- Axel Gellhaus / Horst Sitta (Hgg.): Reflexionen über Sprache aus
literatur- und sprachwissenschaftlicher Sicht.
(Reihe Germanistische Linguistik 218) Tübingen: Niemeyer 2000.
114 S. Kart. DM 74,00.
ISBN 3-484-31218-1.
Der vorliegende Band versammelt fünf für den
Druck bearbeitete Referate, die auf einem Kolloquium am 19. Februar 1999
anlässlich der Verabschiedung des Aachener Linguisten und
Sprachdidaktikers Götz Beck aus dem aktiven Universitätsdienst
gehalten wurden. Das Rahmenthema des Kolloquiums lautete
"Sprachkritik" eine Perspektive, die für Becks
fachwissenschaftliche Arbeiten stets Gewicht besaß. Das Besondere
dieses Bandes liegt zunächst darin, dass es Linguisten und
Literaturwissenschaftler sind, die hier ihrem gemeinsamen Gegenstand
der Sprache einen kritischen Blick entgegenbringen. Hinzu kommt, dass die
Vertreter der beiden germanistischen Disziplinen in ihren Beiträgen die
Blickrichtung der jeweils anderen Disziplin einnehmen und damit versuchen,
"tendenziell gegen den Strich zu denken, den die je eigene Disziplin
vorgibt" (S. VIII).
Wie die Herausgeber in ihrem "Vorwort" betonen, ist ein solcher
Blickwechsel keineswegs unproblematisch, da Linguistik und
Literaturwissenschaft ihren Gegenstand >Sprache< auf durchaus
unterschiedliche Weise konstituieren. Fasst die Linguistik Sprache
grundsätzlich als "Potenz" (als System) auf, um,
synchron oder diachron, deren Struktur auf der Laut-, Buchstaben-, Morphem-,
Wort- und Satzebene zu beschreiben und zu erklären, so will die
Literaturwissenschaft hauptsächlich die "Sprache in Werken"
(also in Texten und Textverflechtungen) sowie die Relationen Autor-Werk
und Werk-Rezipient interpretieren und verstehen. Der "deskriptive
Grundgestus" der Linguistik hat dazu geführt, dass der "kritische
Blick auf die Sprache" an den Rand gedrängt, wenn nicht gar aus den
fachlich akzeptierten Zugangsweisen ausgeschlossen wurde. Auch die
Literaturwissenschaft verzichtet auf eine kritische Komponente und überlässt
die Literaturkritik hauptsächlich den Feuilletons der Medien (S.. VII).
Gleichwohl hat sie einen engeren Bezug zur Kritik, denn der jeweils
zeitgenössische Umgang mit Sprache wie auch die Sprache überhaupt als
Möglichkeit von Literatur wird in der Literatur selbst nicht selten zum
Gegenstand der Reflexion gemacht. Trotzdem, so die Herausgeber, ist die
Frage nach der "Sprachkritik in der Literatur" fachwissenschaftlich
"nicht immer die gängige" (S. VIII).
Wenn die Herausgeber des Bandes wie auch mehr oder weniger die
anderen Beiträger dafür plädieren, der sprachkritischen Komponente sowohl in
der Linguistik als auch in der Literaturwissenschaft gegenüber der bloß
beschreibenden und verstehenden (wieder) einen Platz einzuräumen, so
vermeiden sie es aus guten Gründen dennoch, den Begriff >Sprachkritik<
näher zu bestimmen. Stichworte wie >Sprachreflexion<, auch >Sprachkultur<
bzw. >Sprachkultivierung< (ebd.), sollen vielmehr einen Anhaltspunkt
dafür geben, was die einzelnen Beiträge miteinander verbindet und leitet.
Es wird zu fragen sein, ob sich aus den Beiträgen insbesondere aus jenem
von Horst Sitta am Ende des Bandes, der sich explizit dieser Frage zuwendet
ein Umriss dessen ergibt, was Sprachkritik ist oder sein könnte.
Den Auftakt der Reihe macht Dieter Breuer mit einem Aufsatz über
Simplicianische Sprachkritik Grimmelshausens Traktat Deß
Weltberuffenen Simplicissimi Pralerey und Gepräng mit seinem Teutschen
Michel (S. 1-12). In guter philologischer Manier beginnt der Autor mit
einer für das Verständnis von Schriften aus der Barockzeit
erforderlichen Interpretation und Klärung der im Titelblatt enthaltenen
Anspielungen. Typisch für Grimmelshausen sei die fiktiv aufgebaute Spannung
zwischen dem Autor Simplicissimus und einem Herausgeber "Signeur Meßmahl"
, was ein Anagramm für "Grimmelshaußen" darstelle. Der Titel
Pralerey und Gepräng mit seinem Teutschen Michel meine eine
"Lob- und Verteidigungsrede des hergebrachten deutschen Sprachgebrauchs".
