Schmidt über Schmid: Jungfrau und Monster - Preprint

Benjamin Marius Schmidt

Susanne Schmid: Jungfrau und Monster. Frauenmythen im englischen Roman der Gegenwart. (Geschlechterdifferenz und Literatur, Band 6) Berlin u.a.: Erich Schmidt 1996.197 S. Kart. DM 64,-



Die Protestbewegung ist nur ihre eigene Hälfte.
Niklas Luhmann

In ihrer an der Freien Universität Berlin als Dissertation eingereichten Studie Jungfrau und Monster untersucht Susanne Schmid, wie der Untertitel sagt, "Frauenmythen im englischen Roman der Gegenwart". Genauer gesagt geht es ihr um Mythen über Frauen (und Männer und die Unterschiede zwischen ihnen) in Romanen von Frauen. Vier englischsprachige Autorinnen stehen im Mittelpunkt dieser Untersuchung, die in der von Gerhard Neumann und Ina Schabert herausgegebenen Publikationsreihe des Münchner Graduiertenkollegs Geschlechterdifferenz & Literatur erschienen ist: Angela Carter, Jeanette Winterson, Emma Tennant und A.S. Byatt.

Die auf den Eingangsseiten des Bandes abgedruckte Selbstdarstellung des Graduiertenkollegs formuliert als Ausgangsannahme der in diesem Rahmen Forschenden,

daß Prägemuster des Weiblichen und Männlichen zwar allenthalben in religiösen, mythischen, natur- und sozialwissenschaftlichen oder juristischen Diskursen ihre Wirkung entfalten, deren eigentliche Differenzierung und Problematisierung jedoch erst in literarischen Texten erfolgt. (S.5)

Schmids Untersuchung nimmt von dieser Annahme ihren Anfang. "Mythen", so stellt sie einleitend fest, "schreiben Geschlechterpolaritäten fest" (S.11). Daraus ergibt sich die Frage, ob die Romane und Erzählungen der vier untersuchten Autorinnen in ihrem Umgang mit mythischem Material und mythischen Formen ebenfalls Geschlechterpolaritäten festschreiben oder ob in ihnen tatsächlich jene Differenzierung und Problematisierung stattfindet, welche - so die Annahme des Graduiertenkollegs - für Literatur charakteristisch ist.

Der Frage, was ein Mythos sei, geht Schmid in einem einleitenden Theoriekapitel in Anlehnung an die Theoretiker C.G. Jung, R. Barthes, H. Blumenberg und C. Lévi-Strauss nach. Ist Mythos Erzählung von Archetypischem, verschleierter Ausdruck von Ideologie, Bannung von Terror oder autorlose bricolage? Die Spannungen zwischen den unterschiedlichen Verwendungen des Begriffes im Rahmen verschiedener Theoriezusammenhänge löst Schmid durch geschickte Kombination: Mythen sind kulturspezifische Ausformungen einer menschlichen Grundsituation, die als besonders wirkmächtige Symbole oder Geschichten stets in mehreren Versionen auftreten und kollektive Gültigkeit beanspruchen. Eine gewisse Restunsicherheit, was mit >Mythos< jeweils gemeint sei, begleitet dennoch gelegentlich die Lektüre der folgenden Analysen.

Übereinstimmend aber stellen die von Schmid referierten feministischen Mythostheoretikerinnen (P. Duncker, R.B. DuPlessis, A. Pratt, J. Russ, M. Weigle u.a.) fest, daß traditionellen Weiblichkeitsmythen ein Unterdrückungspotential innewohnt, welches in Mythosverwendungen durch Frauen kritisiert oder subvertiert wird. Schmid klammert hier bewußt die Frage nach einer spezifisch weiblichen Ästhetik aus, um stattdessen ein Spektrum unterschiedlicher, teils widersprüchlicher Strategien weiblicher Mythenverwendungen zu beobachten. Sie sieht daher eine Kluft zwischen der literarischen Bearbeitung feministischer Themen durch Autorinnen und der feministischen Theorie. Dieses Problem würde sich möglicherweise anders darstellen, wenn man Theoretikerinnen wie E. Bronfen, J. Butler oder T. Morrison dem Feld feministischer Theorie zurechnen würde.

