Schoenborn/Bassler über Koschorke: Koerperstroeme

Sibylle Schönborn / Moritz Baßler

Umwälzung des kulturellen Systems
durch das Medium Schrift

  • Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München: Fink 1999. 507 S. Kt. DM 128,- ISBN 3-7705-3377-1



Zum zweiten Teil der Doppelrezension.


I.
Einführung in das Werk

Albrecht Koschorkes Untersuchung zur "Mediologie des 18. Jahrhunderts" versteht sich als umfassender Versuch, nahezu alle neueren Theorieansätze der traditionellen Geistes- und Sozialwissenschaften produktiv zusammenzubinden zu einer großen kulturanthropologischen Studie über die radikalen Umwälzungen des kulturellen Systems durch das Medium Schrift in der sogenannten "Schwellenzeit" des 18. Jahrhunderts.


"Interdependenz
von technischer Medialität und Semiose"

Angefangen bei der Kultursoziologie Norbert Elias' über die Diskursanalyse Michel Foucaults greift Korschoke in seiner Untersuchung auf neuere Schrifttheorien von Jacques Derrida, über die Mündlichkeit / Schriftlichkeits- (Jack Goody, Ian Watt, Walter Ong) bis zur Gedächtnisforschung (Aleida u. Jan Assmann) zu, um dieses breite, nicht immer widerspruchsfreie Spektrum wissenschaftlicher Forschungsansätze am Ende in einer systemtheoretischen Gesamtperspektive nach dem Luhmannschen Modell einmünden zu lassen. Koschorke geht es, wie er in der kurzen Einleitung formuliert, um eine "Medienanalyse", die unter Berücksichtung der "Materialität von Kommunikation" diskursanalytisch Semioseprozesse beschreibt, kurz gesagt, um die "Interdependenz von technischer Medialität und Semiose" (S.11).

Interdisziplinär versteht sich diese Studie in zweifacher Hinsicht, einmal im Bezug auf das untersuchte Material, zu dem gleichberechtigt neben literarischen Texten auch Gebrauchstexte sowie im breiten Umfang medizinische, frühe psychologische und (populär)philosophische Texte gehören, zum anderen in der Zielsetzung, die die Wechselwirkung zwischen der Durchsetzung der Schriftkultur und der Wandlung der "Vorstellung vom Menschen" (S.9) in seinen praktischen soziokulturellen Konsequenzen (Wandel des Affektsystems, der Selbstkonzepte, der Interaktionsformen) beschreiben will. Die Vernetzung dieser beiden zentralen Entwicklungen macht Koschorke auf der mediengeschichtlichen Seite an der Schrift und ihrer zeitgenössischen Theorie und Praxis, auf der anthropologischen an dem für die Aufklärung zentralen Begriff der Empfindsamkeit fest. Während der erste, große Teil der Untersuchung unter dem Paradigma der "Substitutionen" schwerpunktmäßig der Aufarbeitung anthropologischer Voraussetzungen gewidmet ist, folgt der zweite große Teil schrifttheoretischen Fragestellungen.

Den Anfang der Untersuchung markiert eine soziokulturelle Analyse der Wandlungsprozesse innerhalb der Gesellschaft des 18. Jahrhunderts. Als zentrale Entwicklung benennt Koschorke die "Veränderung der Zirkulationsweise sozialer Energien" (S.15). Koschorke beschreibt hier noch einmal bereits bekannte Sachverhalte der bürgerlich-aufklärerischen Kampagne gegen die adelige Gesellschaft, die über das Tugendpostulat die höfischen "Zirkulationsformen" der "Ethik des erotischen Tausches" (S.18) attackiert. Leidenschaft, Galanterie, Verstellung, Eifersucht, Intrige werden als Motoren höfischer Verkehrsformen der körperlichen Interaktion zitiert, denen von aufklärerisch-bürgerlicher Seite bekanntnermaßen mit dem neuen an die Institution Ehe gekoppelten Liebesbegriff gekontert wird.


Kulturanthropologie
des 18. Jahrhunderts

Im weiteren Verlauf der Untersuchung entwirft Koschorke eine Kulturanthropolgie des 18. Jahrhunderts, indem er – auf Norbert Elias' Zivilisations- 1 und Luhmanns Systemtheorie 2 rekurrierend – einen Entwicklungspozeß konstruiert, der

  1. im ersten Schritt als Geschichte der Ablösung des unmittelbaren Verkehrs zwischen den Körpern hin zur Abschließung der Körper gegeneinander (Elias),
  2. im zweiten als Konzeptualisierung des Körpers als abgeschlossenes, autoreferentielles System (Luhmann),
  3. im dritten Schritt als mediale Substitution des Körperverkehrs durch Schriftverkehr

gekennzeichnet wird.

Anschaulich und überzeugend kann Koschorke hier durch eine Fülle von akribisch aufgearbeitetem Material nachweisen, wie sich innerhalb der Medizingeschichte die traditionelle Säftelehre allmählich von der Vorstellung der notwendigen Abgabe von Körpersäften zwecks Überdruckabfuhr (Aderlaß) zur Lehre von der Rückführung und ungehinderten Zirkulation im geschlossenen System Körper ausdifferenziert, wie sich mechanistische Vorstellungen vom Körper zugunsten der selbstregulierenden Interdependenz aller Körperorgane wandeln und zuletzt das Nervensystem als immaterieller Steuerungsmechanismus entdeckt wird.


