Schulze über Dreher: Performance Art und Kunst mit Medien nach 1945

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Holger Schulze

Historisierung der Nachkriegsavantgarden
Performance Art und Kunst mit Medien nach 1945

  • Thomas Dreher: Performance Art nach 1945. Aktionstheater und Intermedia. (Das Problempotential der Nachkriegsavantgarden, Band 3) München: Fink 2001. 543 S. Kart. DM 108,-.
    ISBN 3-7705-3452-2.


1. Interdisziplinäre Historisierung

Seit Mitte der neunziger Jahre ist zu beobachten, wie Kunstformen der Avantgarden der Nachkriegszeit eine zunehmende Musealisierung und Historisierung erfahren, befördert nicht zuletzt durch institutionelle Gründungen wie dem ZKM in Karlsruhe oder dem Ars Electronica Zentrum in Linz. Diese Historisierung reicht hinein bis in die siebziger und achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts und vollzieht sich auf bemerkenswerte Weise. Denn sie wird nicht von einem >dantoischen Platzanweiser-Standpunkt< aus durchgeführt, wie Jürgen Habermas einmal polemisch bemerkt hat, sondern eher ausgehend von einem "weltinternen Beobachterstandpunkt" (S.48), wie es Thomas Dreher fromuliert, der Autor des vorliegenden Bandes. Der Ton nachholender Rechtfertigung und Fürsprache, der allzuoft die Historisierungsversuche von Zeitgenossen prägt, wird hier durch einen ruhigen und unaufgeregten Blick auf Protagonisten und soziale Zusammenschlüsse ersetzt. Neu entstandene und mittlerweile popularisierte Genres werden in Analysen der hervorgebrachten Artefakte bzw. der überlieferten Relikte, Bild- und Ton-Dokumentationen und Augenzeugenberichten beschrieben: wissenschaftliche Geschichtsschreibung ersetzt die Legendenbildung.

Überraschend stark sind bei diesen Bemühungen solche Ansätze vertreten, die aus einer interdisziplinären Überschreitung ehedem literaturwissenschaftlicher Forschungsgebiete entstanden sind. Fächerpolitisch nicht uninteressant nutzen Literarturwissenschaftler und -wissenschaftlerinnen die intermediale und interdisziplinäre Öffnung dazu, die Tradition germanistischer Geschichtsschreibung und Begriffsdefinition auszuweiten auf Werke, Strömungen und Gruppierungen, die sich kaum mehr als literarisch, selbst in einem sehr weiten Sinne, begreifen lassen.

Exemplarisch sei hier etwa auf die Literaturwissenschaftlerin Sabine Sanio hingewiesen, die mit ihrer Arbeit "Alternativen zur Werkästhetik. Untersuchungen zum Werk von John Cage und Helmut Heißenbüttel" 1 sich als Expertin für das Feld der Klangkunst empfohlen hat und mittlerweile auch vornehmlich auf diesem Feld arbeitet. Die Folgen eines derartigen disziplinären Austausches sind, nicht zuletzt für die Methodik der Kunstwissenschaften, weitreichend; auffälig ist vor allem, dass die antragsnotorische Rede von der Interdisziplinarität hier tatsächlich erkennbare Früchte zu tragen beginnt und Einfluss hat auf den methodischen Zugriff und das Verständnis eines Untersuchungsgebietes.

In diese neueren Tendenzen tatsächlich interdisziplinären Austausches ist auch das von Georg Jäger am Institut für Deutsche Philologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München initiierte Projekt >Problempotential der Nachkriegsavantgarden< einzuordnen. Begonnen als DFG-Projekt >Radikale Avantgarden. Von der Wiener Gruppe zum Wiener Aktionismus< liegen seit 2001 nun drei Studien von Michael Backes, Thomas Dreher und Oliver Jahraus vor.

