Scheibmayr über Luhmann: Das Erziehungssystem der Gesellschaft

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Werner Scheibmayr

Erziehung als Formbildung, Kinder als Medium?

  • Niklas Luhmann: Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Hg. von Dieter Lenzen. Frankfurt / M.: Suhrkamp 2002. 236 S. Kart. EUR (D) 11,-.
    ISBN 3-518-29193-9.


Mit dem Band Das Erziehungssystem der Gesellschaft ist Niklas Luhmanns Reihe der Analysen gesellschaftlicher Funktionssysteme abgeschlossen. Dass Luhmann auch dieses Subsystem mit denselben Theoriebausteinen analysiert wie die anderen gesellschaftlichen Funktionssysteme, ist freilich nicht überraschend. Wie er dies dagegen tut, ist bei genauerer Lektüre sehr wohl auffällig.

Luhmann bleibt nämlich an einigen Stellen hinter den differenzierten Auflöse- und Rekombinationsmöglichkeiten seiner eigenen Systemtheorie zurück, was seine Ausführungen zwar allgemeiner verständlich, aber auch vager und weniger präzise macht. Man könnte dies freilich damit zu erklären versuchen, dass es sich bei Das Erziehungssystem der Gesellschaft um einen erst postum herausgegebenen Text handelt, den Luhmann selbst nicht mehr vollenden konnte. So stichhaltig diese Sichtweise textgeschichtlich auch sein mag, würde sie doch eine eingehende argumentative Auseinandersetzung mit dem Text von vornherein unterlaufen und sie auch zum Spekulativen, nämlich zur Frage hin öffnen, was Luhmann wohl noch alles geändert haben könnte.

Zur Vermeidung einer derartigen Selbstblockade bzw. Spekulation müssen wir uns an den von Dieter Lenzen sorgfältig edierten Text halten. Im Folgenden werde ich wesentliche Aussagen aus den sieben Kapiteln von Luhmanns Buch zusammenstellen und jeweils an ausgewählten Beispielen aufzeigen, wo die Anschlussmöglichkeiten an Luhmanns Systemtheorie noch vertieft bzw. präzisiert werden könnten.

Mensch und Gesellschaft

Luhmann stellt im ersten Kapitel seine aus anderen Werken bekannten gesellschaftstheoretischen Grundthesen vor: Demnach ist die Gesellschaft ein operativ geschlossenes soziales System, das sich autopoietisch durch die rekursive Relationierung der Systemelemente, d.h. im Falle sozialer Systeme Kommunikationen, selbst (re-)produziert und damit eine Grenze zu seiner Umwelt aufbaut. Autopoietische Systeme, die im Medium Sinn operieren, also soziale und psychische Systeme, sind in der Lage, die Differenz zwischen System, also sich selbst, und Umwelt in sich selbst zu beobachten: Sie können also reflektiert zwischen Selbst- und Fremdreferenz unterscheiden.

Das moderne Gesellschaftssystem ist in sich funktional ausdifferenziert, d.h. es bilden sich spezifische Subsysteme heraus, deren Operationen nur eine spezifische Funktion in der Gesellschaft abdecken: Das Erziehungssystem ist eines dieser Funktionssysteme. Aus der operativen Geschlossenheit und der funktionalen Differenzierung folgt, dass ein Subsystem nicht durch seine inner- oder außergesellschaftliche Umwelt determiniert werden kann, sondern es vielmehr in sich autonom operiert. Der Umgang mit dieser Autonomie muss nun jeweils systemintern durch Mechanismen der Selbstorganisation geregelt werden: Das Erziehungssystem muss also selbst regeln, welche Erziehungsmaßnahmen es jeweils wählen und als sinnvoll kommunizieren will.

