Schettler über Schöll: Gender - Exil - Schreiben

IASLonline

Katja Schettler

Exilforschung und gender
– die Bedeutung des Exils
für das Werk und Leben deutschsprachiger
Emigranten und Emigrantinnen

  • Julia Schöll (Hg.): Gender – Exil – Schreiben. Mit einem Vorwort von Guy Stern. Würzburg: Königshausen & Neumann 2002. 199 S. Kart.
    EUR (D) 25,50.
    ISBN 3-8260-2360-9.

Inhalt

Susan Groag Bell: Visiting the place that was home (S. 21–36) | Anke Heimberg: "Schreiben kann man überall. Das ist das Gute an meinem Beruf." Die Schriftstellerin Maria Gleit im Exil (S. 41–66) | Brigitte Bruns: Texte und Zeugnisse aus dem Exil der "Künstler" (S. 69–89) | Christine Pendl: Der zweisprachige Zwiespalt. Das politische Exilwerk Ruth Landshoff-Yorcks (S. 91–105) | Anja C. Schmidt-Ott: "Ich muss mich schwächer zeigen, als ich bin, damit er sich stark fühlen und mich lieben kann." Männer und Frauen in Exilromanen von Ödön von Horváth, Maria Leitner, Anna Gmeyner und Irmgard Keun (S. 109–126) | Barbara Drescher: Junge "Girl"-Autorinnen im Exil: Emanzipation oder Ende der "Neuen Frau" aufgrund der antifaschistischen Literaturpolitik nach 1933? (S. 129–145) | Sabine Rohlf: Antifaschismus und die Differenz der Geschlechter in Der große Mann von Heinrich Mann (S. 147–162) | Julia Schöll: Geschlecht und Politik in Thomas Manns Exilroman Lotte in Weimar (S. 165–182) | Meike Mattick: "Türme und Kellergewölbe" oder das "Antlitz der Zeit". Groteske Körperdarstellungen im Exilwerk Alfred Döblins (S. 185–195)



Der Titel

Lediglich drei Begriffe geben dieser von Julia Schöll herausgegebenen Anthologie den Titel – >Gender<, >Exil<, >Schreiben< –; Begriffe, die (gerade mit Blick auf die Kategorien >gender< und >Exil<) wichtiger Bestandteil des literatur- und kulturwissenschaftlichen Diskurses sind – drei Begriffe wiederum, die im Gesamt und für sich betrachtet nicht notwendig einen literaturwissenschaftlichen Diskurs erwarten lassen. >Exil< signalisiert eine meist von außen auferlegte (erzwungene) Lebensform, deren Beginn und Ende im westeuropäischen und nordamerikanischen Raum in der Hauptsache mit der Herrschaft der Nationalsozialisten in Deutschland identifiziert wird; 1 demgegenüber assoziiert die lexikalisch-grammatische Kategorie >gender< einen spezifischen Forschungsansatz innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses: die >Gender<-Forschung oder auch >gender studies<. 2 Lassen die Begriffe >Exil< und >gender< zumindest vage eine Eingrenzung zu, so sperrt sich der dritte Begriff >Schreiben< gegen eine Konkretisierung; er benennt den Vorgang der Verschriftlichung, ohne dabei das Augenmerk auf das Produkt des Schreibens – den Text – zu lenken. Der Begriff >Schreiben< weist somit dem Titel ein selbstreferentielles Moment zu und suggeriert ein solches auch für den nachfolgenden Text.

Dem Titel der Aufsatzsammlung ist keine weitere Spezifizierung beigefügt. Eine solche nimmt allerdings die Herausgeberin und Mitautorin Julia Schöll in ihrer "Einführung" vor, wenn sie zum einen den Begriff >Exil< auf die Jahre 1933 bis 1945 anwendet, zum anderen das "Phänomen des Schreibens im Exil vor dem Hintergrund der Frage nach dem Geschlecht" zum Thema der Anthologie erhebt
(S. 13): Das Schreiben im Exil – Schöll grenzt das Exil nicht geographisch ein – werde auf >sex<- und >gender<-Kategorien hin befragt; Gegenstand der Untersuchung seien unterschiedliche Textsorten / Textgattungen; eine Differenzierung zwischen fiktionalen und nichtfiktionalen Texten unterbleibe. Die Begrifflichkeiten >sex< und >gender< indizieren hier den wissenschaftlichen Zugriff, wobei Schöll nicht unterscheidet zwischen Gender-Studien / Geschlechterforschung, Frauenforschung oder feministischer Forschung. Vielmehr stellt sie als das Besondere der Konzeption des Sammelbandes heraus, daß bewußt die Grenzen methodischer Ansätze überschritten werden. (vgl. ebd.) Als Prinzip unterliegt demnach der Anthologie die Vielstimmigkeit, und zwar die Vielstimmigkeit als Motor des Produktiven. Eine – wenn auch nur grobe – Ordnung gibt die Herausgeberin dennoch vor: Die insgesamt neun Aufsätze sind in drei Teile gegliedert: Gestern und heute, Lebenswege im Exil und Literarische Geschlechterbilder.