Zudem enthalte das Titelblatt die Aussage, der Traktat sei für Leser aller
Schichten bestimmt, lustig zu lesen und zugleich ernst gemeint. Es folgen die
ausgiebige Rekonstruktion des Erscheinungsdatums (1672) und -ortes (Nürnberg
bei Felßecker) sowie die Klärung intertextueller Bezüge. Grimmelshausen werte
ausgiebig Garzonis Piazza Universale (dt. Übersetzung von 1619)
sowie vor allem eine Reihe von Schriften aus dem Umkreis der barocken
Sprachgesellschaften (Moscherosch, von Zesen, Schottelius u.a.) aus.
Den ersten Abschnitt dieses Beitrags (S. 1-5) beschließen Hinweise zur
Druckgeschichte des Traktats.
Der zweite Abschnitt (S. 5-8) referiert ausführlich den Inhalt des in
dreizehn Kapitel gegliederten Buches, dessen Programm offenbar bereits die
Titelillustration (wiedergeben auf S. 1) liefert: Ein vor einer Staffelei
tänzelnder Narr hat auf den Malgrund die Worte geschrieben:
"Wie deß Mahlers Farb-gemeng So ist unser Sprach-gepräng".
Breuer sieht die sprachkritische Stoßrichtung des Traktats in einem
kulturpatriotischen Zusammenhang. Mit satirischen Mitteln klopfe der Traktat
verschiedene Sprachverhaltensformen seiner Zeit ab und bewerte sie.
Grimmelshausen stelle die "Sprachkündigen" den
"Einsprachern" gegenüber und erweise damit den Wert der
Muttersprache (Caput I), er kritisiere die fremde Sprache und Sitten
nachahmenden und ins Deutsche mischenden "Sprach-Helden"
(Caput II und III), aber auch die "Teutsch-Verderber", die mit
zuviel vermeintlicher Liebe zur Muttersprache in die Orthographie eingreifen
und alle Fremdwörter verdeutschen möchten (Caput IV und V). In gleicher
Weise kritisiere Grimmelshausen die Sprachmengerei, den unmäßigen Gebrauch
von Fremdwörtern (Caput VI). An Exempelgeschichten führe er weitere
"Geckereyen" im Umgang mit der Sprache vor (Caput VII), verspotte
den übertriebenen Stolz auf Mundarten (Caput VIII) und z.B. die penetrante
Verwendung von Flickwörtern (Caput IX). In Caput X konzentriere sich
Grimmelshausen wieder auf die Sprachreformer. Sein sprachpflegerischer
Impetus richte sich gegen jene, die fremde Wörter einführen und sich nicht
um die Pflege der Muttersprache kümmern. Mit Caput XI nähere sich der
Traktat seinem Höhepunkt. Grimmelshausen frage danach, wo "das beste
Teutsch" zu finden sei und wer es spreche. Wichtig sei die an dieser
Stelle gegebene Bewertung: "Die Hochsprache", paraphrasiert Breuer
(S. 7 f.), "sei zugleich Trägerin bestimmter moralischer Qualitäten;
sie umfasse Tugenden wie teutsche Aufrichtigkeit, Redlichkeit und Treue.
Aus der Nachfolge der >alten teutschen Tugenden< ergebe sich auch
der rechte Gebrauch der deutschen Sprache, das >beste Teutsch<." In
Caput XII mache Grimmelshausen einen, gewiss ironisch gemeinten, eigenen
Vorschlag für eine Sprachreform. Da das Deutsche, wie Martin Zeiller
Itinerarii Germaniae Nov-antiquae Compendium, 1662 festgestellt
hatte, durch zahlreiche einsilbige "Grund- oder Stamm-Wörter"
charakterisiert sei, kürze er alle mehrsilbigen Wörter um das unbetonte -e
(z.B. Blum, Mangl, gwesn), was zur "urtümlichen Einfachheit"
zurückführe. Das abschließende Caput XIII warne, so Breuer (S. 8),
noch einmal "vor kultureller Überfremdung durch Verachtung der
Muttersprache", denn "die eigene Freiheit sei bedroht, wenn man
weiter Sprache, Kleidung und Lebensart einer fremden Nation nachäffe".