Schmid unterscheidet zwischen verschiedenen Umgangsformen mit Mythen: Akzeptieren, Entmythologisieren, Remythologisieren und schließlich das bewußte Spiel mit dem Mythos, welches für die Postmoderne typisch sei. Hier klingt eine Frage an, die für die folgenden Analysen und insbesondere für Schmids Bewertungen der untersuchten Romane entscheidend wird: Was genau ist der Unterschied zwischen Entmythologisierung einerseits und bewußtem Spiel mit dem Mythos andererseits?

In beiden Fällen geht es nämlich, so Schmid, um ein kritisches Hinterfragen, um die ideologiekritische Entlarvung des Mythos als eines historischen Konstruktes. Während Entmythologisierung jedoch in diskursiver Auseinandersetzung stattfindet, bedeutet der spielerische Umgang mit Mythen in postmoderner Literatur ihre Inszenierung und Dekonstruktion. Schmid vermutet, daß das postmoderne Spiel die Macht patriarchaler Mythen bricht und zu frauenfreundlicheren Gegenentwürfen führt. Andererseits aber bemerkt Schmid, daß in der Literatur Ent- und Remythologisierung nahe beieinanderliegen und in ambivalentem Verhältnis zueinander stehen.

Es scheint also ein Unterschied, wenn nicht gar Gegensatz zu bestehen zwischen diskursiver Kritik (von Seiten eines wissenschaftlichen Feminismus beispielsweise) einerseits und literarischem Spiel (von Seiten weiblicher Schriftsteller beispielsweise) andererseits. Eine unausgesprochene Spannung, die Schmids Arbeit durchzieht, geht letztlich darauf zurück, daß sie einerseits die Eigenart gerade postmoderner weiblicher Literatur gegenüber diskursiv formulierter Kritik herausstreicht, andererseits aber die Mythenverwendung in diesen Romanen aufgrund eines diskursiv-kritischen Schemas bewertet, welches Subversion patriarchaler Muster und Formulierung feministischer Gegenentwürfe anstrebt.

Anhand programmatischer Äußerungen der vier untersuchten Autorinnen zeigt Schmid deren unterschiedliche Einstellungen zum skizzierten Projekt feministischer Kritik: Auf der Ebene bewußter Programmatik sieht Angela Carter im Mythos einen ideologischen Unterdrückungsmechanismus, den sie durch bewußte, spielerische Kritik zu entmythologisieren sucht. In Auseinandersetzung mit ihrem evangelikalen Hintergrund hat Jeannette Winterson das didaktische Anliegen, die Manipulation durch Mythen mit der Produktion von Gegenmythen zu bekämpfen. Bei Emma Tennant gibt es eine nicht reflektierte Spannung zwischen dem Mythos als einem Unterdrückungsmechanismus einerseits, als einem notwendigen, gegenrationalen Vorbild andererseits. A.S. Byatt schließlich, schon aufgrund ihres realistischen Stiles von der Phantastik der drei anderen abgesetzt, sieht im Mythos überzeitliche, allgemeingültige Wahrheiten, die so dem Projekt historischer Kritik entzogen sind.

Formal gesehen wird Mythos zum einen als Strukturprinzip der Erzählung eingesetzt. Als durchgehendes Strukturprinzip verwendet erhält der Mythos dann durch die Frauenperspektive eine neue Wendung (E. Tennant Philomela und Sisters and Strangers, A. Carter The Bloody Chamber). In einer Trennung zwischen Mythos und eigentlicher Erzählung können beide Ebenen sich wechselseitig kommentieren und hinterfragen (J. Winterson) oder sich spiegeln und bestätigen (A.S. Byatt Possession). Schließlich gibt es noch die Integration verschiedener Mythen in einen Text (A. Carter The Passion of New Eve). Entscheidend ist in allen Fällen die Perspektiven- und Fokusänderung durch weibliche Autorinnen / Protagonistinnen und die Demontage des Mythos als eines überzeitlichen Bedeutungsträgers durch die Integration in einen Dialog mit anderen Schichten des Textes.