Substitutionen:
vom Körperfluß über den Tränenfluß zum Schriftfluß

Unter dem Paradigma der "Substitutionen" beschreibt Koschorke in den nächsten zwei großen Teilen der Untersuchung, wodurch und wie die Zirkulationen der Körper substituiert werden. Als erstes Substitut, das im Sinne einer Metonymie funktioniert (S.94), kann Koschorke nun plausibel den Tränenkult der Empfindsamkeit beschreiben. Nachdem die unteren Körpersäfte in ihrem regellosen Verströmen gebannt wurden, findet der Körper seine Entlastungsfunktion in den unendlich fließenden Tränenströmen. In den Tränen verströmt aber nicht mehr der Körper, sondern die Seele. Fließen aus dem Auge zunächst noch ungebremst tatsächlich Flüssigkeiten, so bedarf es in einer frühen Richtung der Psychologie derer nicht mehr. Im Mesmerismus fließen nun elektrische Ströme, die immaterielles Substrat sympathetischer, körperloser Zirkulationen sind. Das Begehren verlagert sein Ziel vom Körper zunächst ins Spirituelle, Sprachlose, um später in einem sprachlichen Imaginären zu enden. Ebenso wandelt sich das Bild des Menschen vom "humoralen Gefäßleib zum nervösen Organismus" (S.112).

An dieser Stelle nun kommt endlich die Schrift ins Spiel: In einem großen "Verbalisierungsschub" ersetzt die Schrift als neues Zirkulationsmittel den Körper. In der zweiten, "semantischen Verschiebung" wird der "erotische Originaltext allmählich unleserlich" (S.137) gemacht, die Abwesenheit der Körper und ihres Verkehrs zur Voraussetzung von Verbalisierungsdrang und Schriftverkehr. Empfindsamkeit, als Semantisierung der Affekte, setzt dort ein, wo sich die "symbolische Kastration und der symbolische Tod des Geschlechtlichen" (S.143) vollzogen hat. Abwesenheit wird in "Übergangsobjekten" fetischisiert, die als "Depots vergessener Erinnerungen" (S.140) funktionieren.

Zusammenfassend rekapituliert Koschorke, daß sich zwei Substitutionsstufen im 18. Jahrhundert ausmachen lassen. Die erste vollzieht sich in der Kultur der Tränen und ist zunächst nichts anderes als eine physiologische Verschiebung, während die zweite durch den Prozeß der Semantisierung markiert wird, in dem die Schrift zur "Erhöhung des Grades zeichenhafter Artikuliertheit" (S.157) beiträgt, der Interaktion durch Kommunikation ersetzt (S. 167) und den Prozeß der allgemeinen Literalisierung in Gang setzt, dessen Folgeerscheinungen Koschorke mit der Entstehung neuer "Göttergenerationen" benennt: dem männlichen Autor, neuer differenzierter, intensiver und elaborierter Affekte, "seelenhafter Gefühle" (S.163) und der Erfahrungswelt Schrift, die "Leserprogrammierung" durch das "Nachleben von Literatur" (S.163) betreibt. Zugespitzt formuliert, verläuft die Entwicklung nach Koschorke vom Körperfluß über den Tränenfluß zum Schriftfluß. Die Trockenlegung des Körpers impliziert eine Verflüssigung der Kommunikation im Schriftverkehr.


Veränderungen
durch die Zirkulationsform Schrift

Im Kapitel "Substitutionen 2" geht es Koschorke nun um die tiefgreifenden und umfassenden Veränderungen, die durch die Zirkulationsform Schrift und ihre Medien ausgelöst werden.

Zunächst beschreibt er hier den Prozeß der Individualisierung und Vereinzelung, der Voraussetzung sowohl für die Produktion von Schrift als auch für deren Rezeption ist. An der Aufwertung von Einsamkeit, die in der höfischen Gesellschaft als Form der Heimlichkeit oder Desintegration negativ konnotiert war, macht Koschorke deutlich, wie sich die bürgerliche Gesellschaft über die Schrift, das Lesen und Schreiben, als Gemeinschaft der Einsamen konstituiert. Die einzelnen verbindet nun der Schriftverkehr. Die Schrift bildet neue abstrakte "Formen der Kollektivierung" (S.187) heraus, die sympathetisch verbinden, ohne ein konkretes Begehren zu semantisieren. Dieser Abstraktionsprozeß, der Nähe in der Distanz suggeriert, bedarf in seiner Durchsetzungsphase der Unterstützung durch eine "Mythologie der Unmittelbarkeit" (S.195), die Mündlichkeit simuliert, Schreiben als Sprechen konstruiert.

Die bürgerliche Gemeinschaft als literale Gemeinschaft beruht auf der "symbolischen Inszenierung von Körperferne" (S.200), die Voraussetzung für die Entstehung von Innerlichkeit ist. Im Lesen wird nicht nur der Körper latent, sondern das erotische Begehren spiritualisiert und die Lust der Frau umcodiert, auf den Autor und seinen Text verschoben.

Unter dem Begriff der "Erstattungen" faßt Koschorke zusammen, welchen Gewinn die Verdrängung des Körpers durch die Schrift ermöglicht. Schrift leistet hier ein doppeltes: sie unterbricht die äußere Realität, um eine sekundäre aufzubauen. Damit ermöglicht sie die Überwindung von räumlich-zeitlicher Distanz. Schrift schafft höchste Nähe bei größter Ferne, steigert das Begehren und ermöglicht das fiktive Ausleben gesellschaftlicher Tabus. Schrift betreibt die Auferstehung des Geistes, Schreiben wird zum "organlose[n] Akt" (S.223). Schrift leistet so zweierlei, die Trennung der Körper durch die Produktion von Innerlichkeit und die Zudeckung, d.h. das Vergessen-Machen jenes Substitutions- oder Medialisierungsprozesses durch die Ausbildung von Ursprünglichkeits-, Natürlichkeits- und Wahrheitsmythen um die Schrift.

