Scheitler über Reiseberichte von Frauen - Preprint

Irmgard Scheitler

REISE BERICHTE VON FRAUEN

Literatur

   Gabriele Habinger: Eine Wiener Biedermeierdame erobert die Welt. Die Lebensgeschichte der Ida Pfeiffer (1797-1858). Wien: Promedia 1997. 160 S.

   Karolina Dorothea Fell: Kalkuliertes Abenteuer. Reiseberichte deutschsprachiger Frauen (1920-1945). (Ergebnisse der Frauenforschung 49) Stuttgart, Weimar: Metzler 1998. 375 S.

   Annette Deeken, Monika Bösel: "An den süßen Wassern Asiens". Frauenreisen in den Orient. Frankfurt a. M., New York: Campus 1996. 299 S.

   Peter J. Brenner (Hg.): Reisekultur in Deutschland. Von der Weimarer Republik zum "Dritten Reich". Tübingen: Niemeyer 1997. 294 S.



Die Lebensgeschichte der Ida Pfeiffer
– nacherzählt

Gabriele Habinger gibt seit Jahren im Wiener Promedia-Verlag die "Edition Frauenfahrten" heraus, die dem Nachdruck von Reisebüchern von Frauen gewidmet ist. Inzwischen liegt das Werk Ida Pfeiffers hier fast vollständig in handlichen, liebevoll bebilderten Bänden vor. 1 Die Genugtuung über das Interesse an dieser ungewöhnlichen Frau ist aber doch getrübt: Habingers "Neuauflagen" sind keine vollständigen Nachdrucke, sie kürzen, bereinigen, wählen aus. Für den wissenschaftlich Arbeitenden jedenfalls ist dies ein Ärgernis. Schon vor Jahren nämlich edierte Ludwig Plakolb die Reise einer Wienerin als bearbeiteten (!) Neudruck in der "Bibliothek klassischer Reiseberichte". 2 Ist Ida Pfeiffer nur durch Überarbeitungen zu retten?

Für ihre 1997 erschienene Lebensgeschichte der Ida Pfeiffer konnte Gabriele Habinger auf eine Reihe eigener einschlägiger Arbeiten zurückgreifen: Vorworte zu den einzelnen Bänden der Neuausgaben sowie zwei biographische Artikel. Auf deren populärem Niveau bleibt auch die Monographie stehen. Wissenschaftliche Beiträge wie die 1989 erschienene, gründlich recherierte Darstellung Hiltgund Jehles, hat sie zwar in ihrer Literaturliste aufgeführt, aber nicht verarbeitet. 3 Der wichtigste Beitrag zu Ida Pfeiffer, der hervorragende Aufsatz von Helga Schutte Watt, ist der Autorin leider entgangen. 4

Habinger schreibt romanhaft, bisweilen sogar betulich, v. a. ohne die nötige Distanz des Forschers zu seinem Gegenstand. Sie möchte dem Leser ihre Ida Pfeiffer nahebringen, indem sie von ihr erzählt, indem sie sie nacherzählt. Ob Ida Pfeiffer als Person interessant genug ist, den Leser über 145 Seiten zu fesseln? Mir scheint, gerechter wäre das Buch seinen Lesern und seinem Gegenstand geworden, hätte es die naiv-bewundernde Haltung zugunsten einer kühleren, kritischeren abgelegt, hätte es auch die Schwächen dieser Frau aufgezeigt, die persönlichen und die vielfachen zeitbedingten, hätte es Vergleiche angestellt mit Zeitgenossen und Zeitgenossinnen.

Das Buch beginnt mit einer Darstellung von Kindheit und Jugend (weitestgehend gestützt auf die Biographie des Sohnes Oscar Pfeiffer) und der Ehejahre – insgesamt nimmt das 16 Seiten in Anspruch. Der Rest des Buches wird gefüllt mit der Nacherzählung dessen, was Ida Pfeiffer selbst geschildert hat: die Reisen mit Freuden und Leiden, Abenteuern, Triumphen und Enttäuschungen. Habinger schreibt quasi Pfeiffers Text nach, vielfach in Textauszügen, ansonsten in Zusammenfassungen. Sie fragt nicht, welchen Wert Urteile und Ansichten haben oder haben können, in welchem Verhältnis Erlebtes und Beschriebenes stehen, sie isoliert nicht Ida Pfeiffers Auswahlkriterien und Neigungen, sie übernimmt Vorurteile, ohne diese als solche zu erkennen, v. a. aber abstrahiert sie nicht von Ida Pfeiffers Selbststilisierungen. Gehen Selbstinszenierungen unvermeidlich schon mit dem Prozeß der Literarisierung von Erlebnissen einher, so ist bei einer Autorin, die wie Ida Pfeiffer einer Fülle von einengenden Konventionen unterlag, noch mehr zu erwarten, daß Stereotypen auf das eigene Ich angewandt und antizipierte Publikumserwartungen erfüllt werden.

Ida Pfeiffer hat zu ihrer Zeit eine Reihe von Anerkennungen erhalten, die als ungewöhnlich für eine Frau zu bezeichnen sind. Ihre Verdienste für die Naturwissenschaft und die Ethnologie sind nicht zu übersehen. Bei alledem ist aber zu bedenken, daß sie absolute Autodidaktin war und einzig auf sich gestellt. Der Mangel an gründlichen Kenntnissen, freilich auch an Hilfsmitteln und Mitarbeitern mußte sich negativ auf die Ausbeute aus ihren Unternehmungen auswirken. Unter besseren Bedingungen hätte sie das viele, was sie dank ihrem außerordentlichem Mut und ihrer Zähigkeit gesehen hat, besser wahrnehmen, besser kategorisieren, besser festhalten können. Gleiches gilt auch für den literarischen Wert ihrer Aufzeichnungen, der – und dies muß trotz allem Respekt vor dieser ungewöhnlichen Frau gesagt werden dürfen – gering ist und nicht zu vergleichen mit Reisewerken etwa ihrer englischen Geschlechtsgenossinnen.

Den Bedingungen von Ida Pfeiffers Denken und Handeln nachzuspüren, ihren Platz auf dem literarischen und naturwissenschaftlichen Terrain ihrer Zeit auszuloten, die persönliche Tragik dieses verhinderten Wissenschaftlerlebens deutlich zu machen, hätte ein spannenderes Buch ergeben als die bloße Nacherzählung dessen, was man eigentlich besser im Originaltext liest.

