Schröder über Löffler: Zurechtgerückt

Hans Joachim Schröder

Zur Performanz autobiographischen Erzählens


Klara Löffler: Zurechtgerückt. Der Zweite Weltkrieg als biographischer Stoff. Berlin: Reimer 1999. 422 S. Geb. DM 68.- ISBN: 3-496-02665-0



Bei der von Klara Löffler als Dissertation vorgelegten Studie Zurechtgerückt handelt es sich um eine dezidiert volkskundliche Untersuchung zu einem Thema, das mittlerweile in der Volkskunde, Geschichtsforschung, Soziologie und Literaturwissenschaft einen eigenen interdisziplinären Schwerpunkt bildet. In einem weitgefaßten Rahmen geht es um die Analyse und Dokumentation autobiographischer Erfahrungen von Frauen und Männern, die über die Zeit etwa zwischen 1930 und 1950 berichten; 1 im engeren Sinn findet eine Ausrichtung auf die Erfahrung von ehemaligen Soldaten unterer Dienstgrade statt, die den Zweiten Weltkrieg miterlebt haben. 2 Innerhalb dieser Ausrichtung kommt es zu einer zusätzlichen Fokussierung, indem eine besondere Quellengattung, die der mündlichen Erzählung im Interview, in den Mittelpunkt gerückt wird. Während in Zurechtgerückt solche qualitativen, d.h. &"weich" und "offen" geführten Interviews zur Quellengrundlage gemacht werden, hatte Klara Löffler in ihrer 1992 veröffentlichten Magisterarbeit mit dem Titel Aufgehoben Soldatenbriefe aus dem Zweiten Weltkrieg als Materialbasis verwendet. 3

Aus sozialhistorischer Sicht ist Zurechtgerückt eine interessante Studie, weil es der Autorin bei der Auseinandersetzung mit einem Erfahrungsstoff, dem bisher in der Forschung eine eminent (sozial-)geschichtliche Bedeutung beigemessen worden ist, erklärtermaßen nicht um eine primär historische Analyse geht. Bewußt stellt Löffler sich gegen ein Forschungsparadigma, das in der Beschäftigung mit lebensgeschichtlichen Interviews zum Zweiten Weltkrieg vorrangig historische Aufschlüsse sucht. Die Autorin will, wie sie erklärt, einen "Kontrapunkt gegenüber bisherigen methodischen und methodologischen Modelle[n]" setzen (S. 356); bei aller Vorsicht in ihrer Kritik an historischen Betrachtungsweisen setzt sie ihren Kontrapunkt mit großer Entschiedenheit. Ein eher sozialgeschichtlich orientierter Leser sieht sich herausgefordert zu prüfen, welche Ergebnisse eine mit modernen kulturwissenschaftlichen Methoden arbeitende Untersuchung zutage fördert.

Löfflers Studie besteht zu einem guten Viertel aus einem vorwiegend theoretischen Teil mit Erklärungen zum Forschungsstand und zu den selbstgewählten Methoden, zu drei Vierteln aus der Beschreibung und Auswertung eines zwischen 1989 und 1991 in Regensburg durchgeführten Interviewprojekts zur Erhebung der Lebensgeschichten von sechzehn ehemaligen Soldaten der deutschen "Wehrmacht".

In einem Anhang werden zum einen die Interviewten in Kurzbiographien – "Biogramme" genannt – auf übersichtliche, summarische Weise charakterisiert, zum anderen werden in einem Abschnitt mit dem Titel "Stenogramme zur Befragungssituation" die näheren Umstände gekennzeichnet, die für das Zustandekommen der einzelnen Interviews wichtig waren. Eine Auflistung der in den Interviewtranskriptionen verwendeten Zeichen sowie ein umfangreiches – durch die häufige Benutzung von "Ders." oder "Dies." leider unübersichtliches – Literaturverzeichnis beschließen den Band.


