Schiedermair über Grage: Das Meer in der skandinavischen Dichtung

Joachim Schiedermair

Chaotischer Abgrund und erhabene Weite –
Das Meer in der skandinavischen Dichtung

  • Joachim Grage: Chaotischer Abgrund und erhabene Weite. Das Meer in der skandinavischen Dichtung des 17. und 18. Jahrhunderts. (Palaestra 311) Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000. 331 S. Geb. DM 88,-.
    ISBN 3-525-20584-8.


"Obwohl das Meer für die Alltagskultur in den skandinavischen Ländern von überaus großer Bedeutung ist, spielt es als Motiv in den neueren nordischen Literaturen bis ins 18. Jahrhundert hinein keine wesentliche Rolle" (S. 292).
Dieser zusammenfassende Satz klingt für ein Buch mit dem Untertitel Das Meer in der skandinavischen Dichtung des 17. und 18. Jahrhunderts wie eine Kapitulationserklärung. Der Autor Joachim Grage kann auch die Gründe für die geringe Präsenz des Meeres im untersuchten Zeitraum angeben. Zum einen - so argumentiert er - sah die klassische Rhetorik einfach keine topoi für das Meer vor. Zum anderen galt die See als häßlich und furchterregend und bot somit keinen adäquaten Gegenstand für eine ästhetische Behandlung. Was sich jedoch wie ein ungeschicktes Verhältnis von Fragestellung und Untersuchungsmaterial ausnimmt, erweist sich als durchaus fruchtbar. Denn gerade die Schwierigkeit des Themas macht seine Stärke aus.

Das begrenzte Material macht es nämlich möglich, auf relativ kleinem Raum eine Motivgeschichte als Geschichte der literarischen Wahrnehmung zu präsentieren. Chaotischer Abgrund und erhabene Weite liest sich wie eine Fallstudie zur Frage, auf welche Weise ein Phänomen, das bisher nicht Gegenstandsbereich der Literatur gewesen war, überhaupt wahrgenommen und schließlich literarisch erschlossen wurde. Pointiert kann man es auch so formulieren, daß das Meer in den Texten, die Grage auswählt, an keiner Stelle thematisiert wird. Es ist immer nur Vehikel für einen anderen Diskurs, einmal als barocke Metapher für die Fährnisse des Lebens, dann in der Empfindsamkeit als Mittel der Selbstthematisierung.

Die divergierenden Funktionalisierungen arbeitet Grage heraus, indem er einerseits zeigt,
>als was< das Meer wahrgenommen wird, andererseits, aus welcher Perspektive diese Wahrnehmung erfolgt. Für die erste Frage zieht er das kulturelle Wissen heran, die gängigen moralischen, religiösen und ästhetischen Wertungen, die seinen literarischen Texten zugrundeliegen. Er verwendet viel Raum darauf, sie aus zeitgenössischen Texten, kulturell dominanten Vorgängern oder aus den wohletablierten Ergebnissen der Forschung zu rekonstruieren. Die literarische Konstituierung eines wahrnehmenden Subjekts macht das zweite Forschungsinteresse und den eigentlichen roten Faden der Untersuchung aus. Die spezifisch literarische Leistung seiner Texte sieht Grage also in der Thematisierung eines sinnlichen Wahrnehmungsprozesses, d. h. in den unterschiedlichen Stufen und der unterschiedlichen Intensität, in der "sich ein textimmanentes Subjekt zum Meer in Beziehung setzt" (S. 19). An dieser Fragestellung orientiert sich auch der folgende kurze Gang durch die einzelnen Kapitel.