An dieser Stelle fällt auf, dass Luhmann das Theorieelement der Komplexität nicht zur Argumentation heranzieht: Da alle sozialen Systeme nicht alle möglichen Elemente gleichzeitig aktualisieren und mit allen anderen Elementen relationieren können, können sie als komplex bezeichnet werden. Um im Rahmen dieser Komplexität sinnvoll und gerichtet operieren zu können, müssen die Systeme ihren internen Überschuss an Anschlussmöglichkeiten selektiv einschränken. Diese Einschränkung, die notwendig ist, um den entropischen Zerfall des Systems zu verhindern, leisten die Systemstrukturen, die eine Vorselektion des unter bestimmten Umständen Selegierbaren bieten und damit die weiteren Anschlussmöglichkeiten selektiv konditionieren. Auch auf diese für die Selbstorganisation eines Systems unverzichtbaren theoretischen Zusammenhänge verweist Luhmann nicht.

Aus dieser Disposition von Luhmanns Theorie ergeben sich bereits Konsequenzen für die Erziehung: Der traditionelle Gegenstand der Erziehung, nämlich der Mensch, ist bei Luhmann nicht Teil der sozialen Systeme, die ja ausschließlich aus Kommunikationen bestehen, sondern stellt seinerseits ein "hochkomplexes System" (S. 28) dar, das aus untereinander strukturell gekoppelten Subsystemen besteht und in der Umwelt der Gesellschaft zu situieren ist. Dieses Gesamtsystem >Mensch< ist weder für sich selbst noch für einen externen Beobachter wie z.B. eine Lehrkraft berechenbar, es bleibt sowohl für Selbst- als auch Fremdbeobachtung letztlich intransparent. Die durch Selbst- oder Fremdbeschreibung erstellte Identität eines Menschen stellt demnach aufgrund der systemisch gegebenen Komplexität eine kontingent-selektive Konstruktion dar.

Luhmann zieht daraus den Schluss, dass "die Beobachtungsmöglichkeiten des Lehrers erheblichen Beschränkungen" (S. 25) unterliegen und dass der Lehrer kein Wissen aufbauen kann, "das zur Berechenbarkeit des Verhaltens führen könnte" (S. 26). Berechenbarkeit im mathematischen-deterministisch Sinne ist ebenso ausgeschlossen wie unnötig, denn in der Regel werden relativ stabile Erwartungsstrukturen, die mögliche Anschlusskommunikationen vorselegieren, ausreichend sein. Darauf verweist Luhmann aber leider nicht. Dass die Beobachtungsmöglichkeiten beschränkt sind, kann man Luhmann in dieser Form nicht zugestehen: Eine Lehrkraft kann wie jeder Beobachter mit den zur Beobachtungsoperation herangezogenen Unterscheidungsformen alles beobachten, wobei dann aber die Beobachtung über den Beobachter mindestens genauso viel aussagt wie über das Beobachtete. Dies gilt für jede Beobachtung. Und ob das Beobachtungsergebnis im weiteren rekursiven Systemprozess kondensiert, konfirmiert und im Systemgedächtnis zur wiederholten Aktualisierung festgehalten oder als falsch behandelt und vergessen wird, hängt wie bei jeder Beobachtung von der weiteren Geschichte des Systems ab.

Die Form, mit der in sozialen Systemen und somit auch im Erziehungssystem der Mensch als hochkomplexes System von Systemen in simplifizierender Komplexitätsreduktion behandelt wird, ist gemäß Luhmann die Person. Personen sind Konstrukte, die rekursiv und redundant aus Kommunikationen konstituiert werden und dann als Bezugspunkte für Anschlusskommunikationen oder auch verschiedene Attribuierungen – z.B. von Eigenschaften, Gedächtnis oder auch Motiven – zur Verfügung stehen. Die Beobachtungsformen von >Personen< kondensieren und konfirmieren also, wie Luhmann sagt, als "Eigenwerte des Kommunikationssystems" (S. 30).

Es ist aber nicht zutreffend, dass sie "gleichsam als Nebenprodukte" (S. 30) anfallen, da sie auf der Strukturebene eine wesentliche Rolle bei der Selbstorganisation des Systems und für die Konditionierung kommunikativer Anschlussmöglichkeiten spielen. Dies gilt in der Sozialdimension des Erziehungssystems umso mehr, als es sich hier in der Form des Unterrichts um ein Interaktionssystem handelt, in dem die für soziale Systeme kennzeichnende doppelte Kontingenz durch Erwartungsstrukturen eingeschränkt werden muss. Auch in der Sach- und Zeitdimension müssen Erwartungsstrukturen gebildet werden, wie dies im Schulunterricht etwa durch Stundenpläne mit fester Zeit- und Fächereinteilung geschieht. Diese Zusammenhänge werden von Luhmann mit Stichwörtern wie Schema, Frame, Script bestenfalls angedeutet, aber nicht ausgearbeitet. Dass die Erwartungsstrukturen aller drei Sinndimensionen stets mit beiden Seiten der Unterscheidung von Redundanz und Varietät konfrontiert werden und somit nie völlige Sicherheit bieten können, spricht Luhmann dagegen zu Recht an.