Forschungssituation

Im Überblick zum Forschungsstand findet die volkskundliche Erzählforschung zu den Themen "Soldaten", "Militär" und "Krieg" besondere Beachtung. Die Erläuterungen zur frühen "Militär-Volkskunde" fallen bei Löffler moderater aus als bei Ludger Tekampe (vgl. Anm. 2), der sich 1989 ein erstes Mal betont kritisch mit dem schmalen Forschungsstrang innerhalb seines Fachs auseinandergesetzt hatte. Die Erklärungen, die Löffler zur Forschungssituation in der Geschichtsforschung (Oral History), Soziologie und Literaturwissenschaft liefert, lassen sich vergleichen mit den 1999 veröffentlichten Ausführungen der Historikerin Ulrike Jureit; indem letztere von vornherein eine interdisziplinäre Basis für ihre Analysen zur Lebensgeschichte von ehemaligen KZ-Häftlingen sucht, sind die Erörterungen einläßlicher als bei Löffler. 4 Für die Volkskundlerin ist die Interdisziplinarität ihres Forschungsfelds lediglich so etwas wie ein Hintergrund, vor dem sie ihre eigene Forschungsbühne aufbaut.


Drei Theoreme

Das Wort "Bühne" wird hier mit Bedacht gewählt, denn damit gelangt man ins Zentrum des Löfflerschen Theorieansatzes, dessen Voraussetzungen im zweiten Hauptabschnitt von Zurechtgerückt beschrieben werden. Im wesentlichen geht die Autorin von drei grundlegenden Theoremen bzw. Erfahrungen aus:

  1. Lebensgeschichtliches Erzählen im Interview ist geprägt, wenn nicht determiniert durch das performative Verhalten, das die Befragten während des Gesprächs an den Tag legen.
  2. Lebensgeschichtliches Erzählen über Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg ist geprägt, wenn nicht determiniert durch die öffentlichen Debatten und Diskurse der aufeinanderfolgenden Gegenwarten seit 1945.
  3. Das lebensgeschichtliche Erzählen von ehemaligen Soldaten unterer Dienstgrade über den Zweiten Weltkrieg ist geprägt, wenn nicht determiniert durch Schuld-Diskurse, im besonderen durch Schuldzuweisungen, die sich gegen das Wehrmacht-Militär richten.


Performanztheoretische
Perspektive

Vor allem der Rekurs auf die Performanztheorie gewinnt in Zurechtgerückt eine die Analyse über weite Strecken maßgeblich strukturierende Bedeutung. Die Autorin nutzt, wie sie sagt, die "Performanzchance" (S. 86), um einen neuen Zugang zur Auswertung von Äußerungen über den Zweiten Weltkrieg zu finden. Performanz wird von ihr "vorderhand umfassend als >Akt der Präsentation< vorgestellt, in dem der Autobiograph und Erzähler zum Darsteller und die Zuhörer zum Publikum werden." In diesem Sinn "ist eine >performance< eine bewußt gezielte und gekonnte – nicht: trainierte oder professionelle – und vor Publikum geglückte und sichere Darstellung." Mit dem "Leitbegriff der Performanz", so heißt es bei Löffler weiter, stütze sie sich zum einen auf "die kontextorientierten Ansätze meist US-amerikanischer Folkloristen", zum anderen auf "das dramatologische Modell des Soziologen Erving Goffman" (S. 76 ff.).

Welche Auswirkungen die performanztheoretisch geleitete Betrachtungsweise für die Analyse der Erzählungen und Stellungnahmen zum Zweiten Weltkrieg hat, wird vielleicht besonders deutlich in der Abgrenzung Löfflers von dem Soziologen Fritz Schütze. Von ihrem eigenen Ansatz meint sie, er könne "als Korrektiv dienen gegenüber einer so erfolgreichen Methode" wie derjenigen des Soziologen. Bei Schütze liege "das Augenmerk auf der Nähe des Erzählten zum Befragten, zu dessen Erleben in der Vergangenheit. In dieser Nähe glaubt man eine Authentizität des Biographischen garantiert, hinter der die Bedeutung der interpretativen [d.h. zugleich performativen, Anm. d. Verf.] Rahmung einer lebensgeschichtlichen Befragung zurücktritt" (S. 80f.). Mit dem Korrektiv, das Löffler anbietet, wird zweifellos nicht nur die Sichtweise des Soziologen, sondern auch die der Historiker in Frage gestellt; für letztere zählt eine "Nähe" des Erzählten zum Erlebten zu den Grundannahmen ihres Forschens, wie auch immer diese Nähe im einzelnen beschaffen sein mag.