Welche Rezipientenschaft Habinger im Visier hatte und welche sie tatsächlich finden wird, bleibt abzuwarten. Wissenschaftler werden es wohl kaum sein, diese sind in Fragen der Biographie, 5 der Reisetätigkeit 6 und der Literarizität der Niederschriften 7 anderswo besser bedient.


Frauen in den USA und in den Kolonien,
Frauen als Autoreisende und Fliegerinnen

Karolina Dorothea Fell legt mit ihrem Buch über Reiseberichte deutschsprachiger Frauen (1920-1945) ihre Disseration 1997 vor, die in die Reihe "Ergebnisse der Frauenforschung" an der FU Berlin aufgenommen wurde. Als Ergänzung der Reiseforschung ist Fells Untersuchung unbedingt zu begrüßen: Zum einen beschäftigt es sich mit einem Zeitabschnitt, der bislang wenig beachtet wurde. Zum anderen drängt es den weißen Fleck auf der Landkarte >Frauenreisen< wieder ein weiteres Stück zurück. Bislang war ja nicht einmal das Korpus der einschlägigen Niederschriften aus dieser Zeit bekannt. Was Fell in ihrem Buch auf 16 Seiten an Titeln gesammelt hat, ist Pionierarbeit.

Fells Buch untersucht hauptsächlich die inhaltliche Seite der Texte. Es beginnt mit einem Kapitel "Autoreisen", zugleich ein interessanter kulturgeschichtlicher Überblick zum Thema >Auto<. Dann geht die Autorin dem Phänomen >Fremdwahrnehmung< nach, wobei nicht nur gemeint ist, wie Europäer außereuropäischen Völkern begegnen, sondern vornehmlich: Wie empfinden weiße Frauen gegenüber außereuropäischen Männern? 8

Mit politischen und sozialen Aspekten beschäftigt sich das Kapitel über USA-Reisen. Deutschland hat eine, wenn auch kurze, Kolonialtradition, die in der Forschung bisher lieber unberührt gelassen wurde. Fell untersucht Berichte deutscher Kolonialfrauen aus Afrika auf rassistische und revanchistische Tendenzen hin und geht in einem weiteren Kapitel antikolonialistischen und zivilisationskritischen Darstellungen nach. Das letzte Kapitel widmet sich der Fliegerei, die bereits in ihrer Frühzeit nicht nur Domäne der Männer war.

Vorangestellt ist eine ausführliche Einleitung und ein wenig homogenes 2. Kapitel. Der ehrgeizige Plan, in ihm einen historischen Durchzieher durch die Geschichte des Reisens von Frauen von der Antike bis 1945 zu bieten, hat Fell begreiflicherweise überfordert. Zu den Epochen bis 1900 bringt sie nicht viel und muß oft, um Substanz zu finden, auf ausländische Textzeugen zurückgreifen, obwohl sich das Buch ansonsten auf deutsche Literatur beschränken möchte.

Wenigsten zwei Fehler müssen, auch wenn man nicht beckmesserisch sein will, angemerkt werden: Autorin der Briefe einer Curländerinn auf einer Reise durch Deutschland ist nicht Sophie Schwarze, sondern Sophie Marie Schwarz, geb. Becker, die Freundin und Begleiterin der zu ihrer Zeit berühmten Elisa von der Recke. Sophie von La Roche sollte nicht in "de La Roche" umgetauft werden.

Wirklich interessant, gründlich und ausführlich wird das gleiche Kapitel, sobald es das 20. Jahrhundert erreicht. Dann stellt der Text wesentlich mehr dar als eine bloße Übersicht: er analysiert, kategorisiert. Die Frauenreisen werden nach Motiven, Reiseumständen, geographischen Zielen und biographischen Bedingungen wie z. B. dem Beruf der Autorin geordnet.

Fells Anliegen ist es, jeweils auch >heiße Eisen< anzufassen, d. h. die ganze Bandbreite der ideologischen Tendenzen darzustellen. Sie weist darauf hin, daß Frauen auch als Fliegerinnen nicht nur Abenteuer und Freiheit suchten, sondern sich genauso für das totalitäre Hitlerregime einspannen ließen, daß sie nicht weniger revanchistisch waren als Männer, daß sie anderen Völkern gegenüber ebenso von Vorurteilen und europäischem Dünkel behaftet waren wie Männer.

Fells Buch ist eine Kulturgeschichte der Frauenreisen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, es berücksichtigt viele Aspekte und ist gut und flüssig geschrieben. Wer in dem vorliegenden Buch freilich einen Beitrag zur literarischen Form >Reisebericht< oder Textanalysen sucht, wird enttäuscht sein. Obwohl es sich um eine germanistische Dissertation handelt, wird ein literaturwissenschaftliches Anliegen nicht verfolgt.


Theoriedefizit:
Texte als Steinbruch

Die Darstellung bietet keinen gattungstheoretischen Ansatz: Daß Fell die wichtigsten einschlägigen Arbeiten zu Gattungsfragen kennt, beweist sie mit einer Fußnote. Eine halbe Seite in der "Einleitung" genügt für gattungstheoretische Probleme; dann werden sie resignierend zur Seite gelegt. Freilich leidet der Haupttext, der die Textzeugen auf ihre inhaltlichen Aussagen und deren psychische oder soziale Muster hin durchforstet, unter diesem Theoriedefizit: Wenn Fell Erleben und Denken der Autorinnen in den Vordergrund stellt, so müßte auch bedacht werden, daß wir von alledem nur durch den Filter einer literarischen Darstellung erfahren und daß sich diese literarische Darstellung an Muster hält, rhetorische Absichten verfolgt, ein intendiertes Publikum mit einschlägiger Leseerfahrung anspricht etc.

Fell jedoch bevorzugt, wie sie selbst angibt, "biographische und sozialhistorische Herangehensweisen", weil "diskursanalytische und dekonstruktivistische Methoden eine stärkere Tendenz gezeigt [hätten], sich zu verselbständigen" (S. 14). Die Texte werden einfach als Steinbruch für geistesgeschichtliche Betrachtungen benützt. Reise und Reisebeschreibung werden gleichbehandelt. Die Autorin geht offenbar davon aus, daß der Text einer Reisebeschreibung die tatsächliche Reise übereinstimmend abbildet und setzt das eine für das andere. Die Spezifika des Reiseunternehmens interessieren sie mehr als deren literarische Manifestation. Dies mag eine Folge des primär kulturkritischen und kulturhistorischen Ansatzes sein, führt aber dazu, daß die Reisebücher allzu direkt und philologisch unkritisch als Lebens- und Erlebenszeugnisse genommen werden.