Die Funktion von Erziehung besteht für Luhmann nun darin, auf den Menschen durch Vermittlung von Wissen und Können kommunikativ so einzuwirken, dass er im Rahmen sozialer Systeme zu einer Person im obigen Sinne wird. Der zeitliche Prozess, dem die Entscheidungen, Handlungen oder Verhaltensweisen der jeweiligen Person zugeschrieben werden, kann dann als Lebenslauf erfasst werden. Das klingt auch im Rahmen traditionellerer Ansätze plausibel, wirft aber gerade in Luhmanns Systemtheorie eine wichtige Frage auf: Wenn einerseits das Erziehungssystem als soziales System operativ geschlossen ist und nur aus Kommunikationen besteht und andererseits der Mensch in der Umwelt des Erziehungssystems situiert wird, wie soll dann Erziehung auf den Menschen einwirken können? Luhmann würde diese Frage wohl mit dem Theoriebaustein >strukturelle Kopplung< beantworten, der aber hier wie auch sonst unbefriedigend ist, da es in Luhmanns zweiwertiger Systemtheorie anders als z.B. in dreiwertigen Zeichentheorien keine Systemschnittstelle gibt, die derartige Kopplungen zuließe.

Sozialisation und Erziehung

Wenn das Erziehungssystem nach Luhmann ein spezifisches Funktionssystem der Gesellschaft ist, muss es als soziales Subsystem ebenfalls aus Kommunikationen als operativen Elementen bestehen, darf aber wegen der funktionalen Differenzierung nur bestimmte Kommunikationen umfassen. In diesem Sinne definiert Luhmann Erziehung nicht inhaltlich oder substanziell über Inhalte, Stoffe oder Ziele, sondern als Summe aller Kommunikationen, "die in der Absicht des Erziehens in Interaktionen aktualisiert werden" (S. 54).

Erziehung findet also in Luhmanns Sinne immer in Interaktionssystemen statt, d.h. unter körperlich Anwesenden. In Interaktionssystemen wird die Wahrnehmung reflexiv, es kommt stets zu einer Wahrnehmung des Wahrgenommenwerdens und damit verbunden zur Unmöglichkeit, nicht zu kommunizieren: Auch die ostentative Weigerung, am Unterricht aktiv teilzunehmen, wird also kommunikativ ausgewertet und nicht zuletzt über Unterrichtsbeitragsnoten der Person zugerechnet.

Kommunikationen, die zwar erziehend wirken, aber nicht als solche intendiert werden, spricht Luhmann der Sozialisation zu. Erziehung ist wegen ihrer Intentionalität stets gezielter als die unspezifische Sozialisation, die gerade im Hinblick auf Massenmedien unkontrollierbar abläuft.

Die Absicht zu erziehen wirkt sich auch auf der Strukturebene auf die erzieherische Kommunikation aus. Denn die durch die doppelte Kontingenz gegebene prinzipielle Symmetrie wird in der Sozialdimension asymmetrisiert, indem die Erziehungsabsicht in der institutionalisierten Form des Unterrichts nur von der Lehrkraft, nicht aber von den Schülern ausgehen kann.