Freilich baut Löffler mit der Erklärung, in der qualitativen Sozialforschung – und wohl entsprechend in der Oral History – werde das im Interview Erzählte "als getreues Abbild des Dagewesenen" aufgefaßt (S. 56), einen Pappgegner auf. Um ihrem eigenen Ansatz Profil zu verleihen – ein für die Performanzen und Rituale in wissenschaftlichen Abhandlungen sehr typisches Verfahren –, wird eine übertreibende Dichotomisierung vorgenommen. Auch wenn "Schütze von der Kongruenz des Erzählens heute mit dem Erleben damals" ausgehen sollte (S. 47), was nicht ganz sicher ist, 5 versteht es sich doch für die meisten Biographieforscher nahezu von selbst, daß die Wechselbeziehungen zwischen dem Erlebten und dem Erzählten sehr kompliziert und stets überprüfungsbedürftig sind. Mit den methodischen Überlegungen Löfflers, soviel dürfte deutlich geworden sein, geht der Streit um die Zuverlässigkeit, die Aussagekraft und damit allgemein um die Bedeutsamkeit dessen, was in retrospektiven Interviews erzählt wird, in eine neue Runde.


Der biographische und historische "Stoff"

Innerhalb der Dreieinheit von Biographie, Geschichte und Erzählung erhält mit dem Rekurs auf die Performanztheorie letzteres, die Erzählung und vor allem der Akt des Erzählens, eine Vorrangstellung. Löffler will die Dreieinheit nicht auflösen, will im Blick auf das biographische Erzählen die Biographie des Erzählers und dessen Eingebundensein in die Geschichte nicht zum Verschwinden bringen, doch in der konkreten Beschäftigung mit den Interviews, mit den Inszenierungen, die die Befragten in den Interviews liefern, findet eine eigenartige Verwandlung dessen statt, was die Autorin selbst im Untertitel ihrer Arbeit biographischen "Stoff" nennt. Was hat es auf sich mit diesem Stoff? Handelt es sich um einen Erinnerungsstoff, dessen Inhalte mehr oder weniger ungreifbar sind, oder besitzt der Stoff doch eine gewisse Festigkeit?

Auf eine eingängige Weise offenbart sich die entscheidende Bedeutung der Performanz in dem Titel, den Goffman seinem Grundlagenwerk gegeben hat: Wir alle spielen Theater. 6 Tatsächlich ist alle zwischenmenschliche Kommunikation unweigerlich immer auch mit Darstellung und Selbstdarstellung verbunden. In Mimik und Gestik, in der Wahl und Betonung der Wörter, in Pausen, einem Zögern, einem Wortabbruch, einem Sich-Vorbeugen oder Sich-Zurücklehnen während des Gesprächs werden ununterbrochen Botschaften vermittelt, die es zu verstehen gilt. Diesem Verstehen, dem Interpretieren der Botschaften, die in Interviews als Inszenierungssignale ausgesendet werden, wendet Löffler ihre volle Aufmerksamkeit zu.

Damit ergeben sich weitreichende Verschiebungen im Verständnis des lebensgeschichtlichen "Stoffs". Im Vorgang der Befragung, in der Befragungssituation, sieht Löffler die "Vorderbühne". Auf eine "Hinterbühne" verlegt sie die öffentlichen Diskurse – siehe oben Punkt 2 –, die im Laufe von Jahren und Jahrzehnten das Bewußtsein der Informanten tiefgreifend geprägt haben und weiterwirkend beeinflussen. Diese Diskurse enthalten in vermittelter Form wohl das, was als "historischer Stoff" bezeichnet werden kann. Ob es jedoch so etwas wie den historischen Stoff tatsächlich gibt, scheint für Löffler eher zweifelhaft zu sein – so zweifelhaft wie der biographische Stoff. Eigentlich bleibt nur der Erzählstoff zugänglich, als eine nahezu beliebig formbare und verformbare Gestaltungsmasse in der performativen Aktion.