Nach diesem Referat wendet sich Dieter Breuer dem interpretatorischen Teil zu.
Er stellt in soziologisch-politischer Perspektive den Traktat
"in die Tradition der >teutschen Bewegung<, der Opposition gegen die
absolutistischen Tendenzen an den deutschen Fürstenhöfen und deren
Orientierung an der französischen und italienischen Hofkultur".
Grimmelshausens Ziel sei sprach- und moraldidaktisch zugleich: "gegen
Überfremdung und Verachtung der Muttersprache", für Bewahrung
der alten Reichsordnung mit ihrer "selbstbewussten volkssprachigen Kultur
und einer auf Treu und Glauben gegründeten einfachen Moral" (S. 9).
Hierin gehe er konform insbesondere mit der Fruchtbringenden Gesellschaft,
setze sich aber von deren teilweise geübtem extremen Sprachpurismus
deutlich ab. Gleichwohl sieht Breuer leider ohne hierfür weitere
Begründungen und Erläuterungen zu geben Grimmelshausens Traktat
im zeitgenössischen Kontext auf verlorenem Posten, denn dessen
"Abstand zu den Übereinkünften der neuen Bildungsschicht"
sei überaus groß gewesen (S. 9). Doch Grimmelshausen, so Breuer,
sei es vermutlich gar nicht darum gegangen, am "gelehrten
Sprachdiskurs" teilzunehmen: "Denn im Grunde beschreibt und
charakterisiert er in diesem >Tractätlein< sein eigenes Sprachverhalten
und demonstriert es zugleich mit entliehener Gelehrsamkeit und lustigen
Exempelerzählungen. Es macht sogar Sinn, den Teutschen Michel als
Rechtfertigungsschrift zu lesen. Grimmelshausens Problem ist nach wie vor die
mangelnde gelehrte Bildung [...]." Habe er in früheren Schriften
diesen Umstand noch beklagt, "so stellt er sich nunmehr die Aufgabe,
den Wert der muttersprachlichen Bildung aufzuzeigen, den eigenen Bildungsgang
keineswegs als defizitär zu rechtfertigen [...]" (S. 9). Letztlich
berufe sich Grimmelshausen auf die Natur, auf die göttliche
Schöpfungsordnung, wenn er sich gegen das "Farb-gemeng"
der Maler ebenso wendet wie gegen das "Sprach-gepräng"
der unmäßigen gelehrten Sprachreformer.
Dieter Breuer hat, was durch das hier gegebene ausführliche Referat
dargestellt werden sollte, vor allem eine umfassende historische und
inhaltliche Beschreibung dieses eher am Rande des Grimmelshausenschen
Werks angesiedelten Traktats gegeben. Deutlich geworden ist insbesondere
Grimmelshausens kritischer Rekurs auf den Sprachgebrauch und auf die
gelehrten sprachreformerischen Bestrebungen seiner Zeit. Die Positionierung
des Traktats als persönliche Rechtfertigungsschrift ist überzeugend,
doch wäre ein vertieftes Eingehen auf die sprachkulturellen Spannungen,
denen Grimmelshausen sich ausgesetzt sah, wünschenswert gewesen.
So bleibt insbesondere die Frage offen, ob die vielfältigen satirischen
Angriffe Grimmelshausens eine Art >Rundumschlag< gegen sämtliche
gelehrte Strömungen darstellen oder ob er sich speziell gegen einzelne
Gelehrte, den Purismus Philipp von Zesens beispielsweise, wandte. Auch der
sprachkritische Gehalt des Traktats wird auf einer allgemeineren Ebene nicht
recht greifbar. So bedarf die Schlussfolgerung, Grimmelshausen berufe sich
auf den Wert der Muttersprache und lobe sie als eine natürliche,
göttliche Schöpfung, angesichts mancher in dem Traktat enthaltener
kritischer Bemerkungen gerade gegen den Purismus und gegen die
willkürliche Schaffung einsilbiger Stammwörter wohl doch noch
der Differenzierung.
Der zweite Beitrag über >Das Schweigen der Sirenen< Poetische
Sprachreflexion in der Prosa Franz Kafkas stammt von Axel Gellhaus
(S. 13-39). Der Autor konstatiert zu Beginn, dass sprachtheoretische
Äußerungen von Kafka nicht vorliegen, Sprache als Motiv und
Gegenstand jedoch in dessen Prosa einen wichtigen Platz einnehmen. Gleichwohl
ist das Thema "Sprachreflexion" in der Kafka-Forschung bislang
kaum behandelt worden. Dem will Gellhaus Abhilfe schaffen und schafft sie.