Die Reise:
das erinnerte Gestern

Eröffnet wird die Anthologie indes von einer autobiographischen Skizze, die den ersten Teil der Aufsatzsammlung ausmacht. Der Zwischentitel Gestern und heute deutet dabei an, daß weniger das Exil als die Erinnerung des Vergangenen in Gegenüberstellung mit dem Gegenwärtigen Sujet der Skizze ist. Darin eingeschlossen ist die Konfrontation der Fiktionalisierung des Verlorenen – der verlorenen Heimat – mit der Tatsächlichkeit des Erinnerten.

So überschreibt denn auch die Wissenschaftlerin Susan Groag Bell ihren autobiographischen Text mit "Visiting the place that was home". 1938 als deutschsprachige Jüdin ins Exil gezwungen, unternimmt Bell nach 51 Jahren eine Reise in die "Vergangenheit" und besucht ihre Heimatstadt Opava, eine Kleinstadt in der ehemaligen Tschechoslowakei. In bezug auf das in der "Einführung" skizzierte Thema ist hier also eine Verschiebung zu vermerken, insofern nicht die Exilsituation oder das Schreiben über das Exil / im Exil Gegenstand ist, sondern die Phase "nach" dem Exil: Zur (Über-)Prüfung steht das imaginierte Bild der Heimat. (vgl. S. 21)

Indem die Herausgeberin Julia Schöll diesen Text an den Beginn der Anthologie setzt, eröffnet sie das Thema Gender, Exil, Schreiben in medias res; zugleich entfernt sie sich allerdings von dem in der "Einführung" vorgelegten Exilbegriff, denn "Visiting the place that was home" macht die Erinnerung der Heimat aus der historischen Distanz zum Thema. Susan Groag Bells "Reisebericht" ist ein Plädoyer für die Bewahrung der Erinnerung – auch wenn diese nicht mehr übereinstimmt mit der Gegenwart.

Die Aufnahme eines autobiographischen Textes in einer ansonsten von Forschungsliteratur getragenen Anthologie ist ohne Zweifel zu begrüßen und trägt zu der von Schöll intendierten Offenheit des Diskurses bei. Problematisch bleibt allerdings, daß "Visiting the place that was home" nicht in den in der "Einleitung" skizzierten Themenkomplex paßt und so als autobiographischer Text einen >anderen< Exilbegriff anlegt als die nachfolgende Forschungsliteratur, behandelt diese doch ausnahmslos Texte aus der Zeit von 1933 bis 1945.

Biographien:
Schreiben im Exil

Kündigt die Herausgeberin Schöll in ihrer "Einleitung" Methodenvielfalt an, so muß der zweite Teil der Anthologie dem Bereich der Frauenforschung zugeordnet werden – eine in Hinblick auf die Exil- und Geschlechterforschung bereits etablierte Forschungsrichtung, wobei Schöll anmerkt, daß die unter dem Zwischentitel Lebenswege im Exil versammelten Aufsätze neue Akzente setzen respektive sich von älteren Forschungen absetzen.

Insbesondere letzteres beabsichtigt Anke Heimberg mit ihrem Porträt des Künstler(ehe)paares Maria Gleit (d.i. Hertha Gleitsmann) und Walther Victor. Ihr Aufsatz ">Schreiben kann man überall. Das ist das Gute an meinem Beruf.< Die Schriftstellerin Maria Gleit (1909–1981) im Exil" wendet sich gegen die in der Exilforschung "weitverbreitete Annahme", Frauen seien im Exil eher bereit gewesen, ihr künstlerisches Schaffen zugunsten der materiellen Existenzsicherung zurückzustellen (vgl. S. 41). Gerade die Arbeits- und Lebens- / Liebesgemeinschaft zwischen Gleit und Victor sei Gegenbeispiel, weil beide im Exil durch ihr künstlerisches Schaffen für den Lebensunterhalt aufkamen.