Dilemma zwischen subjektiver
und objektiv(ierender) Darstellung

Schaut man sich das "Theater", dem Löffler sich in den Befragungen ausgesetzt sieht, näher an, so stößt man bald auf ein grundsätzliches Dilemma: Die Reaktionen der Interviewpartner werden nur nachvollziehbar in den Beschreibungen und Interpretationen, die die Autorin davon liefert. Die Quellen, die dokumentierten Interviewausschnitte, lassen in den meisten Fällen höchstens andeutungs- und ahnungsweise etwas erkennen vom Wie des Gesprochenen. Die verhältnismäßig eng an linguistische Genauigkeitsregeln angelehnten Transkriptionen bieten keinesfalls einen Übertragungsmodus, der es erlauben würde, das Gesprochene zu hören oder gar den Sprecher zu sehen. Der Leser muß sich also weitgehend auf die "persönlichen Eindrücke" der Interviewerin verlassen. Im Sinne von Vorstellungen der "Writing Culture" könnten die subjektiven Beobachtungen Löfflers als eine spezifische Form der Beschreibung eines ethnologischen Felds aufgefaßt werden, doch das Dilemma zwischen subjektiver und objektiv(ierend)er Darstellung wird damit nicht gelöst. Die Autorin will offensichtlich keineswegs nur "persönliche Eindrücke" zur Grundlage und zum Gegenstand ihrer Untersuchung machen. Die Performanzbeobachtung soll vielmehr die Basis für eine empirisch begründete, sachlich fundierte Analyse bilden, von der ausgehend das biographisch-historische Selbstverständnis der Interviewten – und letzlich einer ganzen Männergeneration – neu gedeutet werden kann.

Die Performanzsituationen, wie Löffler sie beschreibt, weisen überdies in sich auffällige blinde Flecken auf. In offenkundiger Scheu, ausführlich von der eigenen Person zu sprechen, bezieht sie sich selbst in das Performanzgeschehen nur sehr zurückhaltend, gewissermaßen widerwillig mit ein, so daß sie ganz in die Rolle einer Zuschauerin gerät, vor der fremdartige Schauspieler eine seltsame Vorstellung geben. Die alten Männer, zwischen 1908 und 1926 geboren, zum Zeitpunkt der Befragungen zwischen 63 und 81 Jahre alt, produzieren sich in oftmals unsympathisch aufdringlicher Manier als Veteranen vor einer jungen Wissenschaftlerin, die sich in den Gesprächen stark zurückhält und bisweilen unsicher fühlt (vgl. S. 173). Löffler nimmt zu der Frage, ob der Umstand der Geschlechterdifferenz, verbunden mit einer großen Altersdifferenz zwischen Fragerin und Befragten, möglicherweise die Gesprächsinhalte "gefärbt" hat, nicht Stellung. Dies ist innerhalb eines Verfahrens, das Performanzen zum Hauptgegenstand der Untersuchung macht, ein auffälliger Mangel an Selbstreflexivität.

Eines der besonders bemerkenswerten Ergebnisse Löfflers besteht in der Beobachtung, daß die von ihr befragten Männer, wie sie in den Interviews erklären, im Krieg keine Angst gehabt hätten. Damit kommt die Autorin zu einem Resultat, das von manchen bisherigen Forschungen deutlich abweicht. 7 Im Erzählen über Kämpfe und Rückzüge, so heißt es in Zurechtgerückt, sprach man "besser nicht" vom Gefühl der eigenen Angst. Nur andere, Frauen, Kinder oder "unsoldatische[n] Soldaten", hätten Angst gehabt; im "Erzählen über die eigenen Befindlichkeiten ging den einzelnen das Wort 'Angst' nicht leicht über die Lippen" (S. 225f.). Sicherlich ist es zutreffend, daß Löffler "mit der direkten Frage danach, ob man Angst gehabt habe, an ein Tabu rührte" (S. 226). Die "direkte Frage" nach der Angst wurde auch in den Projekten anderer Forscher gestellt, dort aber von den Interviewten nicht verneinend abgewehrt. 8