2. >Problempotential der Nachkriegsavantgarden

Wiener Gruppe und Wiener Aktionismus stehen im Zentrum des Forschungsprojektes als medien- und spartenübergreifende Strömungen, anhand derer exemplarisch Fragestellungen und Werkkonzeptionen der Nachkriegsavantgarden untersucht werden — ausgreifend auf historisch und künstlertheoretisch benachbarte Strömungen. Michael Backes konzentriert sich im ersten Band der Reihe, "Experimentelle Semiotik in Literaturavantgarden. Über die Wiener Gruppe mit Bezug auf die Konkrete Poesie", auf die Poetik und Sprachtheorie des literarischen Zweigs dieser Wiener Avantgarden. 2 Anhand motivisch und methodologisch ausgewählter Beispiele expliziert er, wie Verfahren der Wiener Gruppe als "Poststrukturalismus avant la lettre" (Backes S.14) zu verstehen wären und setzt sie deutlich von einer poetologischen Position der Selbstidentität ab, die von Vertretern der Konkreten Poesie wie Eugen Gomringer eingenommen wurde.

Im zweiten Band untersucht Oliver Jahraus "Die Aktion im Wiener Aktionismus. Subversion der Kultur und Dispositionierung des Bewußtseins". 3 Er versucht eine großangelegte und motivisch weitgespannte Aufarbeitung des Wiener Aktionismus, die auch eine methodische Grundlegung der Untersuchungsweise impliziert. Dokumentationslage und Forschungssituation sind hier wesentlich komplizierter als im Fall der Wiener Gruppe, weshalb die Klassifizierung der unterschiedlichen Äusserungsformen im Umfeld des Wiener Aktionismus, zwischen Aktions-Texten, Selbst- und Fremdbeschreibungen ausführlich diskutiert wird. (Jahraus S.41) Ausgehend von Pierces Semiotik versteht er die "aktion als zeichenphänomen" (Kap.10.3) und stratifiziert seine Untersuchung in eine semiotische, diskursive und systemtheoretische Ebene, samt einer chronologischen Übersicht aller Aktionen der Hauptverteter des Wiener Aktionismus von 1962—1998.

Schon in der Arbeit von Jahraus findet sich ein durchgängiger Bezug auf systemtheoretische Denkfiguren und Begriffe, der im Band "Performance Art nach 1945" von Thomas Dreher zum durchgängigen Motiv wird. Dreher versucht nicht weniger als eine theoretische Fundierung der Bände seiner Kollegen durch die Verknüpfung und historisch-genetische Verschränkung von "Aktionstheater und Intermedia", so der Untertitel des Bandes. Er beschreibt "Die Entwicklung künstlerischer Intermediaformen von den fünfziger bis in die neunziger Jahre" (S.11) wobei seine material- und theoriereich belegte These lautet: "Aus den Medienerweiterungen von der Aktionsmalerei zu diversen Aktionsformen [...] erwachsen Medienkombinationen im Aktionstheater." (S.39)

Allen drei Bänden ist eine "Einführung in den Problemkreis und Leitlinien der Argumentation" vorangestellt, die in den monographischen Bänden von Backes und Jahraus identisch abgedruckt wird, im synoptisch-systematisch angelegten Band von Dreher jedoch leicht davon abweicht. Zur methodischen Anlage, zumindest der ersten beiden Bände heisst es:

Im Rahmen exemplarischer Analysen werden Texte und Aktionen als experimentelle Erprobung und probeweise Umsetzung theoretischer Annahmen über Kunst, Kultur und Gesellschaft gelesen. Es wird somit ein Problempotential rekonstruiert, wie es sich aus der Analyse der künstlerischen Aktivitäten ergibt oder aus den begleitenden Äußerungen der Künstler selbst belegt wird. (Jahraus S.13, Backes S.11)

"Die enge Verbindung von Objektanalyse und Theoriediskussion" (Jahraus S.14, Backes S.12) soll diese Weite des Blicks noch betonen, die in der Einleitung zu Drehers Band allerdings eine signifikante Modifzierung erfährt: Hier wird der Akzent nicht mehr nur auf eine Darstellung der Wiener Avantgarden gelegt, sondern ausgehend von Luhmanns soziologischer Systemtheorie wird ein kunsthistorisch und gattungssystematischer Blick auf das Feld der Performances generell geworfen, wobei auch die vorgenannten Strömungen Erwähnung finden.