Fells Stellung zu Fragen der Genderforschung
– feministische Stereotype und moralische Wertung

Ein Reflexionsdefizit muß man auch in Fells Stellung zu Fragen der Genderforschung beobachten. War Fells Position im Fall der Gattungsdiskussion allzu minimalistisch, so ist sie hier rein defensorisch. Zu eigenen positiven Standpunkten oder Ergebnissen kann sie nicht finden. Dies überrascht angesichts der thematischen Beschränkung auf >Frauenreisen<. Die Zusammenfassung am Schluß kommt denn auch zu dem Ergebnis, "daß Frauenreiseberichte unter literarhistorisch relevanten Gesichtspunkten keine Sonderstellung einnahmen" (S. 247). Die Stellungnahme zur geschlechtsspezifischen Problematik beschränkt sich auf eine Zurückweisung überholter Positionen der feministischen Literaturwissenschaft, wie z. B. optimistischer, mystizistischer, kontroverser Positionen. Es ist wohltuend, daß sich Fell nicht dem Vorurteil anschließt, eine emanzipierte Frau sei auch politisch fortschrittlich, antitotalitär, antirassistisch, tolerant und aufgeschlossen, beweisen doch die Texte das Gegenteil. Zurecht wehrt sich Fell dagegen, die Frauen ihrer Epoche auf bestimmte Verhaltensmuster zu festzulegen, vorschnell Reise mit Emanzipation gleichzusetzen und diese als Allheilmittel zu verherrlichen oder frauenbezogene Darstellungen auf >vorbildliche< Figuren und >gute< Texte zu beschränken.

Über diese Sichtbeschränkungen, Vorurteile und Festlegungen ist die Genderforschung freilich schon hinaus, wie Fell an einer Stelle auch selbst zugeben muß (Anm. 31, S. 256). Vielmehr muß die Frage gestellt werden, ob Fell nicht ihrerseits einer überholten feministischen Literaturwissenschaft anhängt, weil sie allzusehr mit moralischen Wertungen operiert und ihre Darstellung weitgehend diesem Kriterium unterwirft. Auch das Abrücken von >interesseloser< Wissenschaft zugunsten von persönlichem Engagement und Wertung war eines der Fundamente eines – überholten – feministischen Glaubensbekenntnisses.

Es ist bedauerlich, daß die Autorin diese feministischen Stereotype vergangener Jahrzehnte zu einer Art Popanz aufbaut, gegen den sie dann mit immer erneuten Schlägen ankämpft. Damit ist diesen Positionen zu viel Ehre angetan. Daß Ressentiments gegen fremde Menschen und Kulturen nichts mit dem Geschlecht, sondern mit der Bildung und Urbanität der urteilenden Person zu tun haben, versteht sich eigentlich von selbst und ist schon vor Jahren von Hans Christoph Buch in einem kleinen, aber brillianten Vergleich zwischen dem Fürsten Pückler und Ida Pfeiffer demonstriert worden. 9

Bedauerlich ist aber auch, daß sich Fell durch ihre Opposition gegen geschlechtsspezifische Positionen womöglich der Möglichkeit begeben hat, tatsächlich weibliche Spezifika in ihren Texten zu entdecken. Um ein Beispiel zu bringen: Gefragt wird, ob Frauen bei der Beurteilung des Phänomens Harem ihre "kolonialistischen" europäischen Wertmaßstäbe mitbringen oder ob sie so tolerant, diskret und solidarisch sind, wie dies – aufgrund einer nicht näher begründeten, sondern stillschweigend angenommenen moralischen Übereinkunft – angebracht wäre. Ist dies nicht der Fall, so schwindet für Fell der Unterschied zwischen männlicher und weiblicher Wahrnehmung. Gäbe es hier aber nicht noch weitere Differenzierungsmöglichkeiten – jenseits von ethischem Rigorismus?

Schade ist auch, daß sich die Autorin durch den Kampf gegen falsche feministische Positionen auf das Terrain der rein inhaltlichen Betrachtung hat locken lassen, obwohl der Blick auf die vorliegenden Forschungsergebnisse gezeigt hat, daß dieser Ansatz nicht trägt. Eine intensivere Auseinandersetzung mit den Texten als solchen hätte womöglich mehr Gendertypisches zutage gefördert: Man hätte das Augenmerk richten können auf Selbststilisierungen der Autorinnen, Klischees, literarische Vorbilder, Textstrukturierungen, Kriterien der Textredaktion, Publikumserwartungen, Stil, Vergleiche mit Texten männlicher Autoren und ausländischer Autorinnen. Z. B. wird das interessante Phänomen einer Politisierung der Reiseberichte in der Zeit der Weimarer Republik in wesentlichen nur aus der Sekundärliteratur referiert, aber an den Reisetexten selbst zu wenig demonstriert. Besonders die Behauptung, es gäbe keine signifikanten Unterschiede zwischen Texten von Männern und Frauen, hätte man sich an Einzelbeispielen belegt gewünscht. Phänomene, die dieser These widersprechen, z. B. Demutstopoi, weibliche Rivalität, Partnerbezogenheit, Fehlen von feuilletonistischen Schreibweisen werden marginalisiert.

Eine Straffung hätte das Buch benützerfreundlicher gemacht. Der Textteil enthält viele Wiederholungen, der Anmerkungsteil ist durch – teilweise unnötige – Auflistung von weiterführender Literatur auf 90 Seiten angeschwollen. Ein Register hingegen vermißt man schmerzlich.

Trotz dieser kritischen Anmerkungen muß noch einmal hervorgehoben werden: Fells Buch ist interessant und gut zu lesen und beweist eine exzeptionelle Textkenntnis. Es füllt darüberhinaus eine peinliche Forschungslücke und ist ein sehr begrüßenswerter Beitrag zu einem bisher weitgehend unbekannten Gebiet der Reiseliteratur im 20. Jahrhundert.