Meeresmetaphorik

Ein sprechendes Ich mit individueller Perspektive ist in der schwedischen und dänischen Gelegenheitspoesie und der geistlichen Dichtung des 17. Jahrhunderts nicht zu erwarten. Das Barock knüpft in seiner Erfahrung des Meeres an die Vorgaben der mittelalterlichen hermeneutischen Tradition an: Die Lesart des Meeres als Allegorie der Bedrohung, der die menschliche Existenz ausgesetzt ist, gewinnt ihre Plausibilität vor allem aus zwei Quellen. Zum einen wurde das lateinische >mare< bis in die Neuzeit hinein etymologisch von >amarus< (bitter, herb) abgeleitet, was sich auf der Ebene des sensus litteralis auf den Salzgehalt des Meerwassers bezog, auf der Ebene des sensus spiritualis auf die bitteren alltagspraktischen Erfahrungen mit dem Meer. Zum andern ist das Meer auch der Ort der äußersten Gottesferne. Diese Lesart leitet sich aus der doppelten Verwendung des Ausdrucks >Abgrund< ab, der in der Bibel einmal als Bezeichnung für den Ort verwendet wird, an den die Dämonen gebannt sind, dann aber auch einfach die Tiefe des Meeres meint.

Doch nicht das Meer steht im Vordergrund der barocken Gedichte, die Grage bespricht, sondern die Seefahrt, die ihr Geschäft über dem bitteren Abgrund betreibt. Die Autoren greifen auf die etablierte Allegorie von der Schiffahrt des Lebens zurück. Zwei Texte stechen durch ihre besondere pragmatische Situierung als berufsspezifische Erbauungsliteratur hervor. Es handelt sich um Jens Coldings Sebulon eller Søe-Have (1720) und ein Lied aus Thomas Kingos Aandelige Siungekoor (1681), das sich explizit an Seefahrer richtet. Bei Colding motiviert die Seefahrtsmetapher zwar den angesprochenen Leserkreis, und der Autor war einige Jahre als Schiffsprediger tätig;, der Text selbst nimmt aber die Metapher nur als Ausgangspunkt für weitere Allegorien der Vergänglichkeit, die aus ganz verschiedenen, nicht-maritimen semantischen Feldern stammen. Bei Kingo wird die allegorische Schablone erstmals als Medium der Selbstbetrachtung genutzt: Das chaotische Meer erinnert an das Chaos des Innenlebens. Die Reue wiederum treibt salzige Tränen nach außen, "die hinsichtlich ihrer Materialität mit dem äußeren, ihres Ausdrucksgehalts hingegen mit dem inneren Meer" zusammenhängen (S. 65).

Das Meer in barocken Schöpfungsepen

An das Meer als Abgrund knüpfen auch Anders Arrebos dänisches Hexaëmeron (1661) und das sich stark daran anlehnende Gudz Werk och Hwila (1685) des Schweden Haquin Spegel an. Da das Meer hier jedoch nicht nur als Metapher thematisiert wird, sondern als ein sinnvolles und zweckdienliches Element der göttlichen Schöpfung, müssen die beiden Autoren die bedrohlichen Seiten des Meers abschwächen. Nicht nur die enzyklopädische Inventarisierung der einzelnen Schöpfungstage erweitern den Umfang des spärlichen biblischen Gerüsts gewaltig, der Bericht der Genesis wird außerdem naturwissenschaftlich und theologisch kommentiert.

Die Rückführung auf diese zeitgenössischen Diskurse - die Spegel und Arrebo durch einen breiten Gebrauch von Marginalien kennzeichnen - nimmt in Grages Darstellung relativ breiten Raum ein. Entscheidender für den Weg in die Empfindsamkeit sind jedoch die Ansätze zu einem subjektivierenden Verfahren der Meeresdarstellung. So wird ein fiktives Ich eingeführt, das als Zeuge die Schöpfung simultan miterlebt. Bei Arrebo spricht dieses Ich sogar aus der gerade in der Entstehung begriffenen Welt heraus. Spegel schickt sein Ich auf eine Schiffahrt, womit es ihm gelingt, eine Liste mit geographischen Namen in eine narrative Form zu bringen. Die Einführung des textinternen Erzählers hat jedoch keine Auswirkung auf die Darstellung. Sie "evoziert [...] das Bild einer Reise als Landkarte" (S. 126). Der Blick, der in der erzählten Welt verankert ist, konkurriert also mit dem Blick von oben.