Das Kapitel IV "Imaginationen" entfaltet eine "Theorie der Abwesenheit", in der die Beschreibung der Subjektbildung (nach Foucaultschem Muster) mit dem Medium Schrift, insbesondere der neuen Briefkultur enggeführt wird. Das isolierte Individuum ist "nur noch auf dem Umweg über die Medien ansprechbar" (S.265). Um so höher sind aber die Ansprüche an das Medium: "Mit dem Grad der sozialen Dekontextualisierung wachsen die Anforderungen an eine von den Werken selbst ausgelegte Kontextsicherheit." (S.298) Folgerichtig führt der Weg der Studie hier also in die zeitgenössischen Texte herein. Die post-rhetorischen Poetiken des 18. Jahrhunderts werden gelesen als "Selbstbeschreibungen des damaligen Kommunikationssystems": die "Poetologie der Einbildungskraft", die Ästhetik der Illusionierung als auktoriales Vermögen usw. Es wird gezeigt, wie, über den Umweg der medialen Distanzierung und ihrer konsequenten Umsetzung in den Texten, "sich das Schreiben als spontaner Akt alle Ressourcen der Authentizität zueignet." (S.309)


Geburt der Hermeneutik
aus dem Geiste des Schriftmediums

Es folgt als Exkurs eine Auseinandersetzung mit der Schriftkritik der Dekonstruktion anhand von Derridas Platon-Kritik (vgl. den zweiten Teil der Rezension). Im VI. Kapitel (Seeleneinschreibungen 2) geht es um die methodische Komplizierung, die durch Naturalisierung des als Medieneffekt entstandenen >Individuums< entsteht. In dem Maße, wie Ähnlichkeit und Repräsentation als Zeichengaranten durch den "Prozeß der allgemeinen Arbitrarisierung" (S.376) abgelöst werden, wird die "psychologische Verfaßtheit des Sprechers" (S.378) zum Gegenstand der Lektüre. Mit dem Autor als Blackbox "entfaltet sich Sprache zu einem schwierigen Objekt des Verstehens." (S.380) Zur Debatte steht also die Geburt der Hermeneutik aus dem Geiste des Schriftmediums.

Kapitel VII stellt dem das neue Erfordernis einer "Diätetik des Zeichenkonsums" an die Seite: Pädagogische Lesebeschränkung und Kanonisierung werden als Strategien gedeutet, die die neue Schriftkultur sowohl beherrschbar machen als auch - in Teilen (Klassiker!) - endgültig naturalisieren. Auch das Schlußkapitel, "Medien", beschäftigt sich noch einmal mit der Renaturalisierung des Künstlichen (Englischer Garten, Rousseau). Um danach eine Einbettung der bisheringen Befunde in ein systemtheoretisches Modell zu unternehmen (vgl. dazu ausführlich den zweiten Teil).

Sibylle Schönborn, Moritz Baßler


II.
Anmerkungen zum Inhalt der Untersuchung

Bei der Komplexität des Argumentationsgangs und der Fülle des neu aufgearbeiteten Materials, 3 durch das Koschorke seine Thesen eindrucksvoll evident machen kann, bleiben notwendigerweise ebenso einzelne Lücken, die zu schließen Aufgabe der Fortsetzung einer Forschung auf Grundlage dieser Mediologie wäre, wie einige Fehleinschätzungen, deren Korrektur aber nicht die Gültigkeit der Substitutionstheorie selbst tangiert. So bleibt z.B. ein Desiderat für weitere Forschungen, ebenso substantiell wie Koschorkes Geschichte der Körperkonzepte eine der Medienentwicklung korrespondierende Geschichte der Seelenkonzepte von der frühen Pneuma-Lehre bis zu Bewußtseins- und Psychemodellen in Angriff zu nehmen.


Ehe- und Liebeskonzeption

Koschorkes knappe Zusammenfassung der in der Tat entscheidenden Wandlungen in der Ehe- bzw. Liebeskonzeption des Bürgertums, wäre zu modifizieren. In Bezug auf den Liebesbegriff muß eingewandt werden, daß, wie Luhmann 4 bereits beschrieben hat, die Entwicklung von dem "amour passion zur romantischen Liebe" 5 verläuft und der hier untersuchte Befund, der an die Ehe gekoppelten vernünftigen Liebe, einzig ein äußerst kurzes Übergangsstadium markiert, zumindestens was die Literatur betrifft. Mit Richardson, Gellert, La Roche fallen Entstehung und Höhepunkt zusammen, bereits Rousseaus Julie, Goethes Werther und stärker noch das Personal der Wahlverwandtschaften kann diese Allianz zwischen Ehe und Liebe nicht mehr tragen.

Auch ist zu bezweifeln, ob bei den fraglichen Autoren (Richardson, Gellert) bereits ein individueller Liebesbegriff vorliegt, oder ob es sich nicht vielmehr um ein theoretisches Konstrukt von der vernünftigen Liebe als Freundschaft in der Ehe handelt, bei dem es nicht auf Individualität, sondern auf Tugendhaftigkeit als Wahlkriterium ankommt. Auf keinen Fall aber beinhaltet der empfindsame Liebesbegriff ein Ausschließlichkeits- oder Einmaligkeitspostulat. Schließlich heiratet die Schwedische Gräfin bei Gellert ein zweites Mal (bürgerlich!) und kann sogar diesen Konflikt gleichzeitiger doppelter Liebe und Ehe vernünftig lösen. Für alle darauffolgende Literatur beinhaltet diese Konstellation eine unlösbare Paradoxie.