Nachzeichnung einer Reise in den östlichen Mittelmeerraum
– eine vergnügliche Lektüre von leichter Hand

Ein viel lockerer geschriebener Beitrag zum Thema >Frauenreisen< ist An den süßen Wassern Asiens. Die beiden Autorinnen, die Medienwissenschaftlerin Annette Deeken und die Soziologin Monika Bösel, stellen im wesentlichen deutschsprachige Berichte aus dem 19. Jahrhundert vor, die Reisen in den östlichen Mittelmeerraum, das nicht-europäische Herrschaftsgebiet des Osmanischen Reiches zum Gegenstand haben. 10 Die vielen Textauszüge, die zeitgenössischen Bilder, der biographische Anhang und das Personen- und Ortsregister machen das Buch zu einem gefälligen Werk, das man gern in die Hand nimmt.

Streng wissenschaftliche Ambitionen verfolgen die Autorinnen nicht; sie wagen auch einmal eine kühnere, weniger abgesicherte Behauptung, ein pauschales Urteil. Ungleich Fell wissen sie ihren Anmerkungsteil und ihre Literaturangaben auf ein knappes Maß zusammenzustreichen, freilich zu knapp. Es ist mühevoll, beständig mit drei Textstellen zu arbeiten: dem Haupttext, den Anmerkungen und dem Literaturverzeichnis.

Auch in der Erfassung der reisenden Frauen ist offensichtlich keine Vollständigkeit angestrebt: Es fehlen z. B. die Erinnerungen der Regula Engel-Egli, die mit dem Heer Napoleons in Ägypten war; 11 ebenso der unkonventionelle Text von Anna Forneris, 12 die als einfaches Bauernmädchen von Abenteuerlust getrieben viele Jahre im Orient zubrachte. Ungern verzichtet man auf die Ägyptendarstellungen von Frau von Minutoli 13 und von Sophie Rohe. 14 Wolfradine von Minutoli, die Gattin des berühmten Generals Heinrich Menu von Minutoli, der selbst als Reiseschriftsteller hervorgetreten ist, war Deutsche (eine geb. Gräfin Schulenburg), schrieb aber französisch. Ihre Reisebeschreibung, die sich durch einen wesentlich höheren Anspruch auf Informationsvermittlung und das völlige Fehlen von Demutsformeln vor den deutschsprachigen Vergleichswerken auszeichnet, hätte in einen Rahmen, in dem auch Lady Craven wegen ihrer ansbachischen Heirat einen ehrenvollen Platz einnimmt (S. 98-101), gut gepaßt. Esperance von Schwartz, in ihrer Freiheit des Denkens und ihrer Gewandtheit des Ausdrucks ebenso wie in ihrer Art des Reisens (sie war zu Pferd unterwegs) eine Ausnahmeerscheinung unter den deutschspachigen Schriftstellerinnen des 19. Jahrhundert, findet sich nur erwähnt und nicht ausgewertet, was sehr zu bedauern ist, hätte doch diese Frau das Spektrum erheblich erweitert.

Dies ist kein Buch für einschlägig Forschende. Tatsächlich ist es nicht nur mit leichter, sondern manchmal mit allzu leichter Hand gemacht – v. a. wenn man bedenkt, daß die beiden Forscherinnen in der Fachhochschule Darmstadt mehrere Jahre schwerpunktmäßig über dieses Thema gearbeitet haben.

Es kommt schon hin und wieder vor, daß im Haupttext ein Zitat nicht belegt ist (z. B. S. 19, 23, 36), daß Goethe aus der Sekundärliteratur (S. 18 &150; es handelt sich um die Wahlverwandtschaften) und Ida Pfeiffer nach einer unzuverlässigen Bearbeitung zitiert wird (sämtliche Zitate aus Reise einer Wienerin folgen Plakolbs Bearbeitung), daß der Sinn eines Zitates, dessen Ironie, nicht erfaßt wurde, weil es eben nicht im Zusammenhang gelesen (S. 21), daß ein anderes Zitat durch Abschreiben verstümmelt wurde (S. 23). Das Buch hat auch keine Scheu, Klischees zu transportieren – z. B. scheint mir die Verbindung zwischen morgenländischer Exotik und Erotik mehr dem spielerischen deutschen Orientalisieren zuzugehören, als daß vor diesem Hintergrund Reisebeschreibungen rezipiert worden wären. Die erfolgreichsten Bücher der zweifellos wichtigsten Vermittler von Kenntnissen über den Orient, Hammer-Purgstall, Prokesch-Osten, Fallmerayer, richteten ihr Augenmerk jedenfalls nicht primär auf Odalisken.

Schon auf der ersten Seite des ersten Kapitels legen die Autorinnen das Fundament ihrer Betrachtungen mit der ganz selbstverständlich vorgetragenen These:

Dennoch haben sich Frauenreisen zu einer eigenständigen Form innerhalb der Reisekultur entwickelt.(S. 13)
Frauenreisen als Sonderform der Reisekultur – von Fell explizit abgelehnt, von Deeken und Bösel vorausgesetzt – so entgegengesetzt sind die Positionen. Frägt man aber nach den Gründen, so wird man enttäuscht. Literaturwissenschaftliche Fragen wie Stil und Darstellungsform interessieren die Autorinnen nicht. 15 Hier nämlich sehen sie keinen Unterschied zwischen Reiseberichten männlicher und weiblicher Schriftsteller. Belege für diese – unrichtige – These oder Textvergleiche werden aber nicht geboten. 16 Dagegen wagen Deeken / Bösel die höchst zweifelhafte Behauptung, Frauen konzentrierten sich anders als Männer auf die eigene Anschauung (S. 37).

Tatsächlich galt es für Männer und Frauen als Ehrensache, das Beschriebene selbst gesehen zu haben, beigezogene fremde Texte aber als solche zu kennzeichnen. Es ist weder richtig, daß Frauen keine fremden Texte in ihre eigenen einlegten oder auf Dokumente zurückgriffen, noch trifft es zu, daß Frauen es mit dem Prinzip der Autopsie genauer genommen hätten als Männer. Gerade die Nachlässigkeiten in dem letzten Punkt trugen der berühmten "Reisendin" Ida Hahn-Hahn einen spektakulären Verriß ihrer Orientalischen Briefe durch Jakob Philipp Fallmerayer ein. 17 Die Substanz von Fallmerayers Kritik ist Deeken / Bösel entgangen; sie mokieren sich nur über dessen Sarkasmen bezüglich des Reisekostüms der Gräfin Hahn-Hahn (S. 112).