Soll man spekulieren, daß die jeweiligen Antworten durch unterschiedliche Performanzsituationen zustande gekommen sind? Einer jungen Interviewerin gegenüber reagieren ehemalige Soldaten womöglich anders als gegenüber männlichen Interviewern. Vielleicht spielt es auch eine Rolle, daß Löffler in ihren Erhebungen von vornherein, also gezielt nach der Erfahrung des Zweiten Weltkriegs fragte, während es z.B. in einem Hamburger Forschungsprojekt um die Erhebung "vollständiger" Lebensgeschichten ging; der Zweite Weltkrieg war hier ein freigewähltes Thema neben vielen anderen Themen.


"Hinterbühnen-Diskurse"

Es muß betont werden, daß in der Arbeit Löfflers die Performanzperspektive eine vorherrschende, aber keine alleinbeherrschende Bedeutung gewinnt. Immer wieder wird in der Beobachtung der Performanzen zugleich die Abhängigkeit von den Diskursen der "Hinterbühne" mitbedacht, und immer wieder wird auch gesehen, daß die Hinterbühnen-Diskurse in besonderem Maß von Schuld-Diskursen dominiert sind (Punkte 2. und 3.). Es ist keine Frage, daß diese Diskurse auf die biographischen Rekapitulationen der ehemaligen Soldaten einen bestimmenden Einfluß ausüben – die Frage ist freilich, in welchem Ausmaß.

In den Darlegungen Löfflers entsteht oft der Eindruck, die Diskussionen und Debatten um die Verbrechen der Wehrmacht, die ideologischen Auseinandersetzungen um die Schuld auch jedes einzelnen Soldaten hätten derart tiefe Spuren im Gedächtnis der Befragten hinterlassen, daß die autobiographische Erinnerung nur noch aus Rechtfertigungen und "Zurechtrückungen" besteht. Das, was provisorisch als "Erlebnissubstanz" im biographischen Erinnern aufgefaßt werden kann, hat sich im Gestrüpp der Zurechtlegungen weitgehend verflüchtigt und verloren. Es ist aufschlußreich zu beobachten, an welchen Stellen in den Analysen Löfflers die "Erlebnissubstanz" sich einerseits völlig auflöst, andererseits eine stärkere Festigkeit bewahrt.

In ihrer Beschäftigung mit den Erfahrungen, die die Soldaten im Rußlandkrieg machten, kommt die Autorin unter anderem zu dem Ergebnis, daß die UdSSR als Gegenbild "jenseits einer abendländischen Kultur" erscheint. Die Interviewten griffen zurück auf "ethnographisch aufbereitete Bilder. Armut war die Überschrift, unter der man über Rußland, über Land und Leute erzählte. Dies sei ein armes Land, das die Jahrhunderte hindurch, zuletzt durch ein kommunistisches Regime, nichts als ausgebeutet und mißbraucht worden sei" (S. 311). Ohne Zweifel haben überlieferte Klischees und Einflüsse durch die NS-Propaganda das Rußlandbild der Soldaten entscheidend mitgeprägt, doch die Frage ist, ob die Prägung die Realitätswahrnehmung derart überwältigt, daß eine Erkenntnis dessen, was "der Fall ist", unmöglich wird. Heinrich Böll erklärt dazu:

Das Erlebnis der Sowjetunion, auch als Angehöriger der Armee, egal ob Nazi oder nicht, war nicht sehr ermutigend, kein gutes Beispiel für den Sozialismus oder Kommunismus. Es waren ja nicht alles Idioten, diese deutschen Soldaten, sehen konnten sie ja, und sie konnten auch Schlüsse ziehen. 9
Dieses Sehen und Schlüsseziehen will Löffler nicht gelten lassen; ihr reduziert sich das, was die ehemaligen Soldaten über Rußland erzählen, zu Vorurteilen und Stereotypen (S. 318f.).