Die These vom Künstlerpaar, das während der Exilzeit den Lebensunterhalt (gleichberechtigt) mit der Kunst bestreitet, bekommt sodann Brüche, wenn Heimberg anführt, daß Maria Gleit ihre Schreibarbeit mit der "qua traditioneller geschlechtsspezifischer Rollenteilung zugewiesenen Haus- und Erziehungsarbeit" vereinbaren mußte. (vgl. S. 52) Heimberg diskutiert diesem Widerspruch (leider) nicht; ebensowenig untersucht sie, ob und inwieweit sich Maria Gleits und Walther Victors Schreibweise unterscheiden respektive welche Geschlechterbilder in ihren Texten jeweils lesbar werden. Lediglich an einer Stelle vermerkt Heimberg, daß die in der Exilzeit vermehrt angefertigten historischen Porträts Gleits den historischen Porträts Victors ähneln. (vgl. S. 50)

Heimbergs Blick bleibt in der Hauptsache an der autobiographischen Oberfläche, sie verfährt also beschreibend und liefert keine Analyse der von Gleit und Victor in der Exilzeit verfaßten Texte. Dies hat zur Folge, daß die von ihr detailliert nachgezeichnete Biographie der Exilzeit den Bezug zu dem in dieser Schaffensphase entstandenen Werk nur katalogisierend sucht. Eine Kontamination von biographischem Erzählen und Werkanalyse (freilich in Auszügen) hätte vielleicht zu einem differenzierteren Bild des Ehe- und Künstlerpaares Gleit und Victor geführt. Solch eine Verfahrensweise hätte vielleicht auch die von Heimberg angedeuteten Widersprüche schärfer herausgearbeitet und sie letztlich als Kennzeichen einer Schriftstellerinnen-Biographie im Exil sichtbar werden lassen. So bleibt die zu Beginn des Aufsatzes zur Disposition gestellte These – Frauen hätten sehr wohl im Exil ihr Kunstschaffen weitergeführt und nicht zugunsten des Mannes zurückgestellt – in sich widerspruchsvoll, insbesondere wenn Heimberg durchgehend betont, daß für Gleit während der Exilzeit die Kommerzialität der Werke im Vordergrund stand und sie sich permanent nach dem Schreiben "wirklicher" großer Literatur sehnte.

Brigitte Bruns sich anschließender Aufsatz "Texte und Zeugnisse aus dem Exil der >Künstler<" läßt mit Blick auf den Titel im Vergleich zu Anke Heimbergs Aufsatz eine andere Herangehensweise erwarten: die Künstler durch die Texte (zeitgeschichliche Dokumente und das Werk) selber sprechen zu lassen. Vielversprechend formuliert Bruns sodann in ihrem Abstract:

Erst aus Dokumenten, Briefwechseln und Tagebuchnotizen sind Zeitumstände, Auftragssituation und Werk erschließbar [...] Beides, Werke wie Selbstäußerungen dieser >verschollenen< Generation, erfordern die Rekonstruktion und Dechiffrierung. (S. 69)

Ähnlich wie Heimberg beabsichtigt Bruns, Künstlerpaare im Exil in den Mittelpunkt zu rücken und diese auf ihre Exemplarität und Singularität hin zu befragen. Ausgangspunkt ist die These, daß der (bildende) Künstler in der Massengesellschaft und -kultur des 20. Jahrhunderts eine Identitätskrise durchläuft und in Konfrontation mit der zunehmenden Macht der Masse die Möglichkeit und Tatsächlichkeit künstlerischer Kreativität und Autonomie hinterfragt (vgl. 69 f.). Bruns wählt als Untersuchungsgegenstand also nicht die >schreibende Frau im Exil<; der von ihr angekündigte Schwerpunkt auf das (bild-) künstlerische Schaffen steht demnach im Widerspruch zu der im Titel der Anthologie gesetzten Kategorie >Schreiben<. Fünf Künstlerehepaare aus der bildenden Kunst und Fotografie sollen vorgestellt werden: Lyonel und Julia Feininger, George und Eva Grosz, Lucia und Laszlo Moholy-Nagy, Laszlo und Sybil Moholy-Nagy sowie Else und Ludwig Meidner.

