Schwerhoff über Berns/Rahn (Hg.): Zeremoniell als höfische Ästhetik in Spätmittelalter und Früher Neuzeit

Gerd Schwerhoff

Jörg Jochen Berns/Thomas Rahn (Hg.): Zeremoniell als höfische Ästhetik in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. (Frühe Neuzeit 25) Tübingen 1995. 821 S. Kart. DM 282,-.



Bei dem anzuzeigenden Band handelt es sich um ein im wahrsten Sinne des Wortes gewichtiges Werk. Seine über 800 Seiten enthalten 28 Beiträge und 117 leider separat am Ende plazierte Abbildungen, deren Benutzung zusätzlich durch die Trennung von Legende und Bild erschwert wird. Das Buch bietet Ergebnisse eines interdisziplinären Marburger Symposions vom Frühjahr 1993, dessen Konzept im Umfeld des DFG-Graduiertenkollegs "Kunst im Kontext" entwickelt wurde. Verfaßt wurden diese Beiträge von Vertretern unterschiedlichster Disziplinen, insbesondere von Literaturwissenschaftlern, Kunsthistorikern und Geschichtswissenschaftlern. Vor- und Nachteile interdisziplinärer Kooperation lassen sich an dem vorliegenden Band ablesen. Die Diskussionen über die Themenkomplexe "Zeremoniell" und "Hof" sind in allen Wissenschaftsdisziplinen in den letzten Jahren weit fortgeschritten, doch gehen sie nicht immer in die gleiche Richtung. Unweigerlich stellen sich deswegen Sprach- und Vermittlungsprobleme ein, denn wenn Historiker und Literaturwissenschaftler über Zeremoniell oder Hof sprechen, so beziehen sie sich bei weitem nicht immer auf die nämlichen Phänomene. Gerade deswegen bedürfte ein Band wie der vorliegende analytischer Leitkategorien, um die einzelnen Diskussionsstränge aufeinander zu beziehen und um zu einer wirklichen interdisziplinären Kommunikation anzuregen. Genau das aber wurde versäumt: Das Vorwort liefert lediglich eine "Aufzählung von Themenkomplexen und Problemfeldern", die nicht mehr darstellt als eine Stichwortliste des Machbaren; sie ist nicht in der Lage, gemeinsame Interessen zu bündeln. Der Schlußbeitrag von Jörg Jochen Berns und Thomas Rahn über "Zeremoniell und Ästhetik" ist nicht dazu angetan, diesen Mangel zu beheben; er will lediglich "ein paar unvorgreifliche Überlegungen zu einigen Problempunkten" formulieren, bietet mithin nicht mehr und nicht weniger als einen eigenen Spezialbeitrag.

Da die 28 Beiträge nicht weiter in Sektionen oder Abteilungen untergliedert sind, stellt es für den Leser ein Abenteuer ganz eigener Art dar, sich in den Textmassen zu orientieren. Lediglich am Anfang und am Ende des Bandes gruppieren sich einige Beiträge zwanglos um ein thematisches Zentrum. Die ersten Beiträge beruhen mehr oder weniger zentral auf dem Quellenfundus der frühneuzeitlichen Zeremonialwissenschaft, wie sie sich in den monumentalen Werken von J. B. Rohr (Zeremoniellwissenschaft 1728/29), Johann Christian Lüning (Theatrum ceremoniale 1719/20) oder Friedrich Karl Moser (Teutsches Hof- = Recht 1754/55) darstellt. Wolfgang Weber beschreibt Rohrs Zeremonialwissenschaft als "umfassende praktische Klugheitslehre", die auf gesamtgesellschaftliche Integration und auf Fremd- und Selbstdisziplinierung ziele und die sich damit als "wichtiger intentionaler Quellenbeleg" gleich für drei gesellschaftliche Großtheorien (nämlich die Sozialdisziplinierungsthese von Oestreich, die Zivilisationstheorie von Elias und das Rationalisierungskonzept von Weber) erweise. Volker Bauer thematisiert das Spannungsverhältnis zwischen demonstrativem Konsum im Zeremoniell und dem rational-sparsamen Wirtschaftsethos der Kameralisten. Andreas Gestrich untersucht die Herkunft und die Ausformung der Vorstellung von der Dummheit und Sinnlichkeit des Volkes als notwendiges Pendant zum Hofzeremoniell. Thomas Rahn thematisiert aufgrund der zeremonialwissenschaftlichen Schriften die Psychologie des Zeremoniells, wobei sich das Fehlen einer explizierten Fragestellung besonders schmerzhaft bemerkbar macht. Markus Bauer schließlich handelt über das Zeremoniell der Resignation als ein außergewöhnlicher Testfall für die Leistungsfähigkeit des Zeremoniells in Zeiten politischer Krise; seine Beispiele sind die Abdankung des polnischen Königs Johann Kasimir 1668, des Kaisers Karl IV. 1555 sowie der schwedischen Königin Christina 1654. Ein zweiter Schwerpunkt behandelt das Krönungszeremoniell des deutschen Reiches. Dem Mittelalter gewidmet ist dabei nur der Beitrag von Joachim Ott, der den Mainzer Ordo von 960 und das Sakramentar Heinrichs II. vom Anfang des 11. Jhs. in den Mittelpunkt seiner Erörterungen stellt. Drei andere Beiträge beziehen sich auf die Umbruchsperiode vom 17. zum 18. Jh.: Manfred Beetz beschäftigt sich mit Goethes Darstellung der Wahl und Krönung von Kaiser Joseph II. 1764 in "Dichtung und Wahrheit"; Rolf Haser mit der Rezeption des Zeremoniells der beiden letzten deutschen Kasiserkrönungen in Frankfurt durch die Spätaufklärung und die Frühromantik; und Günter Oesterle analysiert die Kaiserkrönung Napoleons 1804. Deutlich wird, wie sehr gerade in dieser Umbruchsperiode das Krönungszeremoniell offen ist für neue Sinngebungen und Instrumentalisierungsversuche.