Herstellung von Authentizität

Wo es andererseits den Interviewten darum geht, die Topographie von Aktionsräumen, damit auch von Erzählräumen zu rekonstruieren, wird, so Löffler, ein Bestreben erkennbar, "der Erzählung im Räumlichen Authentizität zu geben." Gleichermaßen sind die Befragten beim Beschreiben und Erklären von Waffensystemen "[i]mmer um Anschaulichkeit und Präzision bemüht" (S. 222). Im Beschreiben von waffentechnischen "Einzelheiten, damit in gewisser Weise nahe am Geschehen," machten die Informanten ihr Erzählen authentisch (S. 297). Die Performanz- und Diskurstheoretikerin sieht freilich sofort den Haken bei der sachlichen Erörterung technischer Fragen:

Unter diesen Aspekt gestellt waren bestimmte Erfahrungen im Krieg entschärft; als technisches Wissen, dem man gemeinhin Rationalität unterstellt, historisch Neutralität und prospektiv Nutzen nachsagt, konnten diese Erfahrungen von Nutzen sein, konnten diese erzählt werden. Das individuelle und gesellschaftliche Dilemma um das Erzählen über den Krieg war in diesem Sinne aufgehoben in dem so Objektivierten" (S. 297).
Die Autorin sieht im Erzählen über Technik ein Mehr an Authentizität, erkennt aber sozusagen diese Authentizität als "gelebte Erfahrung" nicht an, da sie sogleich die inszenierte Berechnung dahinter entdeckt, das Bemühen um "Entschärfung", das Ausweichen in vergleichsweise unverfängliche Bereiche, wo es um die Darstellung von technischer Kompetenz und nicht um die Beschreibung des Sterbens und Tötens geht.

In mancher Hinsicht erinnert solchermaßen die Analyse Löfflers mit der Verknüpfung von Performanz- und Diskurstheorie an Verfahrensweisen der Ideologiekritik, wie sie in der Zeit etwa zwischen 1968 und 1975 zu einem Wissenschaftsparadigma geworden waren. Kennzeichnend für diese Verfahrensweisen war eine kritische Grundhaltung, die das Objekt unter Generalverdacht nimmt. Wurde um 1970 die unweigerlich falsche Ideologie der Verteter aus der "Kriegsgeneration" hinterfragt und "entlarvt", so erweisen sich aus der Perspektive der Performanz- und Diskurstheoretikerin alle autobiographischen Äußerungen als Inszenierungstricks, als Strategien zur Stützung des Selbstwerts, als Manöver zur Abwälzung von Schuld und zur Durchsetzung eines möglichst positiven Selbstbildes.


Die "Brücke"
zwischen Erlebnis und Erzählung

Die Studie von Klara Löffler muß damit zugleich als Kritik an Wissenschaftskonzepten gelesen werden, die innerhalb der Soziologie, der Oral History oder der Literaturwissenschaft von einer "Verbindung", einer "Brücke" zwischen Erlebnis und Erzählung ausgehen – so fragwürdig diese Verbindungen und Brücken immer sein mögen. Letztlich kann jedoch auch Löffler nicht umhin, die Verbindungen "irgendwo", punktuell zumindest, gelten zu lassen; sie geriete sonst in die Schwierigkeit, ihren Gesprächspartnern jegliche Glaubwürdigkeit, wenn nicht gar ihre Identität absprechen zu müssen. Die Tendenz, Informanten zu Schauspielern und dadurch zu Figuren mit dubioser Selbstidentität zu stilisieren, schlägt jedoch in Zurechtgerückt stark durch. Die sechzehn alten Gesprächspartner von Klara Löffler erhalten nur eine sehr geringe Chance, ihre Biographie als einen Erzählstoff zu präsentieren, hinter dem ein "gelebtes Leben" steht. Eher wirken sie wie verwehte Erscheinungen, deren Leben unter dem Stigma der Schuldbeladenheit niemals klare Konturen gewinnt.


