projekts wiederum im Sinne von "Scharnierbegriffen" verwendet wird, die Anschlußfähigkeit bekunden, ohne daß der Anschluß hergestellt oder wenigstens erprobt wäre.

    Aus der lobenswerten Zusammenarbeit zwischen dem Kulturwissenschaftler und dem Linguisten, die dem Band vorausging, hätte doch eigentlich eine Studie entstehen können, die das Programm exemplarisch und methodologisch stringent erprobt und ein Angebot macht, an dem man sich >gerieben< hätte. Derartiges gibt es leider immer noch weitaus seltener als die große Konzeptualisierung, deren Versprechen zu oft nicht eingelöst werden. Dazu kommt, daß die Benennung von Untersuchungsebenen wenig für die Erfassung der tatsächlichen "Semantikfallen" hergibt und wesentlich differenziertere Bestimmungen erfordert hätte.

    Wir wissen doch, daß ein Begriff einschließlich seines Gebrauchs und sein jeweiliges Denotat verschiedene Dinge sind. Was verstehen dann diejenigen, die die Begriffe aus Kompatibilitätsgründen verwenden, jeweils anderes darunter als etwa der offizielle NS-Apparat (selbst wenn man dessen Polyphonie mitdenkt)? Mir scheint, daß die Suchfunktion zu oft lediglich auf "Fahnenwörter" programmiert ist. Was ist "Rasse" oder "Volk"bei Alfred Rosenberg und was bei dem Linguisten XY? Derartige Differenzierungen würden nichts entschuldbarer machen, aber das genaue Verständnis des Wie und Warum (und mancher Rituale) ermöglichen.

    Auch erfahren wir nichts darüber, wie sich semantischer Umbau bei engagierten NS-Wissenschaftlern wie etwa Franz Koch, Friedrich Neumann oder Karl Justus Obenauer anders vollzieht als in den hier verhandelten Fällen.

  2. Sodann scheinen die immer wieder apostrophierten "Resonanzbedingungen" oft zu statisch oder generell zu wenig und zu undifferenziert gesehen zu werden. Sie ändern sich ja keineswegs mit den politischen Umbrüchen, sind oft viel komplexer und langlebiger als erwartet und wandeln sich in Zeiten, in denen man nicht damit gerechnet hätte. Der beschriebene Verlust des "Platzierungssinn" ist dann eine unausweichliche Folge.

    Manche der Vorgänge, worauf ich hingewiesen habe, wären genauer ins Bild gekommen, wenn der postulierte Zusammenhang von Produktions- und Rezeptionsbedingungen (hier: "Resonanzbedingungen") wirklich konsequent mitgedacht bzw. weiter als nur politisch verstanden wäre. Daß die Untersuchung auf veröffentlichte Texte konzentriert ist (die Herausgeber haben das reflektiert), muß kein Nachteil sein, wenn man diese in einem möglichst konturenreichen Relief ihrer Bedingungsgeschichte liest. (Dabei wäre natürlich auch der Vergleich mit unveröffentlichten bzw. unterdrückten Texten oder einzelnen Bearbeitungsstufen hilfreich.) Daß der Band allerdings – trotz interdisziplinären Bemühens – der verbreiteten Tendenz folgt, die eigene Fachgeschichte von der anderer Wissenschaften zu isolieren, hat zu solcher Reliefbildung gewiß nicht beigetragen.

  3. Schließlich macht der Band deutlich, wie dringend es geboten ist, deutsche Wissenschaftsgeschichte nach 1945 nicht als westdeutsche Wissenschaftsgeschichte zu verhandeln, es sei denn, man hat sich ausdrücklich auf diese Perspektive verständigt, was aber hier – wie in einer zunehmenden Zahl anderer Veröffentlichungen der letzten Jahre – durchaus nicht der Fall ist. Wie haben denn Korff und Frings in Leipzig. Eduard von Jan, Henrik Becker oder Joachim Müller in Jena, Georg Baesecke in Halle, Hans Holm Bielfeldt in Berlin, Christian Janentzky in Dresden, Leopold Magon in Greifswald und Berlin, Hans-Friedrich Rosenfeld in Berlin, Rostock und Greifswald, um nur Beispiele zu nennen, und vice versa Alexander Abusch oder Alfred Kurella mit ihren stalinistischen Erfahrungen, ihre semantischen Bestände im "neuen Deutschland" umgebaut (falls das überhaupt nötig war, wenn man etwa daran denkt, daß Korff seine Vorlesungen aus den zwanziger kaum verändert noch in den fünfziger Jahren gehalten hat).

    Was mußte getan werden, um in den "großen Traditionen der deutschen Humanitätsidee" fortzufahren, sprich: einer Geistesgeschichte, die am Ende nur "materialistisch umgestülpt[...]" zu werden brauchte, um anschlußfähig zu sein? 12

    Es ist ja ein Irrtum, wenn im Vorwort die Rede davon ist, die westdeutsche Hochschulstruktur habe sich "politisch-institutionell durch die Wiederanknüpfung an eine Hochschulstruktur Humboldtscher Prägung fundamental von beiden deutschen Diktaturen" (S. 5) unterschieden. Das stimmt so pauschal schon nicht für den NS, und für die ostdeutschen Nachkriegsverhältnisse erst recht nicht. 13 Wenn man den Osten ausklammert, tut man, was man eigentlich vermeiden wollte: Man bindet Wissenschaftsgeschichte wieder an die Politik zurück.