3. Anwendung der Systemtheorie

Für Dreher ist Niklas Luhmanns Theorie der Beobachtung eine besonders adäquate Beschreibungsweise der Veränderungen in den Künsten des 20. Jahrhunderts, besonders in der Nachkriegszeit. Veränderungen der Mediennutzung, die bei Backes und Jahraus eine eher untergeordnete Rolle spielen, rücken in der Synposis Drehers ganz ins Zentrum. Er breitet die historische Fragestellung der Performance-Akteure nicht nur an vorliegenden Beispielen extensiv und exemplarisch aus, schreibt also nicht nur eine Geschichte der Performance, sondern bemüht sich zudem noch um einen prononcierten methodischen Ansatz, der gesellschafts- und wahrnehmungstheoretische Qualitäten und Weiterungen dieser Kunstform bestimmen soll.

So nutzt er Luhmanns Leitdifferenz Medium / Form zur Beschreibung eines Wechselspiels "offene[r] Medienmöglichkeiten" und "geschlosseneren Formen des Mediengebrauchs" (S.9) und sieht >Intermedia< — verstanden als Kunstformen, die mit neuen Medien arbeiten — als Hilfsmittel eines Transports des Mediengebrauchs auf andere, neue Medienmöglichkeiten. In dieser Perspektive gerät das Happening dann zum schlichten Anwendungsfall der luhmannianischen Opposition zwischen >Beobachtung< und >Operation<. Eine derart strikte Fundierung auf nur einen theoretischen Ansatz bringt nun aber auch in diesem Fall Vor- und Nachteile. Einerseits bleibt die Argumentation Drehers hinreichend transparent und konsistent, da sie sich in ständiger Auseinandersetzung mit und der Kritik von Luhmanns Theorie positionieren muss; andererseits ergeben sich merkliche Verengungen des Blicks, die zumindest als problematisch angesehen werden dürfen. So führt etwa die Konzentration auf Beobachtungsfunktionen in der Performance methodisch zu einer Vernachlässigung der Produzentenperspektive und hinsichtlich des Untersuchungsbereiches zu einem motivischen Übergewicht des >closed circuit<-Aspektes. Nicht zuletzt führt die exklusive und oft gedrängte Verwendung von Luhmanns Terminologie schlicht dazu, dass der Band für Nicht-Luhmannianer passagenweise leider nur schwer lesbar ist.

4. Aktionstheater und Medienlandschaft

Im Verlauf des Bandes zeichnet Dreher den Weg von Performances zu interaktiven oder, wie er präziser formuliert, >reaktiven Installationen< nach. Er sieht darin eine Transformationen der künstlerisch bewohnten Medienlandschaft:

auf eine Phase der Veränderung durch Film- und Video-orientierte Bildverarbeitung folgt eine Phase der computergestützten Text-, Bild- und Tonverarbeitung. (S.392)

Nach einem ersten Umreissen der >Problemstellung<, mit grundsätzlichen Überlegungen zu den Begriffen >Happening< und >Peformance< (Kap. 1), setzt der Band mit einem großen, 280 Seiten langen Kapitel ein, in dem Dreher seine Ausgangsthese vom Übergang der Aktionsmalerei zu den Künsten mit Medien belegt mit einer Fülle detailreicher Beschreibungen einzelner Performances. In zahlreichen Einzeldarstellungen von kanonisch gewordenen Performances beschreibt er sukzessive die "Erweiterung künstlerischer Präsentationsformen" (Kap. 2.1) von "der Aktionsmalerei zum Proto-Happening" (Kap. 2.3) deren Missing Link und Synthese in einem das "Multimedia-Happening" (Kap.2.2) darstellt. Dreher unternimmt dabei einen Dreischritt vom New Yorker Aktionstheater der fünfziger und sechziger Jahre von Alan Kaprow, über die Hochzeit von Fluxus bis hin zum >Minimal Dance< des Judson Dance Theater; über kollektive Aktionsformen und Soloperformances des Wiener Aktionismus der sechziger Jahre; bis hin zu den Äusserungen der >Body Art< in den sechziger bis siebziger Jahren. So entsteht das plastische Bild eines Medienwechsels vom bildkünstlerischem Aktionstheater zum "Pluralismus von Intermediaformen" (S.12).