"Verstehen auf Distanz"

Es ist nur konsequent, wenn Löffler diejenigen Forscher, die sich den Mannschaftssoldaten und Unteroffizieren des Zweiten Weltkriegs "mit vorsichtiger Empathie" nähern (S. 55), mit Skepsis betrachtet. Empathisches Verstehen bezeichnet sie als "schwierig". Verstehen könne für sie nur ein "Verstehen auf Distanz" sein (S. 60). Daß "Verstehen auf Distanz" eine Grundbedingung aller wissenschaftlichen Erkenntnis ist, dürfte kaum strittig sein; es stellt sich aber die Frage, wie groß die Distanz jeweils wird. Sie kann so groß werden, daß Verstehen in Nichtverstehen oder Unverständnis umkippt. Mit diesem Problem schlagen sich Volkskundler und Ethnologen seit langem herum, indem sie nach dem Fremden, dem Anderen einerseits und dem Eigenen andererseits fragen. Es scheint so, als betrachte Löffler die Soldaten des Zweiten Weltkriegs mit einem strengen ethnologischen Blick. Das Fremde bleibt fremd, es kann nicht zum Eigenen werden.

Dieses Fremdbleiben hat für den Leser den Vorteil der Unbequemlichkeit. Alle Fragen, die sich im Blick auf die Verheerungen des Zweiten Weltkriegs stellen, kochen gewissermaßen von neuem hoch. Es gibt keine Beruhigung, keine Sicherheit in den Interprationen, keine Schublade, in die man den Zweiten Weltkrieg mit "plausiblen Ursachenerklärungen" hineinstecken könnte. Insbesondere die Biographieforschung sieht sich durch Zurechtgerückt zu einer neuerlichen Selbstüberprüfung genötigt. Wieviel Täuschung und Selbsttäuschung steckt womöglich in allem biographischen Erzählen? Löffler macht mit ihrem Gespür für Performanzen deutlich, welche Fallgruben sich ständig öffnen in einem Vorgang, den sie als eine bewegliche, fließende Tätigkeit mit dem Terminus "Biographieren" versieht.


Authentizität in der Erinnerungskultur
und in der Wissenschaft

Im Biographieren erweist "Authentizität" sich als ein höchst zweifelhaftes Phänomen. Am Schluß ihrer Studie beschreibt Löffler ihre Gesprächspartner als Routiniers, die sich im "Stil des Authentischen [...] auf der Höhe der Zeit" bewegen:

In der Betonung des Persönlichen und Authentischen entsprachen und reagierten diese ehemaligen Soldaten auf den 'sprachlichen Markt' der Erinnerungskultur, auf dem Authentizität als Wert hochgehalten und hoch gehandelt wird. Geschehnisse und Erfahrungen, die 'authentisch' sind, genauer: die authentisch gemacht wurden, haben längst den Rang einer 'besseren" Realität (S. 359).
Indem Löffler für die Wertschätzung des Authentischen auch die Wissenschaften verantwortlich macht, die "mit der ihnen von der Gesellschaft verliehenen Autorität Authentisches großschreiben" (ebd.), baut sie freilich wiederum eine Pappfront auf.

In der Wissenschaft ist der Begriff oder das Phänomen des Authentischen äußerst umstritten. Es gibt mächtige Strömungen in der Literaturwissenschaft, ebenso auch vielfach rezipierte Ansätze in der Historiographie, denenzufolge beispielsweise alles Vergangene in der Erinnerung als "Fiktion" erscheint. Auf das Fiktions-Theorem greift Löffler nicht ausdrücklich zurück, wohl aber exemplifiziert und veranschaulicht sie mit ihrer Performanzanalyse das biographische Erzählen sehr weitgehend als ein Ausbreiten von Fiktionen. Im Sinne der von dem Literaturwissenschaftler Helmut Lethen 1996 vertretenen Auffassung hat Klara Löffler damit denkbar gute Karten, denn: "Das Authentische hat gegenwärtig denkbar schlechte Karten." 10


PD Dr. Hans Joachim Schröder
Universität Hamburg
Literaturwissenschaftliches Seminar
Von-Melle-Park 6
D-20146 Hamburg

Ins Netz gestellt am 30.05.2000.