Der Harem
– ein Reisemotiv für Frauen?

Fragwürdig scheint mir auch die Behauptung, Motiv für Orientfahrten sei die Aussicht gewesen, einmal Männern etwas voraus haben zu dürfen, nämlich den Kontakt mit Orientalinnen (S. 37f., 251f., 253f.). Freilich haben reisende Europäerinnen gern einen Harem besucht; in allen Ländern aber interessierten sie sich für Frauenleben und Haushaltung. Als Reisemotiv spielt die Privilegierung, Orientalinnen sehen zu dürfen, keine Rolle. Ida Hahn-Hahn freut sich in einem Brief an den Bruder (!) zwar diebisch darüber, daß hier ein für Männer Unbetretbares für sie zugänglich sei; auch sie nennt aber in der ausführlichen Darlegungen ihrer Reisemotive zu Beginn der Orientalischen Briefe ganz anderes. Sicher ist es unverhältnismäßig, wenn Deeken / Bösel gegen Ende ihrer Darstellung meinen:

Ihren besonderen Stellenwert verloren die Frauenreisen in den Orient, als im Frühjahr 1909 der Harem des Sultans abgeschafft wurde (S. 253).
In seinen Kapiteln zeichnet An den süßen Wassern Asiens gleichsam eine Reise nach. Vorbereitungen und Abreise (Kap. 2), Begegnung mit Konstantinopel (Kap. 3), Haremserlebnisse und Frauenbekanntschaften (Kap. 4), Syrien und Libanon (Kap. 5), Palästina (Kap. 6), Ägypten (Kap. 7), Heimreise (Kap. 9). Kap. 8 macht einen zeitlichen Sprung in die Epoche der neuen Verkehrsmittel und des angehenden Massentourismus. In jedem Kapitel stellen die Autorinnen die verschiedenen Stimmen der Reisenden zusammen und ordnen sie kommentierend in einen größeren kulturellen Verstehenszusammenhang ein. So ergibt sich eine Kulturgeschichte des Reisens im 19. Jahrhundert, zumal die Autorinnen nicht sklavisch auf Bücher von Frauen fixiert sind, sondern auch Phänomene wie die Pilgerfahrt Kaiser Wilhelms II. oder die Entwicklung der Tourismusfirma Thomas Cook mit einbeziehen.

Ein Unterschied zwischen Reisen und Reisebeschreiben wird auch bei Deeken / Bösel – wie schon bei Fell – nicht gemacht. Auch hier gelten wieder die Texte als Bruchsteine für ein – zweifellos interessantes – kulturhistorisches Bauwerk. Leider spielt auch die Aussagekraft der Berichte keine Rolle. Wenn es freilich heißt, viele Reisende hätten sich bei ihrer Darstellung mit Attributen wie "pittoresk, malerisch, typisch orientalisch" zufriedengegeben, hätten die fremde Welt als eine Art Theaterkulisse behandelt (S. 172), so fragt man sich doch, wieviel Authentizitätswert solchen defizitären Beschreibungen zukommt und ob man sie schlicht als Abbilder der erlebten Wirklichkeit benützen darf.

Der einzige Abschnitt, der explizit die Niederschriften und deren Leserschaft zum Gegenstand hat ("Die Reise >klüglich an den Mann< bringen", S. 146-148) krankt an mangelnder Substanz. Das Literaturverzeichnis weist nicht eine einzige zeitgenössische Rezension eines Reisebuches auf. Die lockere Behauptung "So mußte Ida Hahn-Hahn enttäuscht feststellen, daß ihre Orientalischen Briefe zwar Leserinnen fanden, daß ihr aber die Literaturkritik keinen bedeutenden Rang als Schriftstellerin zubilligte" (S. 247) hätten die Autorinnen vermeiden sollen. Sie ist einfach nicht haltbar. 18

Alle diese Einwände gelten freilich im Grunde für den wissenschaftlichen Benützer. Der Laie, der sich über die Persönlichkeiten und die Reisen von Frauen im vorigen Jahrhundert und für eine Kulturgeschichte des Reisens interessiert, wird an dem Buch eine lehrreiche und angenehme Lektüre haben. Das Thema >Orient< tut auch in unserem nüchternen Zeitalter noch seine Wirkung und die leichte Verstaubtheit der hier referierten Reisebücher erhöht für den modernen Leser eher noch den Reiz.


>Reisekultur<:
Voraussetzungen und Folgen des Reisens

Peter J. Brenner, der seit seiner Habilitationsschrift über Amerikareiseberichte 19 eine Reihe von Untersuchungen zur Reiseliteratur vorgelegt hat, 20 veröffentlicht mit dem Band Reisekultur in Deutschland die Ergebnisse einer Tagung, die er 1994 zusammen mit Wolfgang Griep zu dem wenig erforschten Themenkomplex "Reisen 1918-1945" in Eutin durchgeführt hat. Die um zwei zusätzliche Aufsätze ergänzten Beiträge, die nun als handlicher Sammelband in Taschenbuchform vorliegen, stammen von vorzüglich ausgewiesenen Wissenschaftlern. Gegenstand der Buches ist die Erforschung der >Reisekultur< jener Jahre, d. h. alles was zu den Voraussetzungen oder den Folgen des Reisens gehört: Verkehrsmittel, Unterbringung, Reisebüros, Werbung, Wanderlieder, Reiseführer, Reiseberichte, Reflexionen zum Thema Reise.

Brenner betont in seiner Einleitung die Bedeutung der gesellschaftlichen Wandlung in den Jahren der Weimarer Republik. Erstaunlicherweise widmen sich weitaus die meisten Beiträge des Bandes aber nicht dieser faszinierenden Etappe der >Modernisierung< Deutschlands, sondern der Epoche des sog. >Dritten Reichs<. Dies ist umso verdienstvoller, als man über die bislang weitgehend tabuisierten Jahre der Hitlerdiktatur wenig genaue Vorstellungen hatte. Tatsächlich nämlich gehen hier gesellschaftliche Prozesse, wenn auch mit anderem ideologischen Vorzeichen weiter.