Jedes gesellschaftliche Funktionssystem orientiert sich an einem Code. Der binäre Code, dem die erzieherischen Kommunikationen unterworfen werden, lautet nach Luhmann "vermittelbar und nicht vermittelbar" (S. 59). Während die negative Seite der Codeform als Rejektions- und Reflexionswert zur Verfügung steht, kann die positive Seite durch Bewertungsschemata wie bestanden – nicht bestanden, gut – schlecht, besser – schlechter, Lob – Tadel oder Versetzung – Nicht-Versetzung weiter differenziert werden. Diese Sekundärcodierungen helfen festzustellen, ob die Vermittlung gelungen ist oder nicht. Von diesen Bewertungsschemata werden in den drei Sinndimensionen Konsistenz (Zeitdimension), Objektivität (Sachdimension) und Gerechtigkeit (Sozialdimension) erwartet, zumal sie als Selektionskriterien nicht nur im Erziehungssystem sondern darüber hinaus auch für den Lebenslauf der Person herangezogen werden. Sie eröffnen nämlich eine doppelte Vergleichsmöglichkeit, in der Sozialdimension mit der Leistung anderer Personen und in der Zeitdimension mit früher erbrachten oder künftig erwarteten Leistungen derselben Person. Diese Bezüge zu den Sinndimensionen hätte Luhmann allerdings stärker herausarbeiten können.

Der Mensch als hochkomplexes System von Systemen soll also durch die absichtsvollen Kommunikationen im Erziehungsinteraktionssystem zu einer Person in sozialen Systemen gemacht werden. Dies ist verbunden mit einer Komplexitätsreduktion, indem die Person in Erwartungsstrukturen eingefügt werden kann, denen sich der intransparente Mensch entzieht. Dass diese Erwartungsstrukturen zur Vermeidung von Entropie und zur Konditionierung der selegierbaren Anschlussmöglichkeiten notwendig sind, wurde bereits angesprochen. Luhmann behandelt diese Zusammenhänge allerdings nicht mit diesen Theoriebausteinen, sondern spricht von der Trivialisierung nicht-trivialer Systeme. Damit meint er, dass prinzipiell unberechenbare Systeme wie z.B. psychische Systeme durch Erziehung im Rahmen sozialer Systeme berechenbar gemacht und so in die Gesellschaft entlassen werden.

Medium und Form

Diese Transformation von nicht festgelegter Unberechenbarkeit zu konditionierter Berechenbarkeit ist durch die Verwendung der Zwei-Seiten-Form >Medium / Form< reformulierbar. Das Medium repräsentiert hier die Summe aller momentan nicht gewählten Möglichkeiten, während die Form das operativ jeweils aktualisierte Ereignis bezeichnet. Jede Form stellt also eine kontingente Selektion aus dem stets wieder appräsentierten Möglichkeitsbereich des Mediums dar, wobei sich Medium und Form dadurch unterscheiden, dass im Medium die Elemente lose bzw. gar nicht gekoppelt sind, während dieselben Elemente in einer Form in fester Kopplung vorliegen.

Übertragen auf das Erziehungssystem bedeutet dies für Luhmann, dass das Kind das Medium der Erziehung ist, das eben durch absichtsvoll erziehende Kommunikation während der Unterrichtsinteraktion in die Form einer Person gebracht werden soll. Dies wird allerdings dadurch erschwert, dass Kinder nicht nur Erziehungseinflüssen, sondern auch anderen Struktur bildenden Ereignissen ausgesetzt sind und zudem auf der Ebene ihres Bewusstseins nach Luhmann strukturdeterminiert operieren, d.h. die Strukturen ihres psychischen Systems nur durch dessen eigene Operationen aufbauen und verändern können. Ein direkter kausaler Zugriff der Erziehung auf ihr >Medium Kind< ist also ausgeschlossen.

Hier stellt sich ein ähnliches Problem wie oben bei der Transformation von Menschen zu Personen: Wie soll ein nur mit kommunikativen Elementen operierendes System wie das Erziehungssystem Formen in einem Medium wie dem Kind bilden, das ja sicher nicht aus Kommunikationen als Elementen besteht und als Mensch ohnehin der Umwelt der sozialen Systeme zugerechnet wird? Luhmann versucht dieses Problem zu umgehen, indem er das Medium Kind nicht als >reales< Kind, sondern als "soziale Konstruktion" (S. 93) ansieht. Dieser Lösungsversuch hilft zwar, den Rückriff auf das ohnehin problematische Theorem der strukturellen Kopplung zu vermeiden, ist aber kaum überzeugend, sondern wirkt eher wie eine aus der Not geborene Konsequenz, die sich aus Luhmanns zu rigid zweiwertigem Theorieansatz ergibt. Hier könnte eine Kultursemiotik, die mit einem dreistelligen Zeichenbegriff wie dem von Charles S. Peirce operiert, sicher überzeugendere Theorieangebote machen.1