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Anmerkungen

1 Vgl. zum Beispiel Lutz Niethammer: Heimat und Front. Versuch, zehn Kriegserinnerungen aus der Arbeiterklasse des Ruhrgebietes zu verstehen. In: L.N. (Hg.): "Die Jahre weiß man nicht, wo man die heute hinsetzen soll". Faschismuserfahrungen im Ruhrgebiet. Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet 1930 bis 1960, Bd. 1. Berlin, Bonn: J.H.W. Dietz 1983, S. 163-232. – Dietmar Sedlaczek: "... das Lager läuft dir hinterher". Leben mit nationalsozialistischer Verfolgung. Berlin, Hamburg: Dietrich Reimer 1996. – Margarete Dörr: "Wer die Zeit nicht miterlebt hat ...". Frauenerfahrungen im Zweiten Weltkrieg und in den Jahren danach. 3 Bde. Frankfurt a.M., New York: Campus 1998.  zurück

2 Als wichtige Arbeiten seien genannt: Albrecht Lehmann: Erzählstruktur und Lebenslauf. Autobiographische Untersuchungen. Frankfurt a.M., New York: Campus 1983, bes. S. 120-146. – Ludger Tekampe: Kriegserzählungen. Eine Studie zur erzählerischen Vergegenwärtigung des Zweiten Weltkrieges. Mainz: Gesellschaft für Volkskunde in Rheinland-Pfalz e.V. 1989. – Hans Joachim Schröder: Die gestohlenen Jahre. Erzählgeschichten und Geschichtserzählung im Interview: Der Zweite Weltkrieg aus der Sicht ehemaliger Mannschaftssoldaten. Tübingen: Max Niemeyer 1992. – Am Rande geht Löffler in Zurechtgerückt auch auf die Erfahrung der Kriegsgefangenschaft ein; dieser Aspekt bleibt in der vorliegenden Rezension unberücksichtigt.  zurück

3 Klara Löffler: Aufgehoben: Soldatenbriefe aus dem Zweiten Weltkrieg. Eine Studie zur subjektiven Wirklichkeit des Krieges. (Regensburger Schriften zur Volkskunde, Bd. 9) Bamberg: WVB 1992.  zurück

4 Ulrike Jureit: Erinnerungsmuster. Zur Methodik lebensgeschichtlicher Interviews mit Überlebenden der Konzentrations- und Vernichtungslager. Hamburg: Ergebnisse Verlag 1999.  zurück

5 Vgl. ebd. S. 63.  zurück

6 Erving Goffman: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. München: Piper, 2. Aufl. 1973 (zuerst 1959).  zurück

7 Allerdings stimmt der Befund Löfflers mit demjenigen Tekampes (Anm. 2, vgl. ebd. S. 146f.) weitgehend überein.  zurück

8 Vgl. Schröder (Anm. 2), S. 626, 628, 644, 651ff., 662f.  zurück

9 Heinrich Böll / Lew Kopelew: Warum haben wir aufeinander geschossen? Bornheim-Merten: Lamuv 1981, S. 24. Vgl. Schröder (Anm. 2), S. 376f. Dazu Hans Joachim Schröder: Max Landowski, Landarbeiter. Ein Leben zwischen Westpreußen und Schleswig-Holstein. Berlin, Hamburg: Reimer 2000, S. 53f.   zurück

10 Helmut Lethen: Versionen des Authentischen: sechs Gemeinplätze. In: Hartmut Böhme / Klaus R. Scherpe (Hg.): Literatur und Kulturwissenschaften. Positionen, Theorien, Modelle. (rowohlts enzyklopädie 575) Reinbek b. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1996, S. 205-231, hier S. 209.   zurück


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