Topographische Dichtungen

Was für die Schöpfungsepen gilt, gilt auch für die topographische Dichtung von Thomas Kingo, Jens Steen Sehested, Elias Naur und Petter Dass. Auch hier tritt an einigen Stellen ein textinterner Beobachter in Erscheinung, auch hier als Schiffsreisender, der durch seine Route der Beschreibung eine narrative Sukzession verleiht. Auch hier jedoch bestimmt der Reisende nicht die Wahrnehmung der beschriebenen Landschaft. >Landschaft< ist nämlich noch nicht als ein ästhetisch bestimmter Naturausschnitt gefaßt, sondern als >regio<, d. h. als ein geographisches Konzept, als eine säkulare oder klerikale Verwaltungseinheit, die keine interne Perspektive duldet. Nicht aus einem subjektiven Blickwinkel wird die Landschaft fokussiert, sondern Daten zu Klima, Flora, Fauna und Kulturdenkmälern bestimmen die Beschreibung. Ob ein Phänomen aufgenommen wird, entscheidet sich an der funktionalen Relevanz für die Verwaltungseinheit. Das Meer aber entzieht sich dieser Kategorisierung weitgehend. Nur in Form eines Nahrungslieferanten trägt es zum ökonomischen Nutzen bei.

An dieser Stelle zeigt sich, daß Grage gerade dem spärlichen Befund eine bedenkenswerte Schlußfolgerung abgewinnen kann. Durch die Einbettung in die zeitgenössische Regelpoetik kann er nämlich plausibel machen, wie in der Konterkarierung zweier Elemente der einen rhetorischen Tradition ein neues Wahrnehmungsmuster generiert wird, und weist so auf den Übergang zwischen den divergierenden Funktionalisierungen von barocker Metaphorik und empfindsamer Selbstthematisierung hin: Auf der einen Seite ist das Meer aus den topographischen Gedichten doppelt ausgeschlossen: einmal durch das eben beschriebene regio-Konzept, zum anderen durch das einleitend erwähnte rhetorische System. Denn die rhetorischen Topoi bieten nur ein begrenztes Repertoire für die Naturdarstellung. Auf der anderen Seite jedoch erlaubt derselbe Formenschatz, den dichterischen Produktionsprozeß als gewagte Seefahrt zu figurieren. Indem die autopoetische Metapher des Dichters-als-Seereisender in die nicht-metaphorische Landschaft als textinterner Erzähler eingefügt wird, kann dem Meer ein größeres Gewicht zukommen, als es die Gattungskonvention zuläßt: Die Meeresmetapher entmetaphorisiert sich, weil sie auf eine reale Landschaft bezogen wird. Obwohl das Meer also von der literarischen Tradition systematisch übersehen wird, hilft in diesem Fall dieselbe Tradition, das Meer zu thematisieren; und somit bereitet die topographische Dichtung die Selbstthematisierung des empfindsamen Subjekts vor.

Empfindsame Ausblicke

Die Empfindsamkeit entwirft ein völlig anderes Landschaftskonzept. Landschaft meint nun nicht mehr regio, sondern "ein von ästhetischen Kriterien bestimmter Ausschnitt von Natur" (S. 294). Dieser Wandel verdankt sich einer medialen Umorientierung. Nicht mehr die am Wort ausgerichteten Wissenschaften, sondern die perspektivischen Bedingungen des Landschaftsbildes strukturieren die Wahrnehmung: "Nach dem Entstehen der modernen Landschaftsmalerei im Zuge der Einführung der Zentralperspektive tauchte der Begriff [>Landschaft<] zuerst in der dichterischen Sprache als Bezeichnung dessen auf, was die Maler in ihren Landschaftsgemälden darstellten" (S. 131). Das textimmanente Subjekt wird durch diese Neuorientierung als Perspektivpunkt unverzichtbar. Damit wird die Landschaft zwar aus den ästhetischen Vorgaben der Tradition gelöst, im selben Moment jedoch auf eine neue Mitte ausgerichtet. Denn der Betrachter ist "nicht nur das Zentrum der Wahrnehmung, sondern auch das Zentrum, auf das sich die Wahrnehmung richtet" (S. 294). Da nun die emotionale Wirkung als Kriterium für literarische Würdigung gilt, rücken auch vorher verschmähte häßliche oder schreckenerregende Phänomene in den Blick.