Den sechziger Jahren kommt in der Darstellung Drehers dabei die Funktion eines Scharnierjahrzehnts zu, in dem die zentralen Begriffe >Aktionstheater< und >Medienlandschaft< sich begegnen und interagieren. Der Begriff des >Aktionstheaters< signalisiert, wohl auch im doppelten Blick auf Theateraktionen der klassischern Avantgarden und der virtuellen Bühnen in der Medienkunst, den Berührungspunkt von Aktionsmalerei und Performances; der Begriff der >Medienlandschaft< dagegen situiert die Performances des Scharnierjahrzehnts im Spektrum technologischer Entwicklungen der Massenkultur, von Video bis zum Internet, in denen er lediglich neue >Präsentationsformen< sieht. Dieser Medienwechsel steht dann im Zentrum des dritten Kapitels, in dem er die zentrale These des Bandes formuliert:

Performance Art als künstlerische Form der Organisation einer Präsentation durch Medienkombination verliert in den siebziger Jahren ihre Schlüsselstellung, die sie in den sechziger Jahren bei der Problematisierung des im Kunstkontext etablierten, Zeit und Bewegung ausschließenden Werkbegriffs hatte, durch die Eigendynamik der künstlerischen Anwendung neuer Medien, die neben der Multi- und Intermedia-Performance unter anderem auch zur Videoperformance und zur Video-Installation führt und damit das Aktionstheater überschreitet. (S.390)

Dieser Übergang von Performances in den Nachkriegsavantgarden zu postmodernen Strömungen der siebziger und achtziger Jahre steht gleichfalls im Zentrum des Theorieteils der Arbeit in den Kapiteln 4—6. In diesem Teil findet die theoretische Überprüfung und begriffliche Ausweitung der vorangegangenen historischen Darstellung statt. So konzentriert sich Kapitel 4 auf eine Neubeschreibung des Aktionstheaters unter dem Aspekt von Luhmanns Theorie der Beobachtung und Kapitel 5 wendet Luhmanns "Die Kunst der Gesellschaft" auf einzelne zuvor extensiv dargestellte Formen, Tendenzen und Strömungen des Aktionstheaters an. Der Band endet in Kapitel 6 mit einer grundsätzlichen Reflexion "Performancetheoretische[r] Aspekte" wie "Transgression" (Kap. 6.1) und die Position der Performance in einer "erweiterten Medienlandschaft" (Kap. 6.2) Abgeschlossen wird die Studie von einem ausführlichen Dokumentationsteil, in dem Dreher die erwähnten Performances und ihre Dokumentationsformen auflistet.

4. a) Performance-Erzählungen

Ausgehend von Luhmanns Theorie der Beobachtung konzentriert Dreher sich in seinen Performance-Erzählungen zunehmend auf das Phänomen der >Closed Circuit-Installationen<. Das Beobachten des Beobachtenden und die Selbstbeobachtung von Beobachtern (vulgo: >Publikum<) wird in den vorgestellten und erzählten Performances immer wieder als Motiv erkennbar. Hieraus ergibt sich eine weitere Konzentration auf die ebenfalls Luhmanns Werk entlehnte Dichotomie von Weltbeobachtung vs. Kunstbeobachtung, die auch die Bände von Backes und Jahraus prägt. In der Darstellung Drehers erscheint sie als bestimmender, ja maßgeblich motivierender Ausgangspunkt für Performances der Nachkriegszeit — wobei er verdienstvollerweise die japanische Gutai-Gruppe nicht unterschlägt, deren Einfluss auf die Performances der Fluxus-Bewegung kaum zu unterschätzen ist.