Er geht in seinem Beitrag, der auf einer Folge von Vorträgen basiert,
das Thema auf zwei Wegen an: zunächst rekonstruiert er Kafkas
Reflexionen über Sprache aus einer Reihe verstreuter Bemerkungen
in dessen Prosawerk (S. 13-29), dann fragt er nach den "Formen
und Konsequenzen" dieser Reflexionen (S. 29-38).
Im Mittelpunkt des ersten Teils stehen Interpretationen, und zwar der
Erzählung "Ein Bericht für eine Akademie", des Textes
"Ein altes Blatt" (enthalten in Kafkas Oktavheft C) sowie eines
Abschnittes aus der Erzählung "Beim Bau der Chinesischen Mauer
". Gellhaus arbeitet heraus, dass Kafka Sprache aus der Perspektive
eines Zivilisationsprozesses heraus wahrnimmt und zu bestimmen versucht.
Zeuge dieses Prozesses sei der Affe Rotpeter, der Sprechen (und zugleich
Saufen!) gelernt habe und diese beiden zivilisatorischen Verhaltensweisen
in seinem Bericht reflektiere. Als "Grenzgänger zwischen den
Welten", der tierischen und der menschlichen, spüre er der
Tauglichkeit von Sprache nach, "das damals affenmäßig
Gefühlte"; "die alte Affenwahrheit"
auszudrücken. Das Ergebnis ist tiefe Sprachskepsis: das sprachlich
Geschilderte liege allenfalls in der selben Richtung wie das zu
Schildernde, mit Sprache könne nur die bloße Richtung des zu
Vermittelnden angedeutet werden, >Natur<, >Gefühl< und >Wahrheit<
seien nur "annäherungsweise" zu erreichen (S. 19).
Radikaler noch zeigt sich diese Skepsis in Gellhaus´ Interpretation des
Textes "Ein altes Blatt". Dort wird von sprachlosen Nomaden
berichtet, die auf barbarische Weise eine Stadt belagern und auszehren,
ohne dass Handwerker, Geschäftsleute und der Kaiser selbst etwas
dagegen tun können. Gellhaus interpretiert diese Nomaden im
psychoanalytischen Sinne als das Unbewusste in uns, als ein "monadisch-sprachloses Phänomen" (S. 24), dem auf dem Wege der
Sprache nicht beizukommen sei. Daraus ergibt sich ein "
philosophisch-poetisches Problem": Wie kann Dichtung zu jenen
"dunklen Mächten", von denen Kafka in einem Brief an
Max Brod vom 5. Juli 1922 schrieb, gelangen, wie kann eine "sich
jedem sprachlich-logischen Zugriff entziehende, gleichsam jeden Begriffs
spottende Schicht der menschlichen Realität als solche mit den
Mitteln der Sprache überhaupt objektiviert und reflektiert werden"
(ebd.)? Zwar könne der Künstler nach Kafka, so Gellhaus, schreibend
auf jene unbewusste Wahrheit reagieren, ob allerdings "das Geschriebene
auch die adäquate Form der Wahrheitsvermittlung sei", bleibe
fraglich. Letztlich stehen für Kafka Sprache und Wahrheit in einer
"grundsätzlichen Unversöhnlichkeit" zueinander (S. 25).
Konsequenterweise kann der Dichter für sein Erzählen dann nur
noch auf die Gleichnishaftigkeit, auf die Metaphorizität der Sprache
setzen.
Der zweite Teil des Aufsatzes ist der Frage gewidmet, wie sich der Befund,
Sprache sei "das einzige Medium, in dem eine >Expedition nach der
Wahrheit< unternommen werden kann, zugleich aber ungeeignet, diese zu
artikulieren" (S. 31), in der Struktur der Kafkaschen Prosa
niederschlägt. Kafka arbeite, so Gellhaus, nicht, wie die Romantiker,
mit der Ironie, sondern auf eine ganz eigene Weise mit dem Paradox, in dem
die "Unauflösbarkeit des Widersprüchlichen Gestalt
annimmt" (S. 33). Mit dem Paradox beispielhaft stehen hierfür
die Texte Kleine Fabel und Das Schweigen der Sirenen
werde der Leser vor eben die Aufgabe gestellt, vor der auch der Dichter
immer wieder steht: die Wahrheit oder hier die Logik suchen zu
müssen und sie nie finden zu können.