    Manche Beiträge haben das – wenigstens partiell – im Blick, insgesamt entsteht aber ein einseitiges, auf die west- und bundesdeutsche Entwicklung fokussiertes Bild, bei dem Möglichkeiten, durch Vergleichen und Unterscheiden die Perspektive zu schärfen, verschenkt sind. Daß hier manches ohne zusätzlichen Kenntniserwerb nicht zu leisten ist, mag klar sein, aber der Fundus an einschlägigen Arbeiten, der inzwischen vorliegt, kann diesen Kenntniserwerb erleichtern. 14

    Letztlich sollten künftige Studien der vorliegenden Art auch nicht von ihren eigenen "Resonanzbedingungen" absehen: Die Leser und Forscher von 2002 sind nicht die von 1990, nicht nur, weil sie einer zunehmend gleichen Sozialisation unterliegen, sondern auch, weil aus der Sicht der gemeinsamen deutschen Geschichte immer weniger Gründe für Reduzierungen erkennbar sind.

Gleichfalls mit Blick auf die Rezipienten des Buchs sei zum Schluß noch auf das leidige Thema der Register verwiesen. Zumindest ein Personenregister hätte den Gebrauchswert erhöht, ganz zu schweigen davon, daß manche Editionen zur Wissenschaftsgeschichte mit einem zusätzlichen bio-bibliographischen Anhang heutigen "Resonanzbedingungen" in ganz besonders freundlicher Weise entgegenkommen.


Prof. Dr. Gunter Schandera
Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg
Institut für Germanistik
Postfach 4120
D-39016 Magdeburg
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Ins Netz gestellt am 06.10.2002
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Anmerkungen

1 Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Frankfurt / M. 1999 [Erstausgabe 1935].   zurück

2 Dabei hätte allerdings weitaus stärker, als es das Buch tut, auf bereits vorhandene Arbeiten zurückgegriffen werden können. Das gilt u. a. für den von Wilfried Barner und Christoph König herausgegebenen Sammelband Zeitenwechsel. Germanistische Literaturwissenschaft vor und nach 1945, Frankfurt / M. 1996. Der Band kommt in den umfangreichen Literaturverzeichnissen zu den Beiträgen der beiden Herausgeber nicht vor.   zurück

3 Jürgen Fohrmann: Von den deutschen Studien zur Literaturwissenschaft. In: Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp (Hg.): Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. Stuttgart / Weimar 1994, S. 1–14, hier S. 12.   zurück

4 Leo Spitzer: Deutsche Literaturforschung in Amerika. In: Monatshefte 37 (1945), S. 475–480, hier S. 478.   zurück

5 Max Wehrli: Was ist / war Geistesgeschichte? In: Christoph König und Eberhard Lämmert (Hg.): Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1910 bis 1925. Frankfurt / M. 1993, S. 23–37, hier S. 23.   zurück

6 Zu den bibliographischen Angaben vgl. S. 97 ff. und S. 120 f.– Verglichen werden die Bände zum Barock von Willi Flemming (1937 / 1960), zur Aufklärung (Emil Ermatinger 1935, bearbeitet von Eugen Thurher und Paul Stapf 1969) und zur Goethezeit (1937: Franz Koch, 1965 Walter Horace Bruford).    zurück

7 Vgl. Gerhard Kaiser im vorliegenden Band, S. 152, und die dort genannten Quellen.   zurück

8 Walter Horace Bruford: Germany in the Eighteenth Century: the Social Background of the Literary Revival. Cambridge 1935; Eliza M. Butler: The Tyranny of Greece over Germany. A Study of the Influence Exercised by Greek Art and Poetry over the German Writers of the Eighteenth, Ninteenth and Twentieth Centuries. Cambridge 1935 (Eliza M. Butler: Deutsche im Banne Griechenlands. Deutsche verkürzte Ausgabe, bearb. und mit einer Einführung versehen von Erich Rätsch. Berlin 1948.).   zurück

9 Walter Horace Bruford: Some German Memories 1911–1961. The 1979 Bithell Memorial Lecture.London 1980, S. 18.   zurück

10 Vgl. Gunter Schandera: Zur Resistenz bildungsbürgerlicher Semantik in der DDR der fünfziger und sechziger Jahre. In: Georg Bollenbeck und Thomas La Presti (Hg.): Traditionsanspruch und Traditionsbruch. Die deutsche Kunst und ihre diktatorischen Sachwalter. Kulturelle Moderne und bildungsbürgerliche Semantik II. Wiebaden 2002, S. 161–173, hier v. a. S. 161 f.   zurück

11 Andreas Gardt: Sprachnationalismus. In: A. G.: Geschichte der Sprachwissenschaft in Deutschland. Vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert, Berlin 1999, S. 301–319.   zurück

12 Rainer Rosenberg: Zur Geschichte der Literaturwissenschaft in der DDR. In: Jörg Drews und Christian Lehmann (Hg.): Dialog ohne Grenzen. Beiträge zum Bielefelder Kolloquium zur Lage von Linguistik und Literaturwissenschaft in der ehemaligen DDR. Bielefeld 1991, S. 11–35, hier S. 24.   zurück

13 Vgl. Gunter Schandera: Diktaturenvergleich. Die politische Steuerung der literaturwissenschaftlichen Germanistik im Nationalsozialismus und in der DDR. In: Holger Dainat und Lutz Danneberg (Hg.): Literaturwissenschaft und Nationalsozialismus (in Vorb.)   zurück

14 Ein Beispiel, hinter das nicht zurückgegangen werden sollte, bietet etwa der bereits 1997 erschienene Band von Petra Boden und Rainer Rosenberg (Hg.): Deutsche Literaturwissenschaft 1945–1965. Fallstudien zu Institutionen, Diskursen, Personen. Berlin 1997.   zurück