Im Verlauf einer langen Reihe von Performance-Nacherzählungen, in einem großen epochalen und internationalen Bogen entfaltet Dreher ein Panorama, das darlegt wie aus einer Malerei, die sich an immer raumgreifenderen Präsentationsformen versucht, die Aktionstheaterformen der Konstruktivisten entstanden und die Mixed Media Events John Cages und Fluxus< hervorgingen. Dabei bestimmt er einen Formkanon der Performances, den er als eine Folge von acting zu non-acting-Formen beschreibt, als eine kontinuierliche Achse, auf der theatrale Inszenierungsformen mehr und mehr in Alltagshandlungen und -situationen ohne explizit gesetzten Rahmen übergehen. Der komponierte Rollenplot verschwindet zugunsten immer stärkerer Publikums-Partizipation, was eine kritische Auseinandersetzung mit Dantos Thesen zum Ende der Kunst und der Kunstgeschichte erforderlich macht; ganz systemtheoretisch zeigt Dreher hier, dass durch einen Wechsel von Welt- und Kunstbeobachtung eine Neucodierung vorgenommen wird, die tradierte Kunstformen in ihren Funktionen und Funktionsweisen reformuliert.

In den Beschreibungen, die er unter der Überschrift >Aktions- und Medienkunst< im dritten Kapitel gibt, wird schließlich deutlich, was die Stoßrichtung dieser langen Reihe beeindruckender Erzählungen einzelner Performances war: Sie sollte verdeutlichen, wie mediale Dispositive — konkreter: technische Gerätschaften und Infrastrukturen der Massenmedien — sich nach und nach in das Genre der anfänglich körperzentrierten Performance hineinbewegen. Der Bogen von Raum- und Aktions-Performances der fünfziger Jahre, über Körpererkundungs- und Selbstzerstörungs-Performances seit den Sechzigern, hin zu den Performances mit, in und durch (Massen-) Medien seit den späten siebziger Jahren macht deutlich, "daß die neuen Medien in den neunziger Jahren das realisierbar machen, was in den sechziger Jahren schon angelegt, aber noch rein spekulativ war" (S.13)

Die Annäherung und Invasion der elektrischen und elektronischen, servomechanischen Techniken in den Körper der PerformerInnen findet statt und eine neue Form von Partizipation wird erkennbar — via telekommunikativer Netzwerke. Ein Prozess wird hier vollendet, den Harold Rosenberg noch mehr provokativ und prognostisch konstatierte mit dem Satz: "...art has entered into the media system." (Rosenberg, Artworks, S.13) — nach Drehers Beschreibung reformulierbar in technischer Hinsicht als media systems have entered into artists ...

4. b) Theorie-Diskussion

Auf Basis dieser Grundlegung einer >kurzen< Geschichte der Performance wendet Dreher nun verschiedene Denkfiguren, Begriffe und Theorieelemente der luhmannschen Theorie auf das Genre der Performance an. Zum einen nutzt er die generelle Theorie der Beobachtung (Kap. 4), um die Polarität von Kunst- und Weltbeobachtung, die schon in den vorangegangenen Kapiteln vorbereitet wurde, noch deutlicher herauszustellen und die Position des radikalien Konstruktivismus zu verdeutlichen:

Die These einer Außenwelt, die vor aller Beobachtung existiere, wird im radikalen Konstruktivismus ersetzt durch den Selbstbezug einer "Beobachtung von Beobachtungen" [...], die durch Ausdifferenzierungen von Innenwelten Vorstellungen von Außenwelten zu generieren fähig sind. (S.396)

Zum anderen aber nutzt er Luhmanns Ausführungen in der "Kunst der Gesellschaft" von 1995, um das kunstspezifische Prozessieren von Differenzen als Weltbeobachtung zu beschreiben und eine Ausdifferenzierung von Medium / Fom-Relationen als "Weltrepräsentationsersatz" kenntlich zu machen. Kurz: das "Kommunikationssystem Kunst" wird in Selbstprogrammierung zu einem autonomen Bereich entfaltet, der ein exemplarisches Reflektieren von Prozessen ausserhalb des Systems Kunst möglich machen und Bewusstseinsprozesse auslösen soll. Zum Beispiel auch hinsichtlich von geschlechtsspezifischen Rollenmustern und Handlungsweisen:

Kommunikationsmedien und >Zeichenkörper< werden von Künstlern in Bewußtseinsprozessen transformiert und in Präsentationsformen übersetzt, welche bei Beobachtern Bewußtseinsprozesse auslösen können (sollen), die die scheinbare Untrennbarkeit von >Körperzeichen< und geschlechtsspezifischen Rollenmustern als willkürliche Codierungen ausweisen und infrage stellen (S.398f.)