Luhmann präzisiert die Medium-Form-Unterscheidung bei der Erziehung und ersetzt das Kind als Medium durch den Lebenslauf, er verleiht dem Medium also explizit eine Zeitdimension. Der Lebenslauf ist für Luhmann eine "Verkettung von nicht selbstverständlichen, kontingenten Ereignissen" (S. 93 f.). Dieser Auffassung gegenüber sind Zweifel angebracht: Ob man den Lebenslauf nun als Konstruktion sozialer oder psychischer Systeme ansieht – er kann in beiden Fällen nur als Ergebnis eines strukturdeterminierten Systems aufgefasst werden. Damit sind die in ihm relationierten Ereignisse zwar nicht selbstverständlich, aber sie sind bestimmt nicht kontingent: Der Sinn strukturdeterminierten Operierens besteht ja eben darin, den Ereignissen die Kontingenz und so dem System die Entropie zu nehmen. Es kann sich bei einem Lebenslauf also nur um einen Prozess handeln, in dem die Anschlussmöglichkeiten geregelten Konditionierungen unterworfen sind. Als Medium könnte dieser Prozess bestenfalls deshalb angesehen werden, weil er hinsichtlich der Unterscheidung von Redundanz und Varietät in der Zeitdimension zur Zukunft hin offen ist und daher der Erziehung gewisse Möglichkeiten zur Formbildung eröffnet.

Diese Formbildungen werden durch die Unterscheidung von Wissen und Nichtwissen strukturiert, wobei Nichtwissen durch Information in Wissen transformiert werden kann. Dieses Wissen hat einerseits einen Bezug zum sozialen System der Gesellschaft, da es anerkanntes, "sozial validiertes" (S. 98) Wissen sein muss. Dass die soziale Validität des Wissens in Luhmanns Systemtheorie die Theoriebausteine Gedächtnis, Generalisierung und damit verbunden Wiederholbarkeit, Kondensierung und Konfirmierung voraussetzt, spricht Luhmann nur kurz an, entfaltet es aber nicht näher. Damit bleibt erneut die eigentlich entscheidende Strukturebene des Erziehungssystems argumentativ unterrepräsentiert.

Andererseits ist Wissen im Erziehungssystem auch bezogen auf die psychischen Systeme von Menschen bzw. Personen, da es eben auf dem Wege der Erziehung deren Chancen für eine positive Gestaltung des Lebenslaufes steigert. Problematisch bei diesem Ansatz ist, dass der Lebenslauf als Prozess eine strukturierte Abfolge bestimmter aktualisierter Ereignisse in der Zeit ist, während es sonst bei Luhmann für ein Medium charakteristisch ist, nur ein Selektions- und Aktualisierungspotenzial zu sein, in das die Zeitdimension an sich nicht eingeschrieben ist.

Interaktionssystem Unterricht

Wie bereits besprochen, rechnet Luhmann nur solche absichtsvoll erziehenden Kommunikationen dem Erziehungssystem zu, die in Interaktionssystemen, d.h. unter Anwesenden, stattfinden. Die hierfür institutionalisierte Form ist die des Unterrichts. Mit der Wahl dieser Form sind einige Konsequenzen verbunden: Im Unterricht wird das Wahrnehmen und Wahrgenommenwerden reflexiv, was sowohl disziplinierend wirken als auch zur Provokation verleiten kann. Die Grenze des Interaktionssystems ist durch die Unterscheidung von anwesenden und abwesenden Personen klar definiert. Die je aktuell ablaufende Kommunikation sollte die Aufmerksamkeit der beteiligten psychischen Systeme erregen, wobei die Beteiligung an der Kommunikation im Unterricht geregelt werden muss, was nicht zuletzt durch die Rollenasymmetrie zwischen Lehrkraft und Schülern geschieht. Für gezielte Anschlusskommunikationen ist dadurch gesorgt, dass man den Anwesenden Gedächtnis unterstellt, so dass es in der Folgestunde möglich sein sollte, an den Ergebnissen der Vorstunde anzuknüpfen.