Axel Gellhaus hat in seinem Beitrag die Grundlagen der poetischen
Sprachreflexion Franz Kafkas umfassend aufgezeigt und konturiert. Deutlich
wird dabei vor allem die Nähe Kafkas zu Nietzsche, Mauthner und
Hofmannsthal, so dass dessen Reflexionen durchaus als ein Beitrag zu
"Sprachkrise" der Jahrhundertwende, zur Selbstverständigung
der Dichter über ihr Tun, gelesen werden können. Darüber
hinaus hat Gellhaus dargestellt, welchen Niederschlag Kafkas Sprachauffassung
in seiner Prosa gefunden hat, wie in den Erzählstrukturen und
Erzählmotiven die grundsätzliche Sprachskepsis gespiegelt
und aufgefangen wird. Wir haben mit diesem Beitrag also einen weiteren
Baustein für eine Geschichte der Sprachkritik vorliegen, in der auch
die literarische Sprachkritik mehr als bisher geschehen
berücksichtigt werden sollte.
Den dritten Beitrag hat Richard Matthias Müller der Frage "Gibt
es belastete Wörter?" gewidmet (S. 41-59). Da Sprachkritik,
insbesondere in ihrer populären, feuilletonistischen Form oftmals
Wortkritik war, hebt dieser Beitrag also auf ein zentrales sprachkritisches
Problem ab. Müller teilt die Wörter, die gegenwärtig als
belastet gelten, in vier Kategorien ein:
- (a) "Schimpfwörter,durch ein zusätzliches Element belastet" (S. 42),
- (b) "Wörter, durch gelegentlichen (‚okkasionellen') Schimpfwortcharakter belastet" (S. 43 f.),
- (c) "Wörter,durch Assoziationen belastet" (S. 44-47),
- (d) "Wörter,durch ihren ‚falschen' Körper belastet" (S. 47-54).
Den Abschluss
des Beitrags bilden "Allgemeine Überlegungen zum Umgang mit
belasteten Wörtern" (S. 54-58). Zu Beginn seines Beitrags bemerkt
Müller, dass Wörter "ohne konkreten Kontext unter Anklage
gestellt werden" können, es bei der Kritik gleichwohl aber
"immer um ihren Gebrauch" in Texten und Situationen gehe (S. 41).
Diese Feststellung klingt auf den ersten Blick widersprüchlich, doch
ist damit vermutlich gemeint, dass selbst dann, wenn Wörter isoliert
betrachtet und kritisiert werden (beispielsweise Fräulein oder
Volksgemeinschaft), der jeweilige Gebrauchskontext als Anlass der Kritik
immer mitschwingt.
Beim Durchgang durch die vier unterschiedenen Kategorien potentiell belasteter
oder als belastet angesehener Wörter zeigt sich, dass nach Ansicht
Müllers eine Belastung der Wörter als Wörter nicht vorliegt
und folglich ihre bloße Kritik aus sprachwissenschaftlicher Sicht
kaum haltbar ist. Bei Schimpfwörtern (Kategorie a und b), in denen
Rassismus oder Fremdenfeindlichkeit mitschwingt (wie in nigger, Itaker,
Polack, Kümmeltürke) oder die Personengruppen tatsächlich
oder vermeintlich herabsetzen (wie Schuster, Putzfrau, Lehrling), erkennt
Müller in erster Linie einen bloßen Symptomcharakter der
Sprache: "Die Wörter sind bloße Spiegel, haben sich als
Instrumente der Lebensumstände gemäß diesen bedrückenden
Umständen geformt" (S. 55). Auch wenn der Gedanke nahe liegen mag,
Realitäten über Wörter verändern zu wollen, so sei das
doch ein vergebliches Unterfangen und lenke davon ab, die
"eigentliche Wurzel des Übels" (S. 56), nämlich die
Realität selbst, anzupacken. In die Kategorie (c) fallen insbesondere
Wörter, die in der Zeit des Nationalsozialismus semantisch
geprägt und gebraucht wurden und die heute als diskriminierend,
euphemistisch oder unmoralisch empfunden werden (z.B. arisch, entartet,
Vergasung, aber auch Durchführung und durchführen).