Diese beiden Elemente der Theorie Luhmanns, die eher methodische Theorie der Bedeutung und ihre Anwendung zur Beschreibung des Systems Kunst, verknüpft er nun mit Goodmanns Modell der "Ways of Worldmaking". So entsteht die Formulierung der "Weisen der Weltbeobachtung", die den gesamten Band durchzieht, und wohl im gesellschaftstheoretischen Konzept Luhmanns den Aspekt der Pluralität aus den zeichentheoretischen Überlegungen Goodmans stärken soll. Eine frappierende Verbindung auf den ersten Blick, da sie eine Nähe der ansonsten eher wenig Berührungspunkte aufweisenden Denker sichtbar macht. Auf den zweiten Blick stellt sich jedoch die Frage, ob diese Formulierung wirklich mehr als ein essayistischer Kurzschluss ist. Die Betrachtungen zur Kunst, die die beiden Autoren anstellen, sind schließlich derart divergent und gehen von radikal anderen Fragestellungen aus: so interessieren den Ex-Galeristen Goodman weitgehend Fragen der Bild- und Interpretationstheorie, den Ex-Verwaltungstheoretiker dagegen mehr solche der gesellschaftlichen Bestimmung dessen, was wir gewohnt sind, >Kunst< zu nennen. Ein Zusammenwirken ist lediglich als komplementäre Ergänzung denkbar, was am Ende jedoch zu wenig ist für eine solche doch starke und anregende Formulierung.

Dreher versucht dies aufzufangen mit seinem abschließenden Blick auf "Performancetheoretische Aspekte" (Kap. 6). Nach dem umfassenden Durchgang durch Geschichte der und Theorie zur Performance, legt er sich noch einmal klassische Fragen der Performancetheorie vor und kommt zu Schlüssen, bei denen er ausgehend von vorliegenden psychologischen, ethnologischen und medienkritischen Ansätzen zur Bestimmung der Performance die Beobachtungsposition wiederum ins Zentrum stellen will:

Nicht der Werkbegriff wird aufgehoben, sondern die Begrenzung der Beobachtungsweisen auf Kunst beziehungsweise auf >als Kunst< Codiertes, und die Regeln kunstspezifischer Präsentationsformen (Kunstgattungen) werden negiert oder aufgehoben in Multi- und Intermedia-Modellen für (die Beobachtung von Weisen der) "Weltbeobachtung" (S.449)

So dass am Ende des Bandes dann deutlich geworden ist, welch hoher Gad an Selbstreflexion und Methodendiskussion in die Performances der Nachkriegszeit eingegangen ist:

Das Bewußtsein der Beobachter wird von Modellen des Aktionstheaters / der Performance Art auf seine Fähigkeit zur Konzeptualisierung von Dispositionsmöglichkeiten und des Switch von einer Möglichkeit zur anderen, als zur >Dispositionsdisponierung<, verwiesen. (S.452)

5. Zwiespältige Gefühle

Insgesamt hinterlässt die Lektüre von Drehers Band einen zwiespältigen Eindruck. Performance Art nach 1945 ist zweifellos als ein Standardwerk konzipiert; Materialfülle, Theoriebelege, Erzählgestus und der Anspruch auf eine grundlegende Reflexion dessen, was Performances nach 1945 waren und noch heute sind, legen dies nahe. Beeindruckend ist die Hartnäckigkeit, mit der zugleich eine konzise Geschichte der Performance in Einzelerzählungen und eine Diskussion anhand der pronocierten theoretischen Position von Luhmanns Theorie der Beobachtung vorgelegt werden soll. Ein doppeltes Ziel, das sich nur wenige Darstellungen neuerer Künste vornehmen, dessen Ansprch aber auch Dreher in letzter Konsequenz nicht erfüllen kann.