Die Auseinandersetzung mit dem Mythischen kann zum anderen auf der Ebene der Textur stattfinden. Das Neo-Mock-Heroic strebt die Distanzierung vom Pathos traditioneller Mythen durch Ironie an. Während A. Carter diese Möglichkeit mit parodistischer, entlarvender Intention einsetzt, nutzt A.S. Byatt Ironie als zusätzliche Sinndimension. Auch die Genres des Phantastischen (J. Winterson The Passion), des Unheimlichen (E. Tennant The Bad Sisters) sowie des Gothic (A. Carter Heroes and Villains) haben ein vergleichbar subversives Potential, da sie die realistische symbolische Ordnung unterminieren. Schließlich stellt sich die Frage, ob mythischer Stil durch Rückgang auf eine Nullebene des Mythischen zu unterlaufen sei (A.S. Byatts entsprechendes Experiment in Still Life betrachtet Schmid als gescheitert) oder ob er vielmehr durch eine Art Potenzierung à la Barthes überwunden werden könne.

Wichtiges Element der Entmythologisierung durch literarische Behandlung ist die Zuweisung des Mythos an einen Sprecher. Dadurch verliert der Mythos seinen Status als autorlose, göttliche Wahrheit, und das Aufzeigen dahinterstehender, konkreter Interessen wird möglich. In J. Wintersons Boating for Beginners wird biblische Erzählung als propagandistische Fälschung Noahs dargestellt, wohingegen die Erzählerin / Protagonistin in A. Carters Nights at the Circus durch ein Spiel von Inszenierungen die Absolutheit von Wahrheit aufhebt.

Das Kernstück von Schmids Untersuchung befaßt sich mit dem fließenden Übergang zwischen dem Umschreiben existierender Mythen und der Kreation eines neuen Mythos. Diesen Bereich erhellt sie anhand detaillierter Einzelinterpretationen, die meist eine analysierende Nacherzählung und Motivuntersuchung mit einer abschließenden Bewertung verbinden. Zunächst interessiert sie, wie ihre Autorinnen die traditionellen Gestaltungen typisch weiblicher Grundsituationen aufgreifen: die Jungfrau, die Liebhaberin / Geliebte, die Mutter, die Schwester. So kontrastiert Schmid den kritischen Gebrauch von Mythen der Jungfräulichkeit in A. Carters The Magic Toyshop mit ihrer affirmativen Verwendung in A.S. Byatts The Virgin in the Garden. Diese Bewertung wird durchkreuzt von der Beobachtung, daß bei Byatt staatstragende (und das heißt wohl: patriarchale) Mythen zwar als Spiegel für die Entwicklung der Protagonistin eingesetzt werden, diese aber eine freie und selbständige Frau wird, wohingegen die Protagonistin bei Carter zwar aufgrund ihrer Opferrolle die Mythen, in denen sie gefangen ist, als Stereotypen und Unterdrückungsmechanismen brandmarkt, aber eben auch bleibt, was sie ist: ein Opfer.

Zu einer ähnlichen Gegenüberstellung geben die Liebesbeziehungen in J. Wintersons The Passion und A.S. Byatts Possession Anlaß. Wintersons Roman bietet feministischer Lektüre keinen Widerstand: Er kehrt traditionelle Vorstellungen sexueller Aktivität / Passivität um, spielt mit vorgefertigten Erwartungshaltungen der Geschlechterrollen, hinterfragt Stereotypen, bildet Gegenentwürfe zu traditionellen Repräsentationen, inszeniert Androgynie als mythisches Gegenbild. Schwieriger wird es bei Byatt, die - so Schmid - viktorianische Werte fortschreibt und sie gleichzeitig kritisch hinterfragt. Die multiperspektivische Darstellung des Melusinenmythos, die auch literaturwissenschaftliche Ansätze bereits in den Text integriert, erschwert die Einordnung aus feministischer Sicht. Symptomatisch scheint mir der Satz "Byatts Melusine darf zwar subversiv sein, aber sie wird von der Autorin dafür bestraft" (S.125). Das methodische Verständnis von Autorschaft und literarischer Figur, aus dem eine solche Äußerung hervorgeht, ist mir unklar und wird auch im Text nicht präzisiert.

Ebenfalls ein aussagekräftiges Gegensatzpaar konstruiert Schmid in Bezug auf Mutterfiguren. Auf der einen Seite steht E. Tennants Faustine, ein Roman, der durch die Überlagerung des Faust- mit dem Demeter / Persephone-Mythos Erfüllung der Mutterrolle und gesellschaftliche Ansprüche als nicht kompatibel darstellt. Männlich geprägter Schönheitskult gilt als Teufelswerk, während der patriarchale Mythos mütterlicher Liebe bejaht wird. Ganz anders A. Carter, die in The Passion of New Eve eine technologisch erzeugte Über- / Anti-Mutter als Zentrum eines Matriarchates schildert, das patriarchale Strukturen imitiert. Die Parodie dieses kastrierend-phallischen Frauenkultes überlagert sich mit der Bejahung des androgynen Zieles einer neuen Eva, die durch Kastration aus dem männlichen Protagonisten hervorgehen soll.