Müller erkennt auch in diesen Wörtern die ja schon von
Sternberger, Storz und Süskind in ihrem "Wörterbuch
des Unmenschen" kritisiert worden sind selbst nichts Belastendes,
"Unmenschliches", "außer dass sie für
Unmenschliches gebraucht werden können und tatsächlich einmal
gebraucht wurden wie Autobahnen und Volkswagen" (S. 46). Bleiben
als letzte Kategorie jene Wörter, die zumeist als Komposita
aufgrund ihrer Wortbildungsstruktur Assoziationen von dem bezeichneten
Gegenstand oder Sachverhalt wecken, die der Realität nicht
entsprechen (z.B. Endlösung, Geisterfahrer,
Vergangenheitsbewältigung, Wiedergutmachung). Nach Müller
liegt der Kritik an derartigen Wörtern die irrige Annahme
zugrunde, "dass Wortkörper ihren Inhalt irgendwie abbilden
oder beschreiben müssten" (S. 50). Zwar betrachtet
Müller die "Richtigkeitskritik an Wortkörpern"
nicht als verwerflich, denn "Hinweise auf Diskrepanzen
zwischen dem Eigen-Sinn eines Wortkörpers und dem Wortinhalt
können ja höchst bildend sein" (S. 52), doch scheint er insgesamt
auch seine Kritik an der feministischen Sprachkritik legt das nahe
von einer ungeteilten Arbitrarität des sprachlichen Zeichens auszugehen, die
jegliche Kritik an Wörtern als methodische Unmöglichkeit erscheinen lässt.
Die Geschichte um die Diskussion belasteter Wörter, die zweifellos in den
Bereich der inzwischen reichlich diskreditierten Bewegung um
"political correctness" gehört, ist nach Müller ein
"Kapitel der Gewalt", der Verbote und Sanktionen.
Auf diese Weise und hier ist Müller völlig zuzustimmen
ist weder dem Sprachgebrauch noch der Sprache selbst beizukommen.
Reine Wortkritik hat letztlich keine linguistische Grundlage.
Dennoch ist es verwunderlich, dass Müller in seinem Beitrag nicht
wenigstens abschließend darauf hinweist, dass Sprachkritik über Wortkritik
hinaus sinnvollerweise auch in eine Begriffs- und Diskurskritik münden kann,
in der zwar nicht die Wörter selbst, wohl aber ihr Gebrauch zum Zwecke der
Konstruktion bestimmter Wirklichkeitsbilder wieder in den Fokus der
Aufmerksamkeit geraten.
Im vierten Beitrag des Bandes schreibt Markus Nussbaumer über
"'Prügelknaben, Besserwisser, Musterschüler, Saubermänner'
Juristen und Sprachkritik" (S. 61-93). Einleitend macht Nussbaumer
die grundlegende Verbundenheit zwischen Recht und Sprache deutlich, indem
er die Sprache als das erste, letzte und fast einzige "Handwerkszeug
der Juristen" bestimmt. Folglich gibt es auch zahlreiche Bezüge des
Rechts zur Sprachkritik, zu einer "kritisch-wertenden, urteilenden
Bezugnahme auf Sprache, auf Sprachgebrauch" (S. 61). Dabei erscheinen
das Recht und die Juristen zum einen selbst als Gegenstand der Sprachkritik
(als "Prügelknaben"), zum zweiten urteilen Juristen über den
Sprachgebrauch anderer, sind also selbst Sprachkritiker
("Besserwisser"), zum dritten verändern Juristen mit Rechtstexten
die Welt, werden also "sprachkritische Musterschüler und
Saubermänner".
Illustriert mit einer Fülle von Beispielen durchstreift Nussbaumer in seinem
Beitrag diese drei Felder. Der geläufigen populären Stilkritik an Rechtstexten,
die überall Unverständlichkeit und Umständlichkeit vermutet, wie auch der
"weitherzigen Fachsprachenforschung", die juristische Fachsprache
mit dem Hinweis auf deren Funktionalität in der internen Kommunikation
rechtfertigt, folgt Nussbaumer nicht. Er macht deutlich, dass in vielen
Fällen Sprachkritik an Rechtstexten Not tut, allerdings stets unter
differenzierter Berücksichtigung der kommunikativen Zwecke. So sind Passiv
und Nominalstil, Ausklammerungen oder komplexe Nominalphrasen oftmals
vermeidbar, manchmal aber durchaus aus Präzisionsgründen angebracht.