Die übrigen Beiträge lassen sich kaum strukturieren oder systematisieren. Allenfalls thematische Knotenpunkte sind auszumachen. So ist etwa den Beiträgen von Gottfried Kerscher (Das mallorquinische Zeremoniell am päpstlichen Hof) und Christina Hofmann-Randall (Die Herkunft und Tradierung des burgundischen Hofzeremoniells) die Frage nach der Genealogie des europäischen Hofzeremoniells gemein, wobei sie tendenziell unterschiedliche Antworten geben. Mit zwei Beispielen der zeremoniellen Bewältigung von Begräbnisfeiern beschäftigen sich Paulette Choné (Begräbnis des lothringischen Herzogs Karl III. in Nancy 1608) und Jill Bepler (Begräbnis des braunschweigischen Herzogs Johann Friedrich 1680). Literarische Imaginationen des höfischen Zeremoniells sind das Thema von Jörn Bockmann, der mit einem sehr weiten Zeremoniellbegriff die verschiedenen Fassungen des "Veilchenschwankes" in der Neithart-Tradition betrachtet, und von Wolfgang Neuber, der sich mit dem Festspiel "Der vermeinte Prinz" von 1660 beschäftigt. Einige Aufsätze widmen sich der Analyse von Bildern: Birgit Franke untersucht Tapisserien am burgundischen Hof mit Motiven aus dem alttestamentarischen Buch Esther, das sich thematisch besonders als Spiegel des zeitgenössischen höfischen Lebens eignete; und Wolfgang Brassat analysiert die Tapisserien der Histoire du Roy, die ab 1665 nach Entwürfen von LeBrun geschaffen wurden, um mit Ludwig XIV. zum ersten Mal einen lebendigen König zu verherrlichen. In doppelter Hinsicht versucht Friedrich Polleroß eine kunsthistorische Typologie des Zeremonialporträts in der frühen Neuzeit: Zum einen geht er Hinweisen auf das Zeremoniell in Bildern nach (etwa in Thronfolgerporträts oder in der Darstellung von Verlobten und Brautpaaren, die auf Huldigungen bzw. Trauungsakte verweisen); zum anderen untersucht er Porträts auf ihren konkreten Platz im Zeremoniell (etwa in Zusammenhang mit zeremoniellen Geschenken von Bildern bei der Brautwerbung oder von Porträts als Effigies verstorbener Personen in Trauerfeiern). In mehreren Beiträgen wird das Spannungsverhältnis zwischen Hof und Kirche, zwischen profanen und sakralen Räumen, zwischen Zeremoniell und Liturgie thematisiert - eine naheliegende Querverbindung, wenn man im höfischen Zeremoniell mit Volker Bauer (S. 25) eine Sakralisierung des höfischen Raumes bzw. der fürstlichen Herrschaft realisiert sieht. So unternimmt Ulrich Schütte den reizvollen Ansatz zu einem strukturellen Vergleich zwischen dem höfischen Zeremoniell und dem sakralen Kult in der Architektur des 17. und 18. Jhs. Seine Beobachtungen treffen sich mit den Ergebnissen von Jörg Jochen Berns' Studie über Luthers Papstkritik als Zeremoniellkritik. Berns macht deutlich, daß die scharfe Kritik des Reformators an der katholischen Messe vor dem weltlichen Repräsentationszeremoniell des Fürsten haltmacht. Teile der Schloßarchitektur und des frühneuzeitlichen Hofzeremoniells, so Schüttes Befund, folgten Traditionen, die innerhalb der katholischen Sakralarchitektur aus- und vorgebildet waren. Umgekehrt wurden aber die reformatorische Liturgiekritik und die tendentielle Entsakralisierung des Kirchenraumes an den protestantischen Höfen nicht unbedingt nachvollzogen; das Hofzeremoniell erwies sich also den neuen religiösen Vorgaben gegenüber als resistent. In umgekehrter Weise untersucht Ursula Brossette das Verhältnis zwischen Hofzeremoniell und religiöser Liturgie, indem sie sich mit der Zeremonialisierung des transzendenten Geschehens bei Konsekrationen und Heiligentranslationen des 17. und 18. Jhs. beschäftigt. Die Liturgie wird dabei als ein - in Analogie zum Hof geformtes - Repräsentationsschauspiel deutlich, dessen propagandistische Züge sich die Gegenreformation nutzbar machen konnte.