In überzeugender Stringenz zeigt dies gleich der erste Beitrag des Berliner Tourismusforschers Hasso Spode: Er stellt die Errichtung eines Massenbades auf der Insel Rügen in den geistesgesschichtlichen Zusammenhang der Rationalisierung und Effizienzsteigerung, wie sie Frederick Taylor theoretisch fundiert 21 und Henry Ford in seinen Autofabriken praktiziert hat. Durch Rationalisierung der Versorgungsleistungen analog der Fließbandproduktion sollten auch am Prorer Wieck die Menschenmassen einen für alle erschwinglichen Badeurlaub bekommen. >Kraft durch Freude<, so Spode, kam als weltweit größter Urlaubsanbieter erstmals der modernen Forderung nach einem Urlaub für alle nahe, hatte man doch festgestellt, daß nicht nur Materialermüdung, sondern auch Menschenermüdung die Effektivität der Produktion behinderte.

Christine Keitz ist seit ihrer Berliner Dissertation (1992) durch mehrere Veröffentlichungen zum Massentourismus in der Weimarer Republik bestens ausgewiesen. 22 Im vorliegenden Band zieht sie Grundlinien einer Sozialgeschichte des Tourismus jener Jahre, indem sie die Voraussetzungen eines "modernen Massentourismus" in sechs Punkten auflistet und diese Parameter auf die Zwischenkriegszeit anlegt. Hierher gehören z. B. der garantierte Urlaubsanspruch für Arbeiter, die Bereitstellung billiger Unterkünfte, die Beeinflussung der Mentalität durch Werbung für die breiten Massen. Schon vor dem KdF-Boom, so Keitz, setzt ein Strukurwandel ein: Der Wunsch nach Ferien überwindet die traditionelle Milieubindung. Ihren letzten Punkt, diese soziologischen Phänomene für die Beurteilung der zeitgenössischen Reiseliteratur fruchtbar zu machen, kann Keitz leider nur mehr als Forschungsdesiderat anmahnen.

Der Berliner Germanist Erhard Schütz verfolgt den Mythos >Autobahn< zurück zu seinen von Dichtern besungenen Wurzeln im >Dritten Reich<. 23 Deutlich wird dabei die professionelle Inszenierung dieses Mythos; sie reicht von der angeblich genialen ersten Idee des Führers, diese "Kunstwerke" für Deutschland zu erfinden (Pläne wurden im Reichstag schon längst diskutiert), über die Sage von der >ersten Autobahn< (es gab schon von 1933 die AVUS und den Abschnitt Bonn-Köln) bis zu der theatralischen Demonstation von Straßenbau als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme. Untermauert wird der Mythos durch die Behauptung, daß die Liebe zur Fortbewegung per Auto den germanischen Völkern im Blut läge und daß sie ein Teil der "deutschen Rationalisierung" durch Effizienzsteigerung sei. Schütz hat gründlich recheriert in zeitgenössischen Zeitschriften und Aktenstücken, Propagandamaterial, Monographien und Poesien; unter den Autoren der letzteren trifft man auf einige bekannte Namen.

Der Artikel von Johannes Graf wendet sich René Hockes Parisbericht Das geistige Paris von 1937 zu. 24 Er entstand zu einer Zeit, da Hocke in der Kulturredaktion der Kölnischen Zeitung arbeitete. Seine Reisebeschreibung über die 6. Internationale Weltausstellung, zuerst als Artikelserie veröffentlicht, dann ein schmaler Separatdruck, nimmt Graf als Exempel, um eine Lanze für die Beschäftigung mit Reisebeschreibungen aus der NS-Zeit zu brechen. Die Gegenüberstellung von Eigenem und Fremden habe auch in dieser Epoche Chancen zur Meinungsäußerung geboten. Immerhin, so Graf, gab es für eine Weile in den Feuilletons einen gewissen Freiraum: Hocke stellt mit deutlicher Kulturkritik den französischen >Erbfeind< als Vorbild für Deutschland hin, als Vertreter des >Geistes< und damit als Antipoden des antiintellektuellen, als dekadent empfundenen Mystizismus im nationalsozialistischen Deutschland.

Der längste und gewichtigste Beitrag des Bandes stammt vom Herausgeber selbst: Brenner nimmt sich die "Wandlungen des Reiseberichts in Deutschland 1918-1945" vor. Gerade für die Reisebeschreibungen aus der Zeit der Weimarer Republik ist eine große Variationsbreite zu verzeichnen. Gleichwohl ist ihnen allen gemeinsam:

Das Exotische als Medium der Zivilisationskritik hat abgedankt (S. 130).
An seine Stelle tritt die feuilletonistische Perzeption und Beschreibung, die auch den Unterhaltungswert einer Niederschrift im Auge hat. Die Erforschung der Reiseliteratur in der Zeit des >Dritten Reiches< steckt noch in den Anfängen; soviel aber darf festgehalten werden: Trotz der >Gleichschaltung< und rationalisierten Durchorganisation des Tourismus, trotz der Benützung der beliebten Gattung für propagandistische Zwecke blieb noch eine Privatsphäre, die Autoren für sich und ihre Reisetexte nutzen konnten, vorausgesetzt, sie verhielten sich in politischer Hinsicht unauffällig oder angepaßt.

Das Beispiel der Amerika-Reiseberichte zeigt sogar eine gewisse Kontinuität: Manche der stereotyp positiven oder negativen Urteile lassen sich literarhistorisch weit zurückverfolgen. Eine eigene Subspezies sind Reisen in die Sowjetrepublik; hier können Urteile u. U. mehr von der Opposition gegen die nationalsozialistische Rußlandverteufelung als von objektiven Kriterien geprägt sein. Daß das >Dritte Reich< trotz seiner mythisierenden Ideologie auch den Symblonen der Moderne huldigte, beweist die Begeisterung für Flugreisen, gerade auch bei Frauen. In seiner Betrachtung der Reiseberichte von Inge Stölting und Elisabeth Schucht (S. 163-168) überlappt sich Brenners Untersuchung vom Gegenstand her mit dem Buch von Fell (das freilich auf diese beiden bekannten Autorinnen nicht eingeht). Gerade dadurch wird die Differenz im Ansatz deutlich: Brenner fragt nach Aussageabsichten, literarischen Traditionen, stilistischen Merkmalen, dem Verhältnis von Beschreibung und Ich-Aussage etc., d. h. er behandelt, anders als Fell, die Texte als literarische Einheiten.