Hinsichtlich der Fälle, in denen Juristen als Sprachkritiker auftreten und
über sprachliches Verhalten urteilen müssen beispielsweise in der Frage,
wann eine Aussage eine Warnung oder eine Drohung ist oder ob man mit der
Aussage, jemand sei ein Waffennarr, dessen Persönlichkeitsrechte verletzt usw.
stellt Nussbaumer die Frage, ob hier nicht eine verstärkte Einbeziehung
der Linguistik und einer linguistischen Sprachkritik in die juristischen
Entscheidungsprozesse nötig und möglich wäre. Schließlich diskutiert er am
Beispiel der im Schweizer Berufsbildungsgesetz (Entwurf von 1999) vorgesehenen
Ersetzung des Begriffs Ausbildung durch Bildung die Konsequenzen, die eine
solche sprachkritisch motivierte Ersetzung sprachlich, rechtlich und
gesellschaftlich haben würde. Abschließend plädiert Nussbaumer für eine
"umsichtige linguistisch-sprachkritische Begleitung" (S. 91) des
juristisch-sprachlichen Tuns mit dem Ziel, stets den pragmatischen Weg
zwischen Sprachmisstrauen und Sprachvertrauen zu suchen und zu finden.
Der große Vorzug dieses Beitrags liegt in dem Umstand, dass hier ein Kenner
beider Materien, der Jurisprudenz und der Linguistik, zudem ein Mann aus der
Praxis (Nussbaumer ist Mitarbeiter in den Zentralen Sprachdiensten der
Schweizerischen Bundeskanzlei in Bern), mit sprachkritischem Interesse und
Impetus umfassend das Verhältnis von Sprache und Recht beleuchtet. Für den
Linguisten ergeben sich daraus neue Einblicke in das Recht, für den Juristen
so ist zu vermuten neue Einblicke in die Sprache, so wie Linguisten sie
verstehen. Als Fazit bleibt die Feststellung, dass das "unvollkommene
Werkzeug Sprache" (S. 91) eine immerwährende sprachkritische
Aufmerksamkeit nötig macht.
Der fünfte und letzte Beitrag "Was publizistische Sprachkritik sein
könnte" stammt von Horst Sitta (S. 95-114). Ausdrücklich grenzt
er zu Beginn andere Formen von Sprachkritik die schulische und
wissenschaftliche von seinem Thema ab, um das Augenmerk ganz auf die
publizistische Sprachkritik, wie sie im Feuilletonteil der Presse geübt wird,
zu richten. Diese operiert nach der begründeten Ansicht Sittas nämlich
"auf einem beklagenswert niedrigem Niveau" (S. 96). In seinem klar
gegliederten Beitrag stellt er zunächst heraus, "wie Sprachkritik nicht
sein sollte" (S. 96-98), fragt dann, "welchen Prinzipien
Sprachkritik verpflichtet sein sollte" (S. 98-104), gibt anschließend
Beispiele für "Stoffe, aus denen Sprachkritik gewirkt sein könnte"
(S. 105-112) und bestimmt zum Schluss den "möglichen Nutzen einer
publizistischen Sprachkritik" (S. 112 f.).
Heutige publizistische Sprachkritik ist nach Sitta bestimmt durch einen
völlig eingeengten Begriff von Sprache, agiert ohne jeden linguistischen
Sachverstand, gibt sich ausschließlich destruktiv, selbstgefällig und
deutlich antiakademisch und antiaufklärerisch. Als "bester"
Repräsentant dieser Art von Sprachkritik gilt ihm der Journalist Wolf
Schneider. Ein Beispiel aus dessen Feder druckt Sitta ab. Er setzt dagegen
eine Sprachkritik, die einem "reichen, lebendigen Begriff von
Sprache" verpflichtet ist (illustriert an dem Gedicht
"Was Worte alles können" von Hans Manz), die auf linguistischem
Sachverstand aufbaut, die Nachdenklichkeit und Staunen als Ausgangspunkt
nimmt, die ihre Normen selbstkritisch wie schon die Rhetorik und
Stilistik reflektiert und die sich durchaus als eine akademische und
aufklärerische Disziplin versteht. Auch für eine solche positive
Sprachkritik gibt Sitta schöne, essayistische Beispiele. Stoffe liegen für
die Sprachkritik reichlich parat: die Suche nach passenden Wörtern,
beispielsweise was schon Kurt Tucholsky beschäftigte dafür,
was die Birkenblätter tun, wenn der Wind durch sie hindurchweht, die Frage,
wie Textsorten zu gestalten sind, eine Entschuldigung zum Beispiel, die
Bewertung stilistischer und grammatischer Eigentümlichkeiten und
Veränderungen, die kritische Kommentierung von Werbung, das Nachspüren des
Hangs zur Veröffentlichung von Privatem, die Beobachtung des Wandels im
Anredeverhalten usw.