Leider greift Brigitte Bruns in den insgesamt fünf Unterkapiteln die zu Anfang aufgestellte These von der >Entindividualisierung< des Künstlerdaseins nicht mehr auf; auch erfährt man – und dies ist in Hinblick auf das Thema der Anthologie unverständlich – meist sehr wenig über die Künstlerinnen; Julia Feininger, die die Weimarer Kunstgewerbeschule besuchte, findet sogar nur in einem Satz Erwähnung, in dem es unkommentiert heißt: "Von künstlerischen Arbeiten Julias erfährt man aus den publizierten Texten und Briefen nichts, als bürgerliche Künstlergattin zieht sie drei Kinder auf und führt das Haus." (S. 70) Ebensowenig entsteht ein Bild von der Künstlerin Eva Grosz, Emil Orlik-Schülerin an der Berliner Kunstgewerbeschule; Bruns stellt sie als Ehefrau Georg Grosz' vor, die ihrem Mann ins Exil in die Vereinigten Staaten folgt und dort durch ihren Erbanteil und ihr Vermögen die Einbürgerung der Familie ermöglicht.

Natürlich kann Bruns nicht ein Künstlerinnendasein beschreiben, das in der Tat nicht existiert hat respektive wovon es keine Zeugnisse gibt. Allerdings mutet es seltsam an, wenn sie in der oben beschriebenen Weise auf die als Künstlerin apostrophierten Frauen Bezug nimmt. Die von ihr vorgenommene Auswahl der Künstlerpaare überzeugt im Gesamt nicht.

Im letzten Aufsatz des zweiten Teils Lebenswege im Exil steht im Mittelpunkt die jüdische Schriftstellerin Ruth Landshoff-Yorcks. "Der zweisprachige Zwiespalt. Das politische Exilwerk Ruth Landshoff-Yorcks" überschreibt Christine Pendl ihren Beitrag und liefert ein äußerst differenziertes und fundiertes Bild der Exilantin Ruth Landshoff-Yorcks. Pendl arbeitet heraus, daß Landshoff-Yorcks Autorentätigkeit im Exil in den Vereinigten Staaten sich aus deren Exilantentum speist und sie – im Gegensatz zu ihrem illustren Dasein im Berlin der >Goldenen Zwanziger Jahre< 3 – zu einer politischen Schriftstellerin macht: Der Kampf gegen den Nationalsozialismus ist ihr Thema. Das Frauenthema steht im Dienste dieses Kampfes.

Das amerikanische Exil apostrophiert Pendl so zum Wendepunkt im Leben der durchaus erfolgreichen Schriftstellerin Landshoff-Yorck im Berlin der Zwanziger Jahre. Der radikale Bruch mit der Vergangenheit (mit Deutschland) sowie die Suche nach einer neuen Identität im Exilland USA zeigt sich in der Weigerung, weiterhin Deutsch zu schreiben und zu sprechen; Landshoff-Yorck lernt in kürzester Zeit Englisch und publiziert fortan in dieser Sprache. Vor diesem Hintergrund stellt Pendl die berechtigte Frage, ob Landshoff-Yorck im Exil – und zwar zugunsten des politischen Kampfes – von radikal emanzipierten Positionen der Weimarer Zeit zurücktritt. "Oder", so fährt Pendl fort, "manipuliert sie bewusst ihr Zielpublikum mit Vereinfachungen und verführt es zur Identifikation mit einem starken amerikanischen Helden und deutlich zutage tretenden Geschlechtsrollenstereotypen?" (S. 100) Pendl läßt die Schriftstellerin >selbst< antworten, indem sie Landshoff-Yorck anläßlich der Neuerscheinung von Lili Marlene (1945) zitiert: "I wrote LILI MARLENE with an ulterior motive. I want more people to read the book. No, I'm not joking. [...] LILI MARLENE as I see her has to accomplish a mission." (ebd.)