Außerdem ist auf die erhebliche Verzögerung innerhalb der Wechselwirkung zwischen Schrift und Sozialsystem in Bezug auf die Forderung der freien Gattenwahl hinzuweisen. Bis über die Jahrhundertgrenze hinaus und länger – Koschorke nennt die Französische Revolution – muß davon ausgegangen werden, daß das Prinzip der freien Gattenwahl aus Gründen der Ökonomie und des ständischen Abschlusses sich nur zögerlich durchsetzen konnte (siehe das prominente Beispiel Goethe).


Körper als Maschine

Auch wäre anzumerken, daß Koschorkes kenntnisreiche Aufarbeitung der physiologischen und medizingeschichtlichen Konzeptionen des menschlichen Körpers und seiner Funktionsweise sich ausschließlich auf die Säftelehre konzentriert, die sich vor allen anderen Theorien dadurch auszeichnet, daß sie seine Substitutionstheorie der metonymischen Ersetzung vom Tränen- zum Schriftfluß evident machen kann. Der zeitgleich diskutierte und konkurrierende Traditionsstrang der Vorstellung vom Körper als einer Maschine, der ebenfalls seinen Ursprung in der Antike hat, wird in Koschorkes Überlegungen ausgespart bzw. nur einmal kurz erwähnt, obwohl er, wie am Beispiel von La Mettries "L'homme machine" 6 zu zeigen wäre, mindestens ebenso deutliche Züge zur systemischen Konzeption eines abgeschlossenen, autonomen Funktionsgefüges Körper wie die Säftelehre aufweist und vor allen Dingen eine frühe Seelenlehre auf der Basis psychologischer Befunde von der Abhängigkeit zwischen Körper und Seele, physischer und psychischer Prozesse enthält.


Hysterie und sexuelle Ätiologie

Widersprüchlich erscheinen zuletzt Koschorkes Ausführungen zur Geschichte der Hysterie / Hypochondrie, die er am Ende der Untersuchung als "Ersatzhandlung", die an die Substitutionsgeschichte erinnere, beschreibt. Nicht erst mit der Entstehung der Psychoanalyse wird der "hysterischen Symptomatik eine unbewußte sexuelle Ätiologie unterlegt" (S.463), wie Koschorke dort behauptet, sondern bereits in der Antike (Hippokrates, Galen von Pergamon), dem Mittelalter ("Hexenhammer") und auch im 18. Jahrhundert. Wie Christina von Braun in ihrer grundlegenden Studie zur Geschichte der Hysterie 7 nachgewiesen hat, vollzieht sich hier eben jener Prozeß der Verlagerung von unten nach oben, vom Körper auf den Geist als Folgeerscheinung der Durchsetzung der Schriftkultur. Unverständlich bleibt hier, warum Koschorke diese wichtigen Ergebnisse aus der Untersuchung von Brauns ignoriert. Auch sei darauf verwiesen, daß bereits im frühen 18. Jahrhundert in Wolffs "Psychologia empirica" 8 zwar nicht der psychoanalytische Begriff des Unbewußten, aber dennoch die deutliche Vorstellung von der Spaltung der Seele in zwei Teile, einen zugänglichen und einen verborgenen dunklen vorhanden ist. Der Hypochonder / Melancholiker ist nämlich nicht ausschließlich, wie Koschorke behauptet, derjenige, der "immer nur das Gleiche vorstellt" (S.405), sondern derjenige, dessen Einbildungskraft generell außer Kontrolle gerät.

Es wäre zu fragen, ob nicht Symptome wie die gesteigerte Reizbarkeit der Sinne, die spätere Nervosität, und die gesteigerte Einbildungskraft des Hypochonders / Melancholikers bei gleichzeitigem Auftreten körperlicher Symptomatik (Stockung des ungehinderten Flusses der Körpersäfte, dickes Blut, schwarze Galle, Verstopfung) bereits als Wissen um den Preis jenes durch die Schrift initiierten Substitutionsprozesses, als frühe Psychosomatik verstanden werden muß, bei der durchaus eine sexuelle Ätiologie mitgedacht ist. Da die Hypochondrie faßt ausschließlich eine Krankheit der >litterati<, der Gelehrten und Autoren ist, verweist sie auf das in die Schrift verschobene Begehren und das hinter seinem Imaginärwerden verborgene Körperschicksal. Das Beispiel des empfindsamen Aufklärungsprotagonisten C. F. Gellert belegt durch das schriftliche Dokument seiner Tagebuchführung und in letzter Instanz durch seinen Tod (Darmverschluß) gerade die gewaltvolle Seite dieses Prozesses der Medialisierung und benennt den Preis für die Körper-Geist-Metonymie.


Krankheit als Ausgrenzung

Diese verkürzende Perspektive aus dem letzten Teil der Untersuchung bleibt umso unverständlicher, als Koschorke ja in dem früheren Kapitel "Der Umbau des Menschen" (S.112 ff.) äußerst differenziert die medizingeschichtliche Entwicklung "vom humoralen Gefäßleib zum nervösen Organismus" (S.112) beschrieben hatte. Als Ergebnis formuliert er hier, daß "man mit gleichem Recht vom Auseinanderreißen des Menschen wie von der Wiederherstellung seiner Ganzheit vom neuen Zentrum der Empfindung her sprechen" (S.128) kann.

So richtig diese abschließende Bemerkung ist, so fraglich bleibt seine Deutung des sozialen Phänomens >Krankheit< an dieser Stelle. Denn Koschorke versucht, sich jeder Wertung zu enthalten, wenn er Krankheit als "Zurückbleiben hinter dem Zivilisationsprozeß" definiert: "Wer krank ist, wird auf vergessene und in die Vergangenheit abgedrängte Schichten seines Leibes gestoßen". (S.129) Unter dieser Prämisse wäre dann zu fragen, ob nicht Krankheit zu einer Kategorie der Ausgrenzung wird, die diejenigen aus dem System ausscheidet, die an einen historischen Verlust, einen Mangel oder aber an den Preis und die Aporien dieses Zivilisationspozesses erinnern. Daß die Zahl derer mindestens ebenso groß ist wie die der Systemagenten, blendet die Studie aus.