Dies ist auch dann möglich, wenn einzelne Schüler oder die Lehrkraft in der Folgestunde z.B. krankheitsbedingt abwesend sind, was zeigt, dass auch Interaktionssysteme als Spezialfälle sozialer Systeme in Luhmanns Sinne nicht aus Menschen als Elementen bestehen.

Der Interaktionsverlauf im Unterricht ist in der Zeitdimension durch Schulstunden oder auch längere Perioden wie Ferien oder Schuljahre strukturiert, in der Sach- und Sozialdimension durch Episoden der Beschäftigung mit bestimmten Themen oder Schülern bzw. Schülergruppen.

Ausdifferenzierung des Erziehungssystems

Ein spezifisches Erziehungssystem differenziert sich gemäß Luhmann aus der Gesamtgesellschaft dadurch aus, dass es zur autopoietischen Reproduktion seiner selbst nur bestimmte kommunikative Operationen, nämlich absichtsvoll erziehende, verwendet und dadurch in der Zeit systemspezifische Strukturen aufbaut und kondensiert. In genau diesem Sinne ist das ausdifferenzierte Erziehungssystem autonom und muss sich daher selbst organisieren.

Dieser Ausdifferenzierungsprozess beginnt laut Luhmann im 18. Jahrhundert: Im Unterschied zu jeweils punktuell kontextabhängigen Erziehungsbemühungen in der Familie, die bei zu geringen Erfolgsabsichten jederzeit abgebrochen werden können, finden die erzieherischen Operationen des Erziehungssystems in einem stabil organisierten institutionalisierten Rahmen statt, werden von speziell ausgebildeten Personen, den Lehrkräften, vollzogen und sind prinzipiell auf Fortsetzung im Hinblick auf ein bestimmtes, vorgegebenes Ziel hin angelegt.

Da sich im Laufe der Zeit aus der Gesamtgesellschaft mehrere Funktionssysteme ausdifferenzieren, kann man nicht nur das Verhältnis dieser Systeme zu ihrer außergesellschaftlichen, sondern auch zu ihrer innergesellschaftlichen Umwelt untersuchen, d.h. Intersystembeziehungen analysieren. Besonders wichtige Intersystembeziehungen bestehen für das Erziehungssystem zur Wirschaft, Politik, Wissenschaft und zur Familie.

Die Inklusion aller Personen in das Funktionssystem der Erziehung wird durch die Einführung der allgemeinen Schulpflicht gewährleistet. Das Erziehungssystem erfährt selbst eine Binnendifferenzierung, indem unterschiedliche Schularten und -zweige sowie Jahrgangsstufen, Schulklassen und Unterrichtsfächer eingerichtet werden.

Respezifikation: Organisation und Professionalisierung

Das generelle Kennzeichen des Erziehungssystems, nämlich dass seine Kommunikationen von der Absicht zu erziehen getragen sein müssen, ist zu allgemein, um ausreichend informativ zu sein. Die generelle Absicht muss also im Erziehungssystem selbst noch spezifiziert werden, und dies geschieht nach Luhmann durch Organisation und Professionalisierung.

Letztere besteht im Erziehungssystem hauptsächlich darin, dass ausgebildete Lehrkräfte über eine ausreichende Zahl von Schemata, Scripts, Routinen, bewährten Erwartungen und anderen Strukturen verfügen, die im Laufe der Zeit erfolgreich wiederholt und so durch Kondensierung und Konfirmierung generalisiert wurden, dass sie auch in künftigen, jeweils nicht eindeutig definierten Unterrichtsinteraktionen mit der Aussicht auf Erfolg aktualisiert werden können.

Die Organisation des Erziehungssystems wird gemäß Luhmanns Ausführungen seit dem 18. Jahrhundert immer differenzierter ausgebaut: Sie regelt im Rahmen der Selbstorganisation des Erziehungssystems die Unterscheidung von Universitäten, diversen Schultypen, Jahrgangsstufen, Schulklassen, Fächerkanons und Curricula.