Für Pendl markiert Lili Marlene – Landshoff-Yorcks dritter, im Exil verfaßter Roman – erneut einen Wendepunkt. Das Ende des "offiziellen Exils" und auch das Ende ihrer "politischen Aufgabe" konfrontiert Landshoff-Yorck mit dem andauernden Exil von der deutschen Sprache: "Ich muss leider annehmen, dass ich ein zweispaltiger Charakter bin[,] doppelzuengig, als Schaffender schizophren. Wir werden ja sehen wie das weiter geht. Ich bin etwas besorgt." (S. 102)

Männliche und weibliche Figurationen:
Geschlechterbilder

Dem dritten Teil der Anthologie weist die Herausgeberin Julia Schöll den Zwischentitel Literarische Geschlechterbilder zu. Markierten die ersten beiden Teile einen (auto)biographischen Umgang mit dem Themenkomplex Gender, Exil und Schreiben, so intendieren die im dritten Teil zusammengetragenen fünf Aufsätze, Texte von Exilautoren auf der Folie gendertheoretischer Fragestellungen zu untersuchen. Darin eingeschlossen ist der Vergleich von Geschlechterbildern, zum einen zwischen Texten männlicher und weiblicher Autoren, zum anderen innerhalb eines Textes. Der dritte Teil umfaßt demnach Aufsätze, deren methodischer Zugriff der Gender-Forschung verpflichtet ist, d.h. >gender< begegnet als historisch wandelbares, gesellschaftlich-kulturelles Phänomen, hier betrachtet vor dem Hintergrund der Erfahrung des Exils.

Anja C. Schmidt-Ott eröffnet diesen dritten Teil mit einem Beitrag über Typisierungen von Männern und Frauen in Exilromanen von Ödön von Horváth, Maria Leitner, Irmgard Keun und Anna Gmeyner. Ebenso wie Heimberg und Pendl wählt Schmidt-Ott ein Zitat im ersten Teil des Titels und signalisiert mit diesem eine offensichtlich gendertypische Aussage: "Ich muss mich schwächer zeigen, als ich bin, damit er sich stark fühlen und mich lieben kann." 4 – eine Aussage, die – vor dem Hintergrund, daß Schmidt-Ott fiktionale Texte bespricht – auf eine weibliche Protagonistin schließen läßt.

Im Mittelpunkt dieser Untersuchung steht der Vergleich der vier Exilromane Ein Kind unserer Zeit (1938, Ödön von Horváth), Elisabeth, ein Hitlermädchen (1937, Maria Leitner), Nach Mitternacht (1937, Irmgard Keun) sowie Manja – ein Roman um fünf Kinder (1938, Anna Gmeyner). Schmidt-Ott sieht in diesen vier Romanen die Desorientierung insbesondere der jungen Generation der Zwischenkriegszeit literarisch verarbeitet und leitet von dieser Desorientierung ihre Typologie der Geschlechter ab. Schmidt-Ott arbeitet überzeugend heraus, daß die in den Exilromanen (positiv) imaginierten Männerfiguren übereinstimmen mit einem Männerideal der Dreißiger Jahre – der jungenhafte Typ –, das ebenso in der Literatur des Dritten Reiches anzutreffen ist. (vgl. S. 117) Ähnliches stellt Schmidt-Ott für die Frauenfiguren fest: Als Gegenfiguren zu den ("negativen") Männerfiguren sind sie von einer stark ausgeprägten Mütterlichkeit und intuitiven inneren Sicherheit sowie Naturverbundenheit geprägt. Ihnen werden also Eigenschaften zugewiesen, die dem von den Nationalsozialisten zelebrierten Mutterideal entsprechen. Zurecht weitet Schmidt-Ott hier den Blick auf den soziokulturellen Hintergrund der Dreißiger Jahre in Deutschland aus und kann so die in den Exilromanen entworfenen weiblichen Geschlechterbilder in den zeithistorischen Kontext einordnen.

Daß von Anja C. Schmidt-Ott in den Exilromanen von Horváth, Keun, Gmeyner und Leitner nachgezeichnete traditionelle Frauenbild – das ja vordergründig im Hinblick auf die Emanzipationsbewegungen der Weimarer Republik einen Rückschritt anzeigt – ist Gegenstand der Untersuchung von Barbara Drescher: Sie kontrastiert die >Girl<-Identität junger Autorinnen der Weimarer Republik mit der traditionellen Geschlechterhierarchie antifaschistischer Literaturpolitik und stellt ihrem Aufsatz als Titel die provokante Frage voraus: "Junge >Girl<-Autorinnen im Exil: Emanzipation oder Ende der >Neuen Frau< aufgrund der antifaschistischen Literaturpolitik nach 1933?"