III.
Genieästhetik und Autonomie der Kunst

Koschorke arbeitet den komplexen Zusammenhang von Autonomie der Kunst und Genieästhetik unter dem Aspekt der Selbstkritik des Mediums Schrift auf: Der Impuls der Sturm-und-Drang-Generation richte sich so gegen den "sinnenfeindlichen Rationalismus" der Aufklärung als Erinnerung an den "Geschlechtsverlust durch Verschriftlichung", (S.246) gegen den toten Buchstaben, die "tote, entschlafne Letternseele" (S.414) und den "Buchstabenmenschen" (S.415), um dagegen den auf der Autonomieästhetik gegründeten "voraussetzungslosen Schöpfungsakt des Originalgenies" (S.425) zu progagieren.

Zunächst ist zu bemerken, daß Koschorke eine wesentliche Konnotation der Originalität hier ausläßt, obwohl er bereits an anderer Stelle auf ihren Begründungszusammenhang eingegangen ist, nämlich die unverwechselbare Individualität des Genies, wie sie Lavater u.a. in seiner Physiognomie beschrieben hat. An dieser Stelle vermißt der Leser eine Klammer zwischen dem früheren Physiognomie-Exkurs Koschorkes zu Lavaters Goethe-Physiognomie 9 als Definition des Genies. Hier hätte ganz im Sinne von Koschorkes Argumentationsgang, der Rückgriff auf das Körperbild und die visuelle Wahrnehmung (allerdings nicht mehr auf den abstrakten, typisierenden Schattenriß) als Renaturierung und Verkörperung der körperlosen Schrift beschrieben werden können. In der Physiognomie des Genies wird der Abstraktionsprozeß der Literalisierung renaturiert und gewinnt ein sinnlich wahrnehmbares Körperbild.

Koschorke deutet die Genieästhetik mediologisch als eine "Kultur des Vergessens" (S.427), deren Voraussetzung die Verfügbarkeit über ein nahezu unendliches schriftliches Archiv ist und die die "intertextuellen Bezüge" jeder Literatur in ein literales Unbewußtes absinken lasse, um an dessen Stelle Ursprünglichkeit und Natürlichkeit zu setzen. Diese gipfele im "Vergessen der Tatsache, daß die Kunst künstlich ist" (S.430). Seit der "Goethezeit" sei das Medium die Natur. Richtig ist Koschorkes theoretische Grundlegung durch die Gedächtnisforschung, die literale Kulturen über die Kulturtechnik des Vergessens beschreiben. Richtig ist auch die These von der unausweichlichen Intertextualität von Schriftkultur und vom Wandel des Status' von Intertextualität innerhalb der Schriftkultur.

Problematisch innerhalb Koschorkes Argumentation erscheint aber, daß er seine Ausführungen zur Autonomieästhetik und zum Geniebegriff an keiner Stelle auf literarische oder kunsttheoretische Quellen bezieht oder durch sie begründet.


Goethe als Beispiel

Das Beispiel Goethes zeigt, wenn Koschorke sich denn auf ihn beziehen will, daß sein Verhältnis zur intertextuellen Prägung seines Schreibens äußerst differenziert, komplex und kritisch war. Wenn Koschorke an anderer Stelle auf Goethes "Italienische Reise" rekurriert und ihr die Intention der unmittelbaren Anschauung unter Ausschluß der autoritativ verfaßten Schrifttradition unterstellt, so ist dies einerseits richtig und weist zurecht auf den von Goethe initiierten Paradigmenwechsel in der Aneignung der Schrifttradition vom kommentierenden Nachschreiben der Autoritäten zum produktiven Neuschreiben hin. Andererseits aber richtet sich Goethes Reiseprojekt zwar unter bewußter Umgehung aller vorherigen schriftlichen Vermittler auf die Unmittelbarkeit individueller Anschauung, ihr Gegenstand bleibt aber die durch Schrifttradition begründete abendländische Kultur, die Antike, und nicht die Natur als Oppositionspartner der Kultur.

Selbst dort, wo Goethe scheinbar "unkultivierte", "ursprüngliche" Natur wahrnimmt, tut er dies über ihre mediale Vermittlung durch die Kunst. Im "Tagebuch der Italienischen Reise" für Charlotte von Stein berichtet er z. B. über die Fahrt in der Postkutsche "den reißenden Etsch Fluß hinunter": "Der Mond ging auf und beleuchtete ungeheure Gegenstände. Einige Mühlen über dem reißendem Strom waren völlige Everdingen. Wenn ich dir sie nur vor die Augen hätte stellen können." 10 Goethe macht in der Italienischen Reise eben auch deutlich, daß es keine Unmittelbarkeit der Wahrnehmung vor jeder medialen Vermittlung um 1800 mehr geben kann.

Als zweites Beispiel sei der "Werther" erwähnt, den Koschorke hier vermittelt ins Spiel bringt. Schwierigkeiten bereitet hier Koschorkes Versuch, die bekannte Kritik an den Folgen der Lesesucht, die zu einer Verwechslung von Fiktion und Realität z.B. im Werther-Fieber führte, und den Genie-Begriff aneinander zu koppeln. Böttigers Lesesucht-Kritik folgend, definiert er hier das Genie als "Aktivist unter den lesesüchtigen Adoleszenten" (S.424).