Die Veränderung der ästhetischen Voraussetzungen zeigt sich am deutlichsten an der Entstehungsgeschichte der von Grage ausgewählten Texte. St. Synneves Kloster paa Selløe von Peter Harboe Frimann, Fieldet Horneelen i Norge von seinem Bruder Claus Frimann und Horneelen, et Bierg Nordenfields i Norge, das ebenfalls von einem der Brüder stammt, sind allesamt Antworten auf einen Wettbewerb um das beste Landschaftsgedicht, den >Det smagende Selskab< 1772 ausschrieb. Die Veranstalter ließen den Teilnehmern die Wahl, einen Gegenstand zu besingen, der sich entweder durch seine Anmut oder aber - und das war neu - durch seine Schrecklichkeit auszeichnet - womit sowohl dem Meer wie der Landschaft Norwegens der Weg in die Literatur eröffnet wurde.

Daß dieser Schritt nicht selbstverständlich ist und einige dichterische Anstrengung verlangt, zeigt Grage an dem zweiten der genannten Texte. Claus Frimann wählt zwar dezidiert eine Landschaft Norwegens wegen ihres erhabenen Schreckens als Thema, sie verwandelt sich jedoch unter der poetischen Bearbeitung in einen locus amoenus: Der fürchterliche Berg Hornelen überzieht sich im Sommer mit Grün, und von diesem befriedeten Aussichtspunkt aus verliert das Meer all seinen Schrecken. Zur Individualisierung des Blicks gehört also gleichzeitig eine (räumliche wie emotionale) Distanzierung, z. B. aus den Lebensbedingungen der Fischer. Der Abstand aus der Welt kann sich im Falle des dritten Textes bis zur Hybris steigern. Die erhabene Landschaft hat hier nicht im demütigen Betrachter ihr Äquivalent, sondern im Subjekt, das vor allem sich selbst als Betrachter betrachtet. Das Meer (wie die Natur an sich) hat in diesem Zusammenhang nur funktionellen Charakter: Durch die Erregung von Emotionen lenkt es den Blick des Subjekts auf das erregte Subjekt selbst. Seine Ausdehnung ist Projektionsfläche für die eigene Größe des Ich. Johannes Ewald (in Rungsteds Lyksaligheder, 1775) schließlich interpretiert die Empfindung der eigenen Göttlichkeit als metaphysische Inspiration, die den Dichter vor jedem anderen Naturbetrachter auszeichnet.

An dieser Stelle hätte man sich eine eingehendere Behandlung des Subjektstatus in den behandelten Texten erwünscht. Grage zeigt, daß die Autoren das Ich als ein Teil der beschriebenen Welt entwerfen, daß die Perspektive sozusagen säkularisiert und inkarniert ist, losgelöst von den heiligen Texten einerseits und dem alles überschauenden Blick des Kartographen andererseits, der das regio-Konzept prägt. Gleichzeitig aber muß sich das Ich dem Zusammenhang von Meer und Lebenswelt entziehen, trotz Innerweltlichkeit körperliche Distanz wahren, was seinem Blick gleichsam divinatorische Qualitäten als Blick-von-oben verleiht. Interessant wäre nun gewesen, zu erfahren, ob und wie dieser offensichtliche Widerspruch in den literarischen Texten behandelt wird. So hätte man beispielsweise Ewalds Inszenierung zum inspirierten Dichter als eine mögliche Lösung für das Dilemma lesen können. Die Fragestellung drängt sich vor allem deshalb auf, weil nach Grage gerade die Subjektivierung des Blicks die literarische Leistung der Texte ausmacht und deshalb zentral für das Erkenntnisinteresse der Untersuchung gewesen wäre.