Selbstbeschreibungen

Als gesellschaftliches Subsystem ist auch das Erziehungssystem zum re-entry der System-Umwelt-Unterscheidung in der Lage, d.h. es kann die eigenen Operationen an dieser Unterscheidung ausrichten und so auf der Systemseite der Unterscheidungsform eine Selbstbeschreibung anfertigen. Dadurch ist auch ein reflektiertes Attribuierungsschema gewonnen, mithilfe dessen z.B. Erziehungserfolge dem System, Misserfolge aber der Umwelt des Systems, also etwa den beteiligten Menschen, zugerechnet werden können.

In dem Maße, wie sich das Erziehungssystem seit dem 18. Jahrhundert als eigenes, autonomes gesellschaftliches Subsystem ausdifferenziert, ist es auf derartige Selbstbeschreibungen auch angewiesen. Es kann nämlich zur Selbstorganisationen nicht mehr auf nunmehr in seiner Umwelt situierten Kriterien, die aus Religion, Natur, sozialer Schichtung usf.. herleitbar sind, zurückgreifen, sondern muss eigene Ideen oder Ideale entwickeln, gemäß denen es seine jeweilige Erziehungs- und Unterrichtspraxis zu reformieren versuchen kann.

Die Fähigkeit zur Selbstbeschreibung ermöglicht nach Luhmann zudem, über die Einheit des Erziehungssystems im System selbst zu kommunizieren. An dieser Stelle weist Luhmann nur auf den formentheoretischen Aspekt hin, dass die Systemseite als marked space der Unterscheidungsform immer nur mit der Umweltseite als unmarked space bezeichnet werden kann, d.h. dass jede Einheit nur auf der Basis einer gegebenenfalls latent gehaltenen Differenz bezeichnet werden kann.

Es fehlt aber der Hinweis darauf, dass ein System, das nur in seinen jeweils ereignishaft aktualisierten Operationen, also z.B. Kommunikationen, existiert, sich selbst in einer semantisch fixierten Form nicht adäquat beschreiben kann, da eben die semantische Fixierung den wesentlichen prozesshaften Charakter des Systems unterschlägt. Diese Diskrepanz dürfte aber in einem Subsystem wie dem Erziehungssystem, das gerade bei Luhmann als dynamisch-prozessuales Interaktionssystem gedacht wird, erhebliche Konsequenzen haben und z.T. erklären, wieso in den Selbstbeschreibungen des Erziehungssystems in auffälliger Häufigkeit Reformbedarf artikuliert wird.

Fazit

Luhmanns Werk über das Erziehungssystem der Gesellschaft eignet sich sowohl für interessierte, aber systemtheoretisch nicht sonderlich versierte Leser als auch für Luhmannexperten. Der ersten Gruppe wird die Lektüre durch eine Ausdrucksweise erleichtert, die nicht allzu sehr durch systemtheoretische Terminologie belastet ist, und Letzteren mag es reizvoll erscheinen, die eben nicht konsequent und vollständig durchgeführte >Systematisierung< detaillierter weiterzudenken, als Luhmann selbst dies getan hat. Hierbei dürfte sich v.a. eine zu starke Vernachlässigung der Strukturebene des Erziehungssystems herausstellen.

Konkrete hilfreiche Tipps für die Erziehungspraxis darf man von einem Theoretiker wie Luhmann zwar ohnehin nicht erwarten, aber auch für Praktiker dürften seine systemtheoretischen Analysen von Problemen des Unterrichtsalltags recht interessant und z.T. sogar amüsant zu lesen sein, zumal sie im bekannten Luhmannschen Stil oft etwas zugespitzt und lakonisch formuliert sind.


Dr. Werner Scheibmayr
München

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Ins Netz gestellt am 29.08.2003
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IASLonline ISSN 1612-0442
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Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten PD Dr. Claus Michael Ort. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Katrin Fischer.


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Anmerkungen

1 Weiterführend in diesem Punkt: Werner Scheibmayr: Niklas Luhmanns Systemtheorie und Charles S. Peirces Zeichentheorie. Zur Konstruktion eines Zeichensystems. Tübingen: Niemeyer [im Erscheinen].   zurück