So führt die an sich lobenswerte Verschränkung von Methodenreflexion und zeitgenösisschen Ansätzen der Wissenschafts- und Medientheorie mit der Entfaltung eines kunsthistorischen Zusammenhanges dazu, dass einzelne Kapitel des Bandes derart ausufern, dass das Verfolgen der Argumentation dem Leser und der Leserin immer wieder misslingt. Zugleich entsteht umgekehrt die Schwierigkeit, die Erzählung derart vieler Einzelperformances hinreichend kurz zu halten. Das Resultat sind teils ermüdende Wiederholungen und endlose Reihungen von Performances-Darstellungen, teils aber zu kurz greifende Darstellungen, die die Argumentation des Autors und das zeitgenössische Erleben der Performances wenig plastisch machen. In der Fülle der beschriebenen Performances wird mehr und mehr unklar, was mit dieser endlosen Reihe eigentlich gezeigt werden soll. Die Absicht, ein Standardwerk zu schreiben, das eine möglichst vollständige Menge kanonisierter Performances vorstellt und in eine Analyse miteinbezieht, konkurriert hier mit der Notwendigkeit, sich auf tatsächliche Detailanalysen einzulassen, die die theoretischen Ambitionen des Bandes erfüllen könnten. Am Ende gehen leider oftmals beide Teile des Bandes, die Performance-Geschichte und die Theorie-Diskussion, etwas lädiert aus dem Clinch hervor.

Fraglich ist auch, ob die Theorie Luhmanns tatsächlich soviel Licht werfen kann auf die Geschichte der Performance und nicht eine Betrachtung der Genese einzelner, repräsentativ ausgewählter Performances hätte mehr erhellen können. Ein alternativer Titel der Arbeit wäre denn auch: >Happening und Performance im Lichte der Theorie sozialer Systeme Niklas Luhmanns betrachtet<. Durch diese Konzentration werden nun aber auch die kritischen Seiten an Luhmanns Theorie erkennbar, so vor allem der teilweise unerträgliche begriffliche Atomismus, der jede Leserin und jeden Leser oft ratlos zurücklassen muss, der sich mit den nominalistischen Definitionen Luhmanns nicht zufriedengeben will, sondern sich fragt: Korrespondiert diesen Begriffen tatsächlich eine Erfahrung in unserer Lebenswelt? Eine Erweiterung oder auch nur Anreicherung der luhmannschen Fragestellungen um solche aus den Kulturwissenschaften, etwa den Studien von Pierre Bourdieu oder Wolfgang Ruppert zum Feld der Kunst und dem Habitus der Künstlerfigur in der Moderne, sowie der Einbezug von Studien der Cultural Studies über die Geschichte der Subkulturen, hätte eine breitere Basis für diese Untersuchung legen können — vielleicht aber weist sie auch nur den künftigen Forschungsweg für eine interdisziplinäre Performance-Forschung, die trotz aller Bedenken auf der beeindruckenden Studie von Thomas Dreher aufbauen kann.


Dr. phil. Holger Schulze
Universität der Künste Berlin
FAKT — Fabrikation, Architektur, Konstruktion, Technologie
Hardenbergstraße 33
D-10623 Berlin
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Ins Netz gestellt am 22.01.2002
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Anmerkungen

1 Sabine Sanio: Alternativen zur Werkästhetik. Untersuchungen zum Werk von John Cage und Helmut Heißenbüttel. Saarbrücken : Pfau 1999.   zurück

2 Michael Backes: Experimentelle Semiotik in Literaturavantgarden. Über die Wiener Gruppe mit Bezug auf die Konkrete Poesie. München: Fink 2000.   zurück

3 Oliver Jahraus: Die Aktion im Wiener Aktionismus. Subversion der Kultur und Dispositionierung des Bewußtseins, München: Fink 2000.   zurück