Mechthild Leutner beschäftigt sich seit Jahren mit Fernosterfahrungen deutscher Reisender und legt in ihrem Artikel eine Zusammenstellung deutschsprachiger "Reisebeschreibungen von Frauen über China" vor. Freilich gehören strenggenommen nicht alle besprochenen Texte in den gesteckten Rahmen: Ida Pfeiffer ist eine frühe Vorläuferin, Elisabeth von Heyking veröffentlichte keine Reisebeschreibung, sondern schrieb nicht für die Publikation gedachte Tagebücher, Ella Maillart ist Schweizerin und gehört mithin trotz des Veröffentlichungsjahres 1935 nicht zu den Bürgern des >Dritten Reichs<. Tatsächlich ist sie, die sich wirklich auf die Erfahrung des fremden Landes einläßt, eine statistische >Ausreißerin< unter den hier versammelten Frauen, die sich als sehr voreingenommene Reisende präsentieren.

Bei der Beantwortung ihrer Leitfrage nach dem spezifisch Weiblichen stellt Leutner heraus, daß Frauen weniger Fakten berichten und stärker subjektivistisch betrachten und schreiben. Man könnte vielleicht ergänzen, daß die hier versammelten Texte deutscher Frauen dem Trend zum journalistischen Feuilletonismus ihrer männlichen Kollegen nicht folgen. Sie gehören noch mehr dem Exotismus der Jahrhundertwende zu. Dieser steht m. E. nicht nur hinter der schwärmerischen Darstellung Marie von Bunsens, sondern als enttäuschte Sehnsucht nach der Alternative auch hinter den bitteren Auslassungen von Hannah Asch u.a. Die Enge des Blicks, die monomane Fokussierung auf Hygiene als dem scheinbar wichtigsten Ausweis von Kultur läßt sich auch bei reisenden Frauen im 18. und 19. Jahrhundert beobachten und ist offensichtlich ein Ergebnis weiblicher Sozialisation. Nicht übersehen werden sollte Leutners einschränkende Bemerkung, daß nämlich der Befund von Reisebeschreibungen allein nicht ausreiche, um die Charakteristika von Selbst- und Fremderfahrung festzustellen. Dies darf wohl auch als Warnung vor allzu kurzschlüssiger Gleichsetzung von literarischen Reisetexten mit Erfahrungsprotokollen verstanden werden.

Alfred Döblins Reise in Polen (das nicht erwähnte Veröffentlichungsjahr ist 1926) widmet sich Karol Sauerbaum. Durch seine engagierte Nachzeichnung der Tour des Dichters, die dieser 1924 unternahm, um die Juden kennenzulernen, versteht es Sauerbaum, diesen Text dem Leser nahezubringen. Merkwürdigerweise erwähnt Sauerbaum nicht, daß Döblin selbst Jude war und sich somit bei dieser Reise auf die Spuren seiner eigenen Tradition machte. Stattdessen betont er Döblins in Polen gewonnene Affinität zum Katholizismus. Unerwähnt bleibt auch, daß es gerade diese Reise war, die einen Wandel in Döblins Menschenbild bewirkte.

Gisela Holfter untersucht je drei Irland- und Englandberichte aus der nationalsozialistischen Zeit und stellt fest: Während man in Irland unpolitisch reisen konnte, kamen über England, wegen der politischen Interessen an der >Brudernation<, überwiegend linientreue und bekennende Texte in Druck.

Der letzte, von Burckhard Dücker stammende Artikel des Buches hat Reisen in die Sowjetunion zwischen 1933 und 1945 zum Gegenstand, also zu einer Zeit, als die Epoche der zahlreichen, politisch motivierten SU-Reisen schon zuende war und das durch die herrschende Ideologie festgelegte Rußlandbild vorurteilsfreie und individuelle Wahrnehmung ebenso wie eine informative Berichterstattung eigentlich verhinderte. Dücker unterscheidet drei Gruppen: Heimkehrerberichte, Emigrantenberichte (die freilich erst nach dem Krieg zu lesen waren), Kriegsberichterstattung. Z.T. handelt es sich um Bekenntnisse von Renegaten, z.T. dienen die Berichte der Bestätigung der behaupteten Mentalitätsunterschiede und der >völkisch< und ideologisch bestimmten Fremdheit zwischen Russen und Deutschen. Es gibt jedoch auch den Versuch der "Reportage eines Unbefangenen", Rußland aus der Nähe, von Walther Allerhand (1936). Wie dieser Reisebericht zum Druck kommen konnte, hat Dücker leider nicht erläutert. Der noch unabhängigere, deutlich kritische Bericht des Schriftstellers Siegfried von Vegesack konnte erst 1965 erscheinen! Von ganz anderer Art sind die Darstellungen deutscher Emigranten, die 1934 zum 1. sowjetischen Schriftstellerkongreß und zu einer Reise eingeladen wurden. Diese harmonisierten – wofern sie in Rußland erschienen – weitestgehend das dort Gesehene mit der herrschenden Propaganda. In einem letzten Abschnitt bespricht Dücker – vom Rußlandreisebericht zum Rußlandbild der Deutschen schwenkend – Kriegsberichterstattung und Feldpostbriefe.

Wiewohl die Artikel nicht alle von gleicher Qualität sind und auch die Unterschiede in Ansatz und theoretischer Reflexion bisweilen leicht irritieren, so steht doch der Band als ganzer als ein sehr beachtlicher Forschungbeitrag da. U.a. Peter J. Brenner als dem wissenschaftlichen Initiator und Koordinator ist dafür zu danken.


PD Dr. Irmgard Scheitler
Schneebeerenweg 2
D-85072 Eichstätt

Preprint der im Internationalen Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur (IASL) erscheinenden Druckfassung. Ins Netz gestellt am 31.08.1999.