Angesichts der Tatsache, dass sich die Sprachwissenschaft vermutlich nur
schwerlich der Wertung öffnen wird, plädiert Sitta für die
"Institutionalisierung einer zweiten Disziplin (man mag sie Sprachkritik
nennen), die sich ausdrücklich auch der Wertung annimmt" (S. 112).
Eine solche Disziplin sollte als Normenkritik, als Manipulationskritik und
als Erkenntniskritik konzipiert sein. Sie hätte Bezüge zur Sprachdidaktik
und zur Sprachwissenschaft, und sie würde eine Bildungsaufgabe in der
Öffentlichkeit wahrnehmen, nämlich die Erziehung zur "Kritikfähigkeit
sprachlichen Erscheinungen gegenüber" (S. 113).
Horst Sitta hat in seinem Beitrag keine grundlegende Bestimmung von
Sprachkritik gegeben und geben wollen. Aber er hat nachdrücklich gezeigt
und illustriert, dass Sprachkritik als ein aufklärerisches Anliegen nicht
nur eine Berechtigung besitzt, sondern zum Zwecke öffentlicher
Bewusstseinsbildung dringend erforderlich ist. Sprachkritik gerade
auch publizistische Sprachkritik kann und muss öffentlichen
Sprachgebrauch kritisch reflektierend begleiten und auf Defizite ebenso
aufmerksam machen wie positive Muster sprachlichen Verhaltens bereitstellen.
Fazit
Der hier vorgestellte Band erscheint mit seinen fünf zeitlich wie thematisch
weit auseinander liegenden Beiträgen auf den ersten Blick recht heterogen.
Klugerweise haben die Herausgeber in ihrem Vorwort darauf verzichtet, einen
inhaltlich gewebten roten Faden zwischen Grimmelshausen, Kafka,
belasteten Wörtern, Juristensprache und publizistischer Sprachkritik zu
suchen. Gleichwohl ist ein solcher Faden vorhanden thematisch als
durchgehender Blick auf Sprache, methodisch als Wertung von Sprachgebräuchen
und Grenzbestimmung der Möglichkeit sprachlich vermittelter Erkenntnis und
ihrer Kommunikation. Was sich damit zunächst zeigt, ist die Vielfältigkeit
nicht nur der Sprache, sondern auch der Sprachkritik, wenn man ihr nicht
wie es die Sprachwissenschaft tut und tun muss einen allzu reduzierten
Sprachbegriff zugrunde legt.
Und ein Zweites zeigt sich: Wenn Linguisten und Literaturwissenschaft einen
solchen kritischen Blick auf die Sprache werfen, dann werden trotz
einer thematischen Vorgabe immer noch unterschiedliche Blickweisen
deutlich. Die Literaturwissenschaftler rekonstruieren aus Texten die
Positionen von Autoren zur Sprache. Selbst werten sie nicht, sie bleiben
also Philologen, auch dort, wo ihr Thema "Kritik" ist. Die
Linguisten dagegen üben oder konzipieren explizit Sprachkritik,
müssen selbst also Wertungen vornehmen. Es wäre eine Frage, ob diese
Beobachtung zu der Konsequenz führen muss, dass Literaturwissenschaft und
Linguistik auf dem Gebiet der Sprachkritik zwar inhaltlich, nicht aber
methodisch zusammenzuführen sind. Dennoch bleibt festzuhalten, dass beide
Disziplinen eben weil sie den gleichen Gegenstand, aber
unterschiedliche Zugänge zu ihm haben durchaus mit gegenseitigem
Interesse füreinander arbeiten und zusammenarbeiten könn(t)en.
Als Drittes und darin dürfte die hauptsächliche Botschaft des Bande
liegen deuten alle fünf Beiträge eher mehr als weniger darauf hin,
dass Sprachkritik weder Luxus noch Unmöglichkeit ist, sondern eine
Notwendigkeit der Selbstverständigung von Menschen darstellt. Daran,
eine solche Sprachkritik zu konstruieren und zu etablieren, muss gearbeitet
werden das Aachener Kolloquium zu Ehren von Götz Beck hat seine
Beiträge dazu geleistet.
PD Dr. Jürgen Schiewe
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Breisgau
Deutsches Seminar I
Postfach
D-79085 Freiburg i. Br.
Ins Netz gestellt am 4.09.2001
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