Drescher beabsichtigt, die These zu widerlegen, daß im Exilwerk junger Autorinnen eine konservative Wende zu verzeichnen ist, daß also die >Girl<-Identität für die jungen Autorinnen keine kulturelle Bedeutung mehr hat (vgl. S. 129). Sie wendet sich demnach gegen die in der Frauen-Exilforschung etwa von Irmela von der Lühe in den Neunziger Jahren und auch schon in den Achtziger Jahren von Gabriele Kreis vorgenommene Differenzierung zwischen politisch engagierter Exilliteratur von Männern und privater Alltagspoetik von Frauen. 5 Drescher wählt drei Exilromane aus verschiedenen Exilphasen und Exilländern aus – Nach Mitternacht (1937) von Irmgard Keun, Lili Marlene (1945) von Ruth Landshoff-Yorck und Spring über deinen Schatten, spring! (1954) von Dinah Nelken – und positioniert die in den Texten entworfenen Geschlechterbilder überzeugend in das Spannungsfeld von konservativer Geschlechterpolitik (antifaschistischer Diskurs) und dazu abweichender transgressiver Weiblichkeiten (Weimarer Gleichberechtigungsdiskurs). Ähnlich wie Christine Pendl in ihrem Aufsatz über das politische Exilwerk von Ruth Landshoff-Yorck stellt Drescher eine Zurücktreten des Frauenthemas zugunsten des antifaschistischen Kampfes fest.

Warum der antifaschistische Diskurs die traditionelle Geschlechterideologie zur emphatischen Verstärkung der politischen Ziele braucht – dem geht Drescher leider nicht nach. Eine mögliche Antwort wäre, daß tradierte Geschlechterbilder ungeachtet politisch divergierender Ideologien fortgeschrieben werden, um die bestehende Geschlechterhierarchie nicht zu erschüttern.

Die Verschränkung von antifaschistischem Kampf und tradierter Geschlechterideologie macht sodann Sabine Rohlf zum Thema ihres Aufsatzes "Antifaschismus und die Differenz der Geschlechter in Der große Mann von Heinrich Mann". Rohlf beabsichtigt, stereotype Sexualisierungen in antifaschistischen Texten aufzuspüren und wählt als Prototypen Heinrich Manns Essay Der große Mann von 1933 aus. Ziel ist nicht eine moralische Anklage des Mannschen Textes, sondern die historische Einbettung des Essays. Rohlf gelingt es überzeugend darzulegen, daß Mann sich Zuschreibungen bedient, die gleichermaßen in Texten anzutreffen sind, deren Autoren sich dem nationalsozialistischen Regime oder der nationalsozialistischen Ideologie verpflichtet fühlen. In Der große Mann sei eine sexistische Diskursivierung des Weiblichen anzutreffen, die Mann zur Diffamierung des faschistischen Feindes Adolf Hitler einsetze, indem er festgeschriebene weibliche Eigenschaften wie Passivität, Triebhaftigkeit und Irrationalität auf diesen übertrage. In bezug auf Heinrich Manns Essay Der große Mann müsse allerdings festgehalten werden, daß die Darstellung Hitlers keineswegs Versatzstücke männlicher und weiblicher Identität in sich verschränke, sondern die Transformation Hitlers zu einer Frau sich gleichfalls über die Topoi der Homosexualität und sexuellen Ambiguität vollziehe.

Rohlf legt stichhaltig dar, daß Heinrich Manns Essay seine antifaschistische Positionierung in Abgrenzung und Distanzierung von weiblichen bzw. nicht-männlichen Eigenschaften konturiert; dennoch setzt sie diesen nicht gleich mit faschistischen Texten oder Texten revanchistischer Nachkriegsinterpreten; vielmehr stellt sie heraus, daß die unterschiedlichen historischen Referenzräume zu beachten sind.

Julia Schöll, die Herausgeberin der Anthologie, wählt ebenso wie Sabine Rohlf den Text eines männlichen Autors zum Gegenstand ihrer Untersuchung: Lotte in Weimar (1939) von Thomas Mann. Schöll liest Lotte in Weimar dezidiert als Exilroman – und zwar sowohl in bezug auf den Roman selbst als auch in bezug auf dessen Entstehungszeit: In Lotte in Weimar spiegele sich Thomas Manns Erfahrung des Exils und seine politische Positionierung im Exil wider; dabei entwerfe er ein Deutschlandbild, das er zwischen Klassik und Romantik positioniere – ein Deutschlandbild, dem auf mythologischer Ebene der Dualismus von Vater- und Mutterwelt entspreche. (vgl. S. 165) Der Titel "Geschlecht und Politik in Thomas Manns Exilroman Lotte in Weimar" signalisiert es bereits: Schöll will die politische Lesart des Romans, wie sie Herbert Lehnert und Helmut Koopmann etwa vorlegen, mit einer Untersuchung der Darstellung von Geschlechterbildern verbinden (vgl. S. 166).