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Anmerkungen

1 Reise in das Heilige Land. Konstantinopel, Palästina, Ägypten im Jahre 1842. Wien 1995. – Nordlandfahrt. Eine Reise nach Skandinavien und Island im Jahre 1845. Wien 1991. – Eine Frau fährt um die Welt. Die Reise 1846 nach Südamerika, China, Ostindien, Persien und Kleinasien. Wien 1992. – Abenteuer Inselwelt. Die Reise 1851 durch Borneo, Sumatra und Java. Wien 1993. – Reise in die Neue Welt. Amerika im Jahre 1853. Wien 1994. zurück

2 Stuttgart: Steingrüben 1969. zurück

3 Ida Pfeiffer. Weltreisende im 19. Jahrhundert. Zur Kulturgeschichte reisender Frauen. (Internationale Hochschulschriften 13) Münster, New York: Waxmann 1989. zurück

4 Ida Pfeiffer. A Nineteenth-Century Woman Travel Writer. In: GQ 64 (1991) S. 339-352. zurück

5 Hiltgund Jehle (Anm. 3). zurück

6 Sabine Schott: "Eine Frau, allein, ohne männlichen Schutz" um 1850 unterwegs in Mittel- und Südamerika. In: Galerie der Welt. Ethnographisches Erzählen im 19. Jahrhundert. Hg. von Anselm Maler in Zusammenarbeit mit Sabine Schott. Stuttgart: Belser 1988, S. 59-75, bes. 59-66. Auch dieser – trotz einiger Fehlurteile wertvolle, weil kritische und vergleichende – Artikel ist Habinger entgangen. zurück

7 Irmgard Scheitler: Gattung und Geschlecht. Reisebeschreibungen deutscher Frauen 1780-1850 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 67) Tübingen: Niemeyer 1999. zurück

8 Hier vermißt man in der ansonsten erstaulich reichhaltigen Literaturliste Stefan Majetschak: Der Fremde, der Andere und der Nächste. In: Universitas 48 (1993) H. 1, S. 11-24. zurück

9 "Sklaverei ist süß! glaubt es, liebe Liberale!" Außenseiter: Fürst Pückler-Muskau und Ida Pfeiffer. In: H. C. B.: Die Nähe und die Ferne. Bausteine zu einer Poetik des kolonialen Blicks. Frankfurter Vorlesungen. (edition suhrkamp 1663) Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991, S.89-107. zurück

10 Damit trifft sich der Gegenstand in etwa mit Jean-Claude Berchets Anthologie französischer Orientreisen: Le voyage en Orient. Aylesbury: Hazell Watson & Viney für: Robert Laffond 1985. Berchet berücksichtigt aber nur eine einzige Frau. Weitgehend ähnliches liest man bei Stefanie Ohnsorg: Mit Kompaß, Kutsche und Kamel. (Rück)-Einbindung der Frau in die Geschichte des Reisens und der Reiseliteratur (Sofie. Saarländische Schriftenreihe zur Frauenforschung 2) St. Ingbert: Röhrig 1996, S. 205-76. Diese recht parteiisch-zornige >Wiederentdeckung< bespricht weitestgehend die gleichen Frauen, zeigt die gleichen Bilder und stützt sich auf die gleichen Belege aus Berchet wie Deeken / Bösel, allerdings mit naiveren Kommentaren. zurück

11 Lebensbeschreibung der Wittwe des Obristen Florian Engel von Langwies in Bündten, geb. Egli von Fluntern b. Zürich, von ihr selbst beschrieben. 2 Thle. Zürich: Orell 1822. 2., verb. Aufl. u. d. T.: Die schweizerische Amazone. AbentheuerReisen und Kreuzzüge einer Schweizerin durch Frankreich, die Niederlande, Egypten, Spanien, Portugall und Deutschland, mit der französischen Armee, unter Napoleon. Von ihr selbst beschrieben und hg. v. einem ihrer Anverwandten. 2 Thle. St. Gallen: Huber & Co 1825. 1828. zurück

12 Schicksale und Erlebnisse einer Kärntnerin während ihrer Reisen in verschiedenen Ländern und fast 30jährigen Aufenthaltes im Oriente, als: in Malta, Corfu, Constantinopel, Smyrna, Tiflis, Tauris, Jerusalem, Rom, etc. Beschrieben von ihr selbst. Geordnet u. hg. von M. S. Laibach: Blasnik 1849. M. e. Nachwort neu hg. von Adolphine Misar. Klagenfurt: Joh. Heyn 1985. zurück

13 Wolfradine von Minutoli: Mes souvenirs d' Egypte. Paris: Nepven 1826. Reise der Frau Generalin von Minutoli nach Egypten. Deutsch von Wilhelmine von Gersdorf. Leipzig: Lauffer 1829. 2. Aufl. 1841. zurück

14 Drei Monate in Egypten. Reiseerinnerungen. Kaiserslautern: Crusius 1892. zurück

15 Nicht einmal das Literaturverzeichnis belastet sich mit Titeln zur Theorie der Reisebeschreibung. zurück

16 Für eine vergleichende Untersuchung der Rhetorik und Komposition wie auch der Entstehung und der Rezeption und der besonderen Bedingungen, denen Frauen in allen diesen Punkten unterlagen, siehe Scheitler (Anm. 4). zurück

17 Rezension der Orientalischen Briefe in: Allgemeine Zeitung. Beilage (1845) Nr. 18, S. 137-140, Nr. 19, S. 145f. Zu der nicht eingestandenen Abhängigkeit Hahn-Hahns von anderen Reisenden vgl. Scheitler (Anm. 4), S. 164-169. zurück

18 Zur Rezeption von Ida Hahn-Hahn vgl. Scheitler (Anm. 4), S. 237-242. zurück

19 Reisen in die "Neue Welt". Die Erfahrung Nordamerikas in deutschen Reise- und Auswandererberichten des 19. Jahrhunderts (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 35) Tübingen: Niemeyer 1991. zurück

20 Peter J. Brenner: Der Reisebericht in der deutschen Literatur. Ein Forschungsüberblick als Vorstudie zu einer Gattungsgeschichte. (IASL 2. Sonderheft) Tübingen: Niemeyer 1990. – P. J. B. (Hg.): Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur (st 2097) Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1989. zurück

21 The principles of scietific management. New York: Harper & Broth. 1911. zurück

22 Zuletzt: Reisen als Leitbild. Die Entstehung des modernen Massentourismus in Deutschland. München: dtv 1997. zurück

23 Vgl. Erhard Schütz / Eckhard Gruber: Mythos Reichsautobahn. Bau und Inszenierung der "Straßen des Führers" 1933-1941. Berlin: Links 1996. zurück

24 Johannes Graf: "Die notwendige Reise". Reisen und Reiseliteratur junger Autoren während des Nationalsozialismus. Stuttgart: Metzler 1995. zurück