Grenzen der Menschheit

Auch die literarischen Texte des letzten Kapitels verdanken ihre Entstehung einem Wettbewerb der >smagende Selskab<, den Christian Braumann Tullin mit Pris-Skriftet om Søefarten dens Oprindelse og Virkninger (1761) gewinnt. Diesmal gaben die Veranstalter Ursprung und Legitimität der Seefahrt als Thema vor - ein Motiv, das bis in die Antike zurück reicht. Der Ozean galt in diesem Traditionszusammenhang als von Gott gesetzte Grenze, deren Überschreitung dem Sündenfall gleichkommt. In den sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts wird das Thema zum Medium einer Diskussion des technischen Fortschritts per se. Das Meer als Symbol für die Grenze des menschlichen Handlungsspielraums wirft Fragen der Theodizee und der Möglichkeit und Legitimität der Grenzüberschreitung auf. Die philosophische Erörterung dieser Probleme wird in den Wettbewerbstexten aus einer perspektivischen Naturbeschreibung hergeleitet. Damit wird das Resultat kritischen Denkens quasi sinnlich vermittelt und bereitet die Hybris (als Überschreitung der Grenze zwischen Mensch und Gott) vor, die in den zeitlich späteren Texten des vorangehenden Kapitels zutage tritt. Warum sich Grage nicht wie sonst in der Kapitelfolge an die Chronologie der Texte hält, wurde mir leider nicht einsichtig.

Solider Beitrag zur Literaturgeschichte

Diese kurze Zusammenfassung von Chaotischer Abgrund und erhabene Weite liest sich wie ein gedrängter Durchlauf durch eine Literaturgeschichte des behandelten Zeitraums. Und als ein Supplement kann die Untersuchung auch durchaus aufgefaßt werden. Denn Grage ist nicht an einer neuen Metanarration interessiert, sondern an der genauen Analyse eines ihrer noch nicht erzählten Details. Allerdings wäre es für die Darstellung von Vorteil gewesen, wenn einige der referierten Forschungsergebnisse in die Fußnoten verbannt worden wären. So gehört etwa das, was zur Allegorese als hermeneutischem Verfahren gesagt wird, zum Allgemeinwissen; und auch das Referat der anspruchsvollen und zwiespältigen Metapherntheorie erscheint mir überflüssig, da es für die Analyse der barocken Gelegenheitsdichtung nicht sonderlich relevant wird. Ein Verzicht an Ausführlichkeit an diesen und ähnlichen Stellen hätte die Arbeit etwas gestrafft und Grages eigene Interpretationsleistung stärker in den Vordergrund gerückt, ohne daß die - nebenbei bemerkt ausgezeichnete - Lesbarkeit darunter gelitten hätte. Die Fülle an Details verdeckt die erkenntnisleitenden Interessen, die Grage stärker hätte konturieren sollen. Deshalb muß man dem Leser raten, die Zusammenfassung am Ende des Buchs zum Ausgangspunkt der Lektüre zu machen.

Text und Kontext

Grage legt Wert darauf, daß seine literarische Motivgeschichte nicht mit einer Mentalitätsgeschichte verwechselt wird. Bei einer Gleichsetzung würde man die systeminternen Regularien der Literatur ignorieren, und sie als bloßes "Quellenmaterial" (S. 17) für die Frage mißbrauchen, wie die natürliche Umwelt wahrgenommen und vorgestellt wird. Stattdessen will Grage die Mentalitätsgeschichte als Hintergrund entwerfen, auf deren Folie sich die Wahrnehmungs- und Bewertungsmuster zeigen, "welche die Darstellung des Meeres in skandinavischen Gedichten vom Barock bis zur Empfindsamkeit prägten" (S. 19).