Genau dies zeigt auch der "Werther". Denn Werther ist ja nichts anderes als jener "falsche" Leser und Schreiber, der Literatur und Realität verwechselnd, sein Leben literarisch mit tödlichem Ausgang verfehlt. Damit zeigt sich Goethe bereits hier als Beobachter der Konsequenzen der Ersetzung von Natur durch Kunst, also eines Lebens im Intertext, wie als Kritiker an fehllaufenden Lektüre- und Schreibprozessen. In diesem Sinne als kritischem Nachweis eines immer nur symbolisch vermittelten Zugangs zur Realität kann man bei Goethe davon sprechen, daß das "Medium die Natur" ist, nicht aber im Sinne der bewußten Ersetzung, wie im Falle von "Julies Garten". Dagegen muß bei Goethe von einer expandierenden intertextuellen Fundierung eigener Produktion, die schließlich auch über die Grenzen abendländischer Schrifttraditionen hinausweist ("West-östlicher Divan") und von einem gerade dem von Koschorke unterlegten Genieverständnis diametral entgegensetzten expliziten Kunstverständis von Literatur als autonomen System ausgegangen werden.

Problematisch erweist sich hier, daß Koschorke unausgesprochen dem Naturbegriff den Status einer Metonymie oder eines Substituts verleiht: Kunst wird zur Natur. Bei Goethe hat der Naturbegriff aber nicht den Status der Metonymie sondern den der Metapher. In Goethes Kunsttheorie funktioniert Kunst wie Natur und ist keineswegs Natur selber. Goethe geht es noch einmal um Ähnlichkeit, also um die Mimesis der Natur, nicht um die Ersetzung der Natur durch Kunst. So fordert er von der Kunst, daß sie "sich an die Natur halten, sie studiren, sie nachbilden, etwas, das ihren Erscheinungen ähnlich ist, hervorbringen solle". 11 Zurecht betont auch Naumann-Beyer Goethes Bewußtsein der Differenz von Kunst und Natur: "Doch gerade das ästhetische Autonomiegebot, das für Goethe die Naturähnlichkeit der Kunst verbürgte, ließ ihn die Alterität der Kunst betonen und verbieten, daß sie sich der Natur assimiliere." 12 Die richtigen Beobachtungen zur Ersetzung der Natur durch Kunst, die Koschorke am Fall von "Julies Garten" formuliert, sind eben nicht einfach auf die spätere Autonomieästhetik applizierbar.

An dieser Stelle zeigen sich deutlich die Probleme von Koschorkes Untersuchung, literarische und theoretische Texte vom 17. bis zum frühen 19. Jahrhundert unter Vernachlässigung ihrer literarhistorischen Position von Ninon de Lenclos bis zu Schlegel und Schleiermacher als gleichwertige Zeugen seiner Mediologie zu zitieren. Was für Rousseau im Kontext von Koschorkes zentralem Untersuchungsgegenstand der Empfindsamkeit zutrifft, läßt sich eben nicht mehr auf Goethes Kunsttheorie beziehen.


IV. Mediologie

Koschorke gibt seiner Habilitationsschrift den Untertitel "Mediologie des 18. Jahrhunderts". Medientheorie, Mediengeschichte, ebenso wie Schrifttheorie, Mündlichkeits- / Schriftlichkeits- und Gedächtnisforschung, wie auch immer sie theoretisch und praktisch ausgerichtet ihren Gegenstandsbereich bestimmen mögen, gehören zum vertrauten Bestand wissenschaftlicher Forschungs- und Lehrgebiete des digitalen Zeitalters. Sie alle – und allen voran die Gedächtnisforschung – haben einen Paradigmenwechsel innerhalb der traditionellen Geistes- und Sozialwissenschaften oder, wenn man so will, der modernen Kulturwissenschaften herbeigeführt. Mag man berechtigterweise Koschorkes Faible für Neologismen – Alphabetisation statt Alphabetisierung – als konsequenzlosen Individualismus noch en passant registrieren, so verspricht der Begriff Mediologie mehr. Mediologie als Analogiebildung zu Anthropologie, Archäologie, Ethnologie, Philologie, Psychologie u.v.a. legt die Vermutung nahe, daß wir es hier mit einer neuen Wissenschaft zu tun haben. Eine solche aber müßte sich durch einen eigenen Gegenstandsbereich, eigene methodische Verfahren und eigene Begriffsbildungen legitimieren. Geht es also in Koschorkes Untersuchung um den schriftlichen Geburtsakt einer neuen Wissenschaft?

Sucht man nach einer Definition von Mediologie in Koschorkes Schrift, so findet man sie in Abgrenzung gegenüber Derridas Dekonstruktion in der zweiten Hälfte der Untersuchung:

Man könnte einen Ansatz, der das Feld von Schriftlichkeit / Zeichentod / Vergessen / Unbewußtsein / Imagination / Wiederkehr im Zusammenwirken aller seiner Komponenten beschreibt, als mediologisch bezeichnen. [...] Medien sind semiotische Systeme. Wenn man auch die durch sie bewerkstelligte kulturelle Semiose verdächtigen mag, man kann nicht die Augen davor verschließen, daß sie auf ihre Weise effizient sind. Wie alle rekursiv organisierten Systeme machen sie die Spur ihrer Entstehung, ihrer Historizität unsichtbar. Dieser blinde Fleck wird >Ursprung< oder >Unmittelbarkeit< genannt und semantisch als >Sinn< avisiert. Eine Theorie der medialen Produktion kann nicht dabei stehenbleiben, Signifikanten als Signifikanten zu decouvrieren. Im Zeitalter medialer Megamaschinen kommt alles darauf an, die Herstellung von Ursprünglichkeit durch Substitution, von Unmittelbarkeit durch Vermittlung als wirklichkeitsmächtigen Prozeß zu beschreiben. (S.345f )