Es ist nun das Verdienst von Schöll, daß sie den von Thomas Mann in Lotte in Weimar literarisch gestalteten historischen Dualismus aus einer gendertheoretischen Perspektive betrachtet und somit eine für die Forschung "neue" Lesart des Romans darlegt. Wie im Joseph spiele Thomas Mann in Anlehnung an Johann Jakob Bachofens Untersuchung des mythologischen Mutter- und Vaterrechts auch in Lotte in Weimar mit dem Begriffspaar >Vaterwelt< und >Mutterwelt<. Das männlich-väterliche Prinzip stehe dabei für Ratio, Vernunft, Aufklärung und die deutsche Klassik; das mütterlich-weibliche Prinzip für politischen Irrationalismus, Naturhaftigkeit, Triebhaftigkeit, Nationalismus und die deutsche Romantik (vgl. S. 168). Ähnlich wie Sabine Rohlf in Heinrich Manns literarischer Gestaltung Adolf Hitlers die Verschränkung von homophoben und stereotypen weiblichen Eigenschaften feststellen konnte, konstatiert Julia Schöll "einschlägige Klischees, um den politischen Irrationalismus zu stigmatisieren": Homoerotik und politisch-nationalistische Romantik seien beide ein Produkt der Mutterwelt und Zeichen für Unmännlichkeit in bezug auf die eigene Männlichkeit (vgl. S. 174).

Julia Schöll gelingt es, mit ihrem Aufsatz die von ihr im Vorwort und auch Titel der Anthologie gesetzten Standards einzuhalten: Lotte in Weimar exponiert sie als Exilroman (>Exil<), in dem der Emigrant Thomas Mann seine politische Botschaft mittels stereotyper Geschlechterdifferenz markiert (>gender< und >Schreiben<): Goethe, die Verkörperung der deutschen Klassik, leistet Widerstand durch Verzicht, weil er sein geschlechtliches, homoerotisches Begehren (Mutterwelt) der Ratio der Vaterwelt unterordnet. Pointiert hält Schöll fest, daß Thomas Mann dieses Motiv der Entsagung als ein geschlechtliches und zugleich politisches gestaltet. Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime ist demnach in der Lesart Thomas Manns in der Vaterwelt verortet.

Den Abschluß der Anthologie bildet Meike Matticks Aufsatz ">Türme und Kellergewölbe< oder das >Antlitz der Zeit<. Groteske Körperdarstellungen im Exilwerk Alfred Döblins". Mattick versucht anhand grotesker, vorwiegend maskuliner Körperdarstellungen im Exil-Werk Alfred Döblins, dessen literarische Verarbeitung von Historie zu analysieren. Dem Aufsatz unterliegt die These, daß das Phänomen grotesker Körperlichkeit – die Auflösung von Körpergrenzen bis zur vollständigen "Entindividualisierung menschlicher Physis" (vgl. S. 185) – eine Traditionslinie im Werk Döblins bildet; die literarische Darstellung grotesker Körper gewinne aber in der Zeit des Exils eine neue Qualität.

Mattick liest Döblin vor dem Hintergrund von Michail Bachtins Literatur und Karneval, um auf der Folie von dessen Theorie des Grotesken ein erweitertes Verständnis Döblinscher Körperbeschreibungen zu ermöglichen. Ihr Ziel ist, strukturelle Affinitäten zwischen den Körperdarstellungen im Exilwerk Döblins einerseits und Bachtins herausgearbeiteten Phänomenen und Strukturen der Renaissance-Groteske andererseits sichtbar zu machen. (vgl. S. 186)

Überzeugend geht Mattick Körperentwürfen im Exilwerk Döblins nach und konfrontiert diese mit Bachtins Motivik des grotesken Körpers. Dabei legt sie zum einen ihren Schwerpunkt auf das Moment der Entgrenzung und somit Entindividualisierung, zum anderen auf die Darstellungen von metamorphen Körpern und gelangt zu dem Ergebnis, daß in Döblins Exilwerk die Groteskphänomene Seismographen eines historischen Wandels sind.