Diese Sichtweise charakterisiert das Textverständnis, mit dem Grage an sein Untersuchungsmaterial herangeht: die Unterscheidung von literarischen und außerliterarischen Diskursen. Die Analysen zeigen, daß er zu den ersten vor allem das rhetorische Gerüst zählt, das bekanntlich für die europäische Literatur bis weit in das 19. Jahrhundert hinein Verbindlichkeit besaß. In erster Linie fallen die topoi und deren literarisch wirksam gewordene Reihenbildung ins Gewicht. Zum zweiten Strang - dem mentalitätsgeschichtlichen Hintergrund - zählt Grage "Impulse aus der Theologie, den verschiedenen naturhistorischen Disziplinen, der topographischen Landesbeschreibung und nicht zuletzt aus der bildenden Kunst" (S. 18).

Gerade diese Dichotomie von Vordergrund und Hintergrund, literarischem und nicht-literarischem Text unterscheidet die traditionelle Motivgeschichte vom Vorgehen neuerer Verfahren, etwa des New Historicism. Aus dessen Position könnte man gegen Grage argumentieren, daß die Rhetorik nicht nur für die literarische Produktion wirksam wurde und daß deshalb gerade sie keine strikte Trennung der Literatur von der Nicht-Literatur erlaubt. Der New Historicism "versucht, die traditionelle Text/Kontext-Dichotomie zu umgehen, indem er Text und Kontext auf derselben interpretativen Ebene ansiedelt". Damit "wird der Hintergrund notwendigerweise selbst zum Interpretandum"1.

Fazit

Man muß zugeben, daß Grage sein Material ausgezeichnet für den Leser und auf seine Fragestellung hin aufbereitet, trotzdem wirkt sich die Text/Kontext-Dichotomie auf das Leseerlebnis aus. Denn stellenweise wirken die literarischen Texte eigentümlich passiv in ihrer Beziehung zu angrenzenden Textarten. Sie >erleiden< ihre Kontextualisierung gewissermaßen, ohne selbst irgendwelchen Einfluß auf den Kontext auszuüben, weshalb man Grages Vorgehen nicht mit gutem Gewissen intertextuell nennen kann (wenn man denn dem Begriff >Intertextualität< eine andere Bedeutung als >Quellenforschung< zugestehen will). Gerade in einer geistesgeschichtlichen Umbruchszeit wie dem 18. Jahrhundert meint man damit rechnen zu können, daß Texte nicht nur affirmativ, sondern kreativ mit ihren Vorgaben umgehen würden. Doch Grage nennt nur Fälle, in denen der Umbruch bereits auf anderen Gebieten etabliert war und dann in die Literatur importiert wurde, etwa die Erfindung der Zentralperspektive. Ohne ein Experte auf diesem Gebiet zu sein, hätte ich mir doch mehr von den literarischen Texten erwartet.

Der Hinweis auf diesen anderen Textbegriff darf natürlich nicht als Kritik an Chaotischer Abgrund und erhabene Weite verstanden werden; es zeigen sich an solchen methodologischen Entscheidungen nur eben die Präferenzen des Autors Grage. Und die sollte der Leser kennen, wenn er nicht vor einer falschen Folie lesen will.


Joachim Schiedermair
Universität München
Institut für Nordische Philologie
Amalienstr. 83
D-80799 München

Ins Netz gestellt am 24.04.2001

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Anmerkungen

1 Anton Kaes: New Historicism: Literaturgeschichte im Zeichen der Postmoderne? In: Moritz Baßler (Hg.): New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. Frankfurt a. M.: Fischer 1995. S. 251-267, hier: S. 255f.   zurück