Schriftanthropologie

Hinter dem Begriff der Mediologie verbirgt sich also eine Theorie medialer Substitutionsprozesse, die über die Behauptung von Ursprünglichkeit und Unmittelbarkeit allgemein verbindliche sekundäre Wirklichkeiten als natürliche erschaffen. Koschorke geht es in seiner Untersuchung um eine neue Theorie der Schrift, die als Medium "kultureller Semiose" lebenspraktisch wird, indem sie Wirklichkeiten konstruiert und Sinnproduktionen generiert, nach denen sich zwischenmenschliche Verkehrsformen regeln. Einfach ausgedrückt, zielt Koschorkes Untersuchung auf die Analyse anthropologischer Wandlungsprozesse, den habituellen, psychologischen und mentalen Umbau des ganzen Menschen durch die Schrift. So wäre Koschorkes vieldeutiger und mißverständlicher Mediologie-Begriff vielleicht am ehesten zu übersetzen in den Begriff einer Schriftanthropologie.

Mißverständlich ist der Begriff der Mediologie vor allem auch deshalb, weil er über Koschorkes Definition und Gebrauch des Medienbegriffs im Unklaren läßt. Unter Medien versteht Koschorke kulturelle Semiosesysteme, konkret für seine Untersuchung das abstrakte Zeichensystem der Alphabetschrift. Unter systemtheoretischer Prämisse sind Medien "Agenten der Selbstnaturalisation der Kultur", die "Präsenz, Fülle, Identität und Unmittelbarkeit" (S.451) innerhalb der eigenen Systemgrenzen konstruieren, die nicht mehr hintergehbar sind und ihren Ursprung verschleiern, so daß das "Außen" des Systems unerreichbar wird und in den kulturellen Semantisierungen nur noch verfehlt werden kann.


Materialität der Schrift

Damit grenzt er einen Medienbegriff aus seiner Untersuchung aus, der sich auf die Materialität des Symbolisierungssystems – hier die Schrift – bezieht. Bei Koschorke geht es um reine Schrifttheorie und nicht um die materiellen, medialen Erscheinungsformen der Schrift.

Wer in Koschorke Untersuchung zum Schriftverkehr im 18. Jahrhundert etwas zur Geschichte und Entwicklung des Buchs als Medium sucht, wird enttäuscht. Die Entwicklung des Buchs, mit allen angeschlossenen einzelnen Faktoren und Funktionen (Druckgeschichte, Verlagswesen, Verleger, Buchmarkt, Vertriebsformen, Autoren, Rechtsformen) bleibt in dieser Untersuchung ebenso unberücksichtigt, wie die Abhängigkeit der Bedeutung und Funktion der Schrift von ihren materiellen Erscheinungsformen. Daß die Schrift jene von Koschorke beschriebene Funktion kultureller Semioseproduktion übernehmen konnte, verdankt sie der Entwicklung und der Monopolstellung des Buchmediums im 18. Jahrhundert. Zumindest in den letzten Kapiteln der Untersuchung, die einen Ausblick in die Gegenwart wagen, ist die Rolle und Funktion der Schrift nicht ohne ihre Wandlung durch die Auseinandersetzung mit konkurrierenden Medien bzw. über ihre Integration in sie beschreibbar.

Trotz des Umfangs, der Komplexität und großen Reichweite der vorgetragenen Schrifttheorie, wäre hier zu fragen, ob eine solche Reduktion um die materielle Seite von Schriftkultur nicht auch für das 18. Jahrhundert wesentliche, die eigene Argumentation stützende und ergänzende Befunde ignoriert. So ist z.B. nur zum Komplex der "simulierten Mündlichkeit" (S.190) wie dem der Autorschaft und seiner Selbstbeschreibung als Genie der Verweis nicht unwesentlich, daß Goethes "Werther" 1774, wie allgemein üblich für den Roman der Zeit, noch anonym erscheint, "Wilhelm Meisters Lehrjahre" 1795 Goethe als Herausgeber und erst die "Wahlverwandtschaften" 1809 nach der Titelangabe die Gattung und den Autor benennen.


V. Fazit:
kulturanthropologische Grundlagenforschung

Was Koschorke mit seiner Untersuchung aber leistet, kann zum einen als Beitrag zur kulturanthropologischen Grundlagenforschung für das 18. Jahrundert nicht hoch genug angesetzt werden, so daß der Untersuchung Modellcharakter für die sich neu formierende Kulturwissenschaft zugesprochen werden kann.

Koschorke gelingt mit seiner Untersuchung der Nachweis, daß eine Kulturwissenschaft, die sich als "interpretatives, bedeutungsgenerierendes Verfahren [versteht], das sozial signifikante Wahrnehmungs-, Symbolisierungs- und Kognitionsstile in ihrer lebensweltlichen Wirksamkeit analysiert", 13 nicht ohne die Analyse kultureller Semiosesysteme, sprich eine Medienanalyse, auskommen kann. Koschorke führt mit seiner Untersuchung exemplarisch vor, wie Untersuchungskategorien aus Einzelwissenschaften unter der Perspektive der Bedeutung der Schrift und des Schriftgebrauchs innerhalb eines zentralen Entwicklungsabschnittes einer Kultur zusammengeführt werden können, um erstmals scheinbar getrennte kulturelle Prozesse in ihrer Interdependenz deutlich zu machen.