Die im Abstract in Aussicht gestellte Untersuchung genderspezifischer Gesichtspunkte hinsichtlich der Exilsituation tritt dabei allerdings in den Hintergrund. Zwar weist Mattick auf Bachtins phallisch akzentuierten Körperlichkeitsbegriff hin und sieht sein Äquivalent in Döblins hauptsächlich maskulinen Körperdarstellungen, doch vermag sie nicht den Widerspruch zwischen Körperentgrenzung, und somit Verschmelzung stereotyper Geschlechterbilder, und männlich konnotierten Körperentwürfen aufzulösen; feminine Körperdarstellungen führt sie lediglich als "Gegenbeispiele" ein (vgl. S. 191 f.). Mattick "entsexualisiert" vielmehr Döblins Körperdarstellungen, wenn sie diese als Ausdruck der Entindividualisierung des Einzelnen begreift – "Döblins groteske Körper sind künstlerisch-poetologische Realisationen dieses Entindividualisierungs-Phänomen." (S. 193) Die Antwort auf die Frage, welche neuen Qualitäten den grotesken Körperbildern im Exilwerk Döblins zukommen, bleibt indes offen.

Fazit

Die in der Anthologie versammelten Aufsätze sind in bezug sowohl auf ihren methodischen Zugriff als auch auf den Untersuchungsgegenstand sehr heterogen. Der Leserin und dem Leser bietet sich so die Möglichkeit, in unterschiedliche Gebiete der Exilforschung Einblick zu nehmen. Die von der Herausgeberin Julia Schöll vorgenommene Gruppierung der Aufsätze überzeugt durchaus, stellt diese doch zwei für die >gender<-Forschung wichtige Teilgebiete vor: die Rekonstruktion von Biographien im Hinblick auf die Ausformung von Geschlechterdifferenzen und die Analyse von Geschlechterbildern in fiktionalen und nichtfiktionalen Texten. Insbesondere die Aufsätze des dritten Teils eröffnen neue Aspekte und laden zur erneuten Lektüre der Primärtexte ein. Ein sorgfältigeres Lektorat hätte man sich indes in bezug auf die Beiträge von Anke Heimberg und Brigitte Bruns gewünscht. Die Anthologie regt an, das Phänomen des Schreibens – als einen reflexiven Vorgang – hinsichtlich der Kategorien >gender< und >Exil< zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen zu machen.


Katja Schettler M.A.
Bergische Universität Wuppertal
FB 4: Sprach- und Literaturwissenschaften
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D - 42119 Wuppertal

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Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Karoline Hornik.


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Anmerkungen

1 Einen weitaus komplexeren Exilbegriff legt Eva Borst in ihrem Beitrag "Identität und Exil. Konzeptionelle Überlegungen zur 7. Tagung >Frauen im Exil: Sprache – Identität – Kultur<" vor. (In: Exilforschung. Ein Internationales Jahrbuch. Bd. 17: Sprache – Identität – Kultur: Frauen im Exil. München: edition text und kritik 1999, S. 10–23). – vgl. hierzu auch Exilforschung. Ein Internationales Jahrbuch. Bd. 18: Exile im 20. Jahrhundert. München: edition text und kritik 2000.   zurück

2 So weisen etwa Christina von Braun und Inge Stephan die Geschlechterforschung / Gender-Studien als dezidiert interdisziplinäre Wissenschaft aus, die gerade Einzeldisziplinen übergreifend arbeitet. Vgl. Christina von Braun und Inge Stephan (Hg.): Gender-Studien. Eine Einführung. Stuttgart, Weimar: Verlag Metzler 2000, S. 9–15.   zurück

3 Die Schriftstellerin Ruth Landshoff, Nichte des Verlegers Samuel Fischer, lebte im Berlin der Zwanziger Jahre einen modernen, avantgardistischen Frauentypus aus. (vgl. S. 91 f.)   zurück

4 Der Titel im Inhaltsverzeichnis weicht insofern ab, als daß dort "Männer und Frauen" durch "Geschlechterbilder" ersetzt ist. (vgl. S. <5>)   zurück

5 Vgl. hierzu etwa den Aufsatz von Irmela von Lühe: "Und der Mann war oft eine schwere, undankbare Last". Frauen im Exil – Frauen in der Exilliteratur. In: Exilforschung. Ein Internationales Jahrbuch. Bd. 14: Rückblick und Perspektiven. München: edition text und kritik 1996, S. 44–61.   zurück