Auch das von feministischer Kritik lancierte Ideal der sisterhood wird literarisch bearbeitet. Mythische Vorlagen für sisterhood fehlen jedoch, so daß dieses Ideal von seiner Kehrseite her angegangen werden muß: Wie E. Tennants Sisters and Strangers in Bezug auf Eva und Lilith, so geht A.S. Byatt in The Game in Bezug auf Elaine und Morgan dem Problem weiblicher Rivalität nach. Während Tennant jedoch weibliches Konkurrenzverhalten als Produkt männlicher Definitionsmacht schildert und einen Akt der Solidarisierung als Idealbild dagegensetzt, geht es Byatt um das Verhältnis zwischen Realität und Imagination. Die feministische Lektüre Schmids schildert Byatts Texte daher in erster Linie ex negativo, als ein Fehlen politischer, parodistischer, kritischer Stellungnahme zum Patriarchat.

Unter Berufung auf R. Barthes geht Schmid schließlich auch der Frage nach der Möglichkeit eines neuen Mythos nach, der dann vorliege, wenn ein Bezug auf tradierte Mythen fehlt. Die Figur der Dog-Woman in J. Wintersons Sexing the Cherry gilt ihr wegen der Abwesenheit mythischer Vorbilder als Beispiel eines solchen neuen Mythos. Während jedoch bei allen bisher besprochenen Figuren die Bezüge auf weitgehend übereinstimmend als >Mythos< bezeichnete Vorbilder (Erzählungen aus der griechischen Antike, dem alten Testament usw.) wenig Fragen in Bezug auf den Begriff selbst aufkommen ließen, bleibt hier offen, warum es sinnvoll ist, diese literarische Figur der Dog-Woman als >Mythos< anzusprechen. Deutlich herausgearbeitet wird von Schmid jedoch, inwiefern sie ein mögliches Gegenbild zu patriarchalen Mythen darstellt. Insbesondere der autonome, selbstverständliche Einsatz, den die Dog-Woman von ihrem grotesken weiblichen Körper macht (hier ohne Bezug auf Bakhtinsche Subversion besprochen), zeigt die Möglichkeit auf, wie aus der Negativ-Variante traditioneller Stereotypen die Grundzüge eines neuen Frauenbildes gewonnen werden können: Sie ist ein Monster nicht deshalb, weil sie nicht Jungfrau und Engel sein kann, sondern weil sie es nicht will.

Neben der gut gelungenen analytischen Beschreibung verschiedener Formen des Umgangs mit Weiblichkeitsmythen in den Romanen und Erzählungen von Carter, Tennant, Winterson und Byatt besteht ein wichtiges Anliegen Schmids auch in der Einordnung (und man vermutet auch: Bewertung) der Romane in einem Schema, das mit zwei Oppositionen operiert, die sich zum Teil widersprüchlich überlagern können: affirmative vs kritische Haltung (zur patriarchalen Tradition) und Anwesenheit vs Abwesenheit positiver, d.h. frauenfreundlicher Gegenentwürfe. Dieses Schema funktioniert weitgehend für diejenigen Autorinnen, deren Programmatik solchen Beobachtungsschemata einer Protestbewegung verpflichtet ist, insbesondere für Carter und Winterson, zum Teil auch für Tennant. Die Negativwerte dieser Unterscheidungen schlagen sich hingegen an der Figur A.S. Byatts nieder, die überwiegend als unkritisch, affirmativ, staatstragend bewertet wird. Hier lohnt sich eine Nachfrage: Ist Byatt tatsächlich ein derartiges Monster des kritischen Feminismus oder vielmehr ein widerständiges Symptom, welches den blinden Fleck solcher Beobachtung markiert?



Dr. Benjamin Marius Schmidt
Universität Zürich
Englisches Seminar
Plattenstraße 47
CH - 8032 Zürich


Preprint der im Internationalen Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur (IASL) erscheinenden Druckfassung. Ins Netz gestellt am 15.12.1998.

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