Wenn die Untersuchung zunächst streckenweise den Anschein einer Zusammenschau neuerer verstreuter Forschungsbeiträge zur Körperlichkeit (und Schrift), zur Geschichte der Sinne, zu sozialen Verkehrsformen u.v.m. macht, so geht sie deshalb weit über diese Einzelergebnisse hinaus, weil es ihr gelingt, nicht nur durch die Analyse einer Fülle bisher unbeachteten Materials bereits bekannte Theoreme zu stützen, sondern erst durch ihre Verknüpfung untereinander über eine Theorie der Schrift als Paradigma der Medialisierung von Verkehrsformen die Bedeutung dieser Einzelentwicklungen im kulturellen System transparent zu machen.

Auf zwei Ebenen vollzieht Koschorke die Zivilisationsgeschichte so nach:

Auf der Ebene der sozialen Verkehrsformen beschreibt er entlang des Empfindsamkeitsbegriffs die Trennung der Körper als psychosozialen Prozeß, der über die Substitutionen des Weinens in der Produktion der "modernen Affektsemantik" (S.465) durch die Schrift verläuft. Auf der Ebene der Schrift stellt sich dieser Prozeß als Ablösung des Zeichens von seinem Signifikat (Mimesis) durch seine Autonomisierung (Arbitrarität, Repräsentation, Simulation) dar, wodurch die Medien zu "transzendentalen Instanzen" (S.464) werden, "die alle transgressiven Impulse, die auf das jenseits der Systemgrenze verortete Leben zielen, in die Selbstproduktion des Mediums" zurücklenken (S.465). Auf diese Weise drängen die Medien zu immer höheren und perfekteren Simulationsformen der verlorenen Natur.

Wenn Koschorke in seiner Gegenwartsbeschreibung von einem Prozeß immer weiterer Verschiebungen ins Fiktive spricht, bis sogar die Erinnerung an den Verlust zur Fiktion wird, (S.465) dann bleibt unklar, welche Rolle die Schrift in diesem Prozeß zu einem Zeitpunkt spielen wird, da längst andere Medien mit ihr um die perfektesten Formen der Simulation erfolgreich konkurrieren. Zu fragen wäre hier, ob der Bedeutung der Schrift nicht noch einmal eine entscheidende Wandlung in einer Situation bevorsteht, wo sich gerade der von Koschorke beschriebene Prozeß der Ausbildung eines Ursprungsmythos' von der voraussetzungslosen Natur am Beispiel der digitalen Medien wiederholt, deren verändernde Wirkung auf gesellschaftliche Semioseprozesse wir in ihren vollen Konsequenzen noch gar nicht überschauen.

Mit Koschorke gesprochen: "Wie dem auch sei" – die evolutionäre Bedeutung der Schrift für unsere Kultur ist mit seiner Untersuchung um ein Wesentliches weiter aufgeklärt worden.

Sibylle Schönborn

Zum zweiten Teil der Doppelrezension.


Dr. Moritz Baßler
Universität Rostock
Institut für Germanistik
August-Bebel-Str. 28
D-18055 Rostock

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PD Dr. Sibylle Schönborn
Germanistik II
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Universitätsstr. 1
D-40225 Düsseldorf

Ins Netz gestellt am 28.12.2000

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Anmerkungen

1 Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. 2 Bde. Frankfurt 1978.    zurück

2 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2 Bde. Frankfurt 1997.   zurück

3 Ein Namen- und Sachregister würde dem Leser die Arbeit mit dieser großen Studie wesentlich erleichtern.   zurück

4 Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt 1982. S. 102-106.   zurück

5 Ebd. S. 106.   zurück

6 Julien Offray de la Mettrie: L'Homme machine. Leyde 1748. Ein erster Versuch diesen wichtigen Autor neu zu entdecken, findet sich bei Ursula Pia Jauch: Jenseits der Maschine. Philosophie, Ironie und Ästhetik bei Julien Offray de La Mettrie (1709-1751). München 1998.    zurück

7 Christina von Braun: Nicht Ich. Logik, Lüge, Libido. Frankfurt 1994.   zurück

8 Christian Wolff: Psychologia empirica. In: Jean Ecole u.a. (Hg.): Gesammelte Werke. II. Abt. Bd. V. Nachdruck der Ausgabe 1738. Hildesheim 1968.   zurück

9 Johann Caspar Lavater: Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe. Hg. von Christoph Siegrist. Stuttgart 1984. S. 242: "Man bemerke vorzüglich die Lage und Form dieser - nun gewiß - gedächtnißreichen, gedankenreichen - warmen Stirne - bemerke das mit Einem fortgehenden Schnellblicke durchdringende, verliebte - sanft geschweifte, nicht sehr tiefliegende, helle, leicht bewegliche Auge - die so sanft sich drüber hinschleichende Augenbraune - diese an sich allein so dichterische Nase - diesen so eigentlich poetischen Uebergang zum lippichten - von schneller Empfindung gleichsam sanft zitternden, und das schwebende Zittern zurückhaltenden Munde - dieß männliche Kinn - dieß offne, markige Ohr - Wer ist - der absprechen könne diesem Gesichte - Genie".    zurück

10 Johann Wolfgang Goethe: Tagebuch der Italienischen Reise 1786. Hg. u. erl. von Christoph Michel. Frankfurt 1976. S. 36    zurück

11 Goethes Werke. Hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen.. Weimar 1887-1919. Bd. I, 47, S, 11.   zurück

12 Waltraud Naumann-Beyer: Ästhetik. In: Goethe Handbuch. Bd. 4/1. Personen Sachen, Begriffe. Hg. von Hans-Dietrich Dahnke und Regine Otto. Stuttgart, Weimar 1998. S. 10.   zurück

13 Hartmut Böhme, Klaus Scherpe: Zur Einführung. In: Diess. (Hg.): Literatur und Kulturwissenschaften. Positionen, Theorien, Modelle. Reinbek 1996. S. 16.   zurück