Schumann über Schmidt: Reisen in die Moderne

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Andreas Schumann

"Die Wilhelminer" in Amerika

Kurzrezension zu
  • Alexander Schmidt: Reisen in die Moderne. Der Amerika-Diskurs des deutschen Bürgertums vor dem Ersten Weltkrieg im europäischen Vergleich. Berlin: Akademie-Verlag 1997. 328 S. Geb. 98,-.
    ISBN 3-05-002859-9.


Die vorliegende Arbeit ist die leicht überarbeitete Druckfassung einer am Fachbereich Geschichtswissenschaften der Freien Universität Berlin 1994 eingereichten und von Hartmut Kaelble betreuten Dissertation, deren ursprünglicher Titel die Fragestellung der Arbeit etwas deutlicher umreißt als derjenige des Buches, wenn man das beinahe gattungsspezifische "Ein Beitrag zu..." wegläßt: Die Wilhelminer in Amerika. Ein Beitrag zur gesellschaftlichen Fremd- und Selbstwahrnehmung des deutschen Bürgertums im internationalen Vergleich (1890-1914).

Schmidt gelingt eine bemerkenswerte mentalitätengeschichtliche Studie, die durch das Nachspüren einer "mehrfachen Wahrnehmung" einen spannenden Zugriff auf bürgerliches Selbstverständnis um die Jahrhundertwende erlaubt. Reiseberichte deutscher Amerika-Reisender werden mit zeitgleichen französischen und englischen Texten verglichen. Die Quellenbasis umfaßt über 100 deutsche und etwa 30 englische bzw. französische Bücher, deren Erscheinungsjahre zwischen 1890 und 1914 liegen. Aus diesen Blicken auf das fremde Land lassen sich Rückschlüsse auf die soziale, ökonomische und nationale Selbstverortung der bürgerlichen Reisenden ebenso ziehen, wie ein kontrastierender Blick auf die diversen bürgerlichen Eigenbilder in verschiedenen europäischen Ländern ermöglicht wird.

Diese Fremdbilder werden in sieben Kapiteln thematisch aufgeschlüsselt. Die amerikanischen Sozialstrukturen, die Ökonomie, die aufgefundenen Mentalitäten, Geschlechterrollen, Bildungsinstitutionen und die "Erfahrung der Großstadt" münden in einem Vergleich der Wahrnehmung der beiden Kontinente. Mit vielen Quellenzitaten wird in jedem Kapitel eine Basis geschaffen, die jeweils diachron und synchron auf die bürgerlichen Selbstbilder hin interpretiert werden kann. Diese zunächst stereotyp in jedem Kapitel wiederholte Vorgehensweise wirkt jedoch bei der Lektüre nicht ermüdend, sondern erlaubt eine hohe Konzentration auf die Eigentümlichkeiten der Reiseberichte und der jeweils angesprochenen Themen.

Aufschlußreich ist vor allem, daß die hier vorgeführten Stimmen wenig von zeitgenössischer Modernitätsfeindschaft, Zivilisationskritik oder Fortschrittsverweigerung zeugen, wie sie die intellektuell geprägte Heimatkunst-Debatte im Deutschland um 1900 gerne propagierte und damit in die Nähe einer frühen völkischen Bewegung gelangte. Vielmehr verlagert sich der Schrecken vor dem Fremden (deutlich vor allem im Kapitel zur Großstadtwahrnehmung, S.242-266) immer mehr hin zu einer Faszination des Neuen und Funktionalen in der amerikanischen Lebensweise.

Für den Literaturwissenschaftler sind vor allem die verstreuten Anmerkungen zu den Amerika-Reiseberichten von Arthur Holitscher, Ludwig Fulda, Wilhelm von Polenz und Ernst von Wolzogen ergiebig; diese Werke erfreuten sich vor dem Ersten Weltkrieg recht großer Beliebtheit. Mit ihnen kann der Verf. anschaulich belegen, daß die zeitgenössischen Amerika-Bilder (so sie denn auf eigener Anschauung und Erfahrung beruhen) beileibe nicht nur die Stereotypien vom Land der Freiheit, des Fortschritts, der Zukunft etc. (S. 36) oder jene fortschritts- und zivilisationskritischer Provenienz reproduzieren – gerade die Zwischentöne, die Abweichungen von Vorurteilen ermöglichen eine Funktionalisierung der Reiseerlebnisse in Hinblick auf die Selbstbilder der "Wilhelminer": Was könnte in den eigenen Sozial-, Staats- und Wirtschaftsentwurf nach dem Vorbild Amerikas eingebaut werden, was wird als völlig inkompatibel erfahren? Zwar überwiegen negative Bewertungen, vor allem gegenüber dem Phänomen Großstadt, das offene amerikanische Bildungssystem wie auch die Durchlässigkeit traditioneller Standesschranken wurden jedoch durchaus als Vorzüge gegenüber den Verhältnissen im "alten Europa" betrachtet. Gerade mit diesen Passagen ist es Schmidt gelungen, seinem Ziel gerecht zu werden, über Fremdbilder die Selbstwahrnehmungen in der zeitgenössischen Gesellschaft zu rekonstruieren.

Eine Kritik, die allerdings nicht auf den Verf. zielt, sondern auf mangelnde Betreuung durch ein Lektorat, bleibt anzufügen Die einleitenden ca. 90 Seiten Forschungsstanddiskussion und ausufernden methodischen Eingrenzungen sind nicht nur mühsam zu lesen. Sie erscheinen auch überflüssig, da sie nichts Neues bringen, nur bekannte historiographische Positionen bestimmen und die Kenntnisse der Bürgertums-, Mentalitäten und Modernisierungsforschung zusammenfassen. Der unversitäre Usus, einen solchen legitimatorischen und absichernden Passus in einer Prüfungsarbeit zu verlangen, mag durchaus vernünftig sein. Einzig die notwendigen Bemerkungen zur Art der Quellen und zu den Sozialprofilen der Autoren sind hier aufschlußreich – letztere werden allerdings im weiteren Verlauf der Arbeit noch öfter diskutiert. In der endgültigen Buchfassung ist die Einleitung eine unerquickliche Dreingabe für die interessierte Leserschaft, die dem Buch zu wünschen ist und die hoffentlich zahlreich sein wird.


PD Dr. Andreas Schumann
Ludwig-Maximilians-Universität München
Institut für deutsche Philologie
Schellingstraße 3
D-80799 München

Ins Netz gestellt am 10.07.2001
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