In einer Art Ährennachlese bleiben schließlich jene Beiträger und Beiträgerinnen zu nennen, die mit ihrem Thema alleine stehen. Andrea Sommer-Mathis führt uns in die Welt der Rang- und Sitzordnungen bei theatralischen Veranstaltungen am Wiener Kaiserhof im 17. und 18. Jh. Cornelia Jöchner untersucht den Zusammenhang zwischen Zeremoniell und Raum am Beispiel der Barockgärten. Georg Braungart beschäftigt sich mit der höfischen Rede im zeremoniellen Ablauf. Uta Löwenstein gibt eine anschauliche Schilderung der Voraussetzungen und Grundlagen des Tafelzeremoniells. Claudia Schnitzer schließlich vermittelt in ihrem umfangreichen Beitrag faszinierende Einblicke in höfische Verkleidungsbankette, bei denen die Hofgesellschaft in anderen Rollen zusammenkam, die ihnen per Los zugewiesen worden waren: Kreiert wurden so alternative Königreiche oder sog. >Wirtschaften<, bei denen das Herrscherpaar als einladende >Wirte< ihre Hofgesellschaft in der Verkleidung von Bauern oder Bürgern empfing.

Aufgrund dieser kurzen Charakterisierungen mögen Vor- und Nachteile des vorliegenden Bandes deutlich geworden sein. Die Suche nach einem roten Faden, nach stringenten methodischen Erörterungen oder Begriffsdefinitionen endet oft mit einer Enttäuschung, und insofern wird das Durcharbeiten des Bandes zu einem mühsamen Abenteuer. Wie fruchtbar ein wenig mehr begrifflich-definitorische Anstrengung sein kann, demonstriert als einer von wenigen der Beitrag von Georg Braungart, den die scheinbar paradoxe Frage nach dem Platz der Rede im Zeremoniell zu anregenden konzeptuellen Überlegungen zur Unterscheidung von >Ritual< und >Zeremoniell< führt. Daneben überzeugen mich methodisch und inhaltlich vor allem jene Beiträge, die mit dem Mittel des Vergleichs arbeiten. Neben dem Aufsatz von Ulrich Schütte sei hier besonders noch einmal derjenige von Volker Bauer hervorgehoben. Er setzt drei unterschiedliche zeitgenössische Diskurse miteinander in Verbindung: denjenigen der Zeremonialwissenschaft, die er als eine spezifische Frucht der zersplitterten und dezentralen höfischen Welt in Deutschland erweist und die den Nutzen und die Berechtigung des Hofes thematisiert; denjenigen des Kameralismus, der die Belastungen und die ökonomischen Irrationalitäten des Hofes diskutiert; schließlich denjenigen der Hausväterliteratur als einer vermittelten Gattung. Bis Mitte des 18. Jhs. läßt sich im Schnittpunkt dieser drei Diskurse eine Hegemonie des Zeremoniellen nachweisen; die ökonomischen Argumente können nur vorsichtig und beschränkt angebracht werden. Danach verlor das Paradigma der zeremoniell vermittelten Repräsentation an Überzeugungskraft. Natürlich würden auch viele andere der angezeigten Beiträge eine nähere Darstellung und Auseinandersetzung lohnen. Wenn man auf das schwere Marschgepäck leitender Fragen und begrifflicher Anstrengung verzichtet und das mühsame Abenteuer eher als lustvolle Entdeckungsreise angeht, dann kann die Lektüre des vorliegenden Bandes streckenweise durchaus lehrreich und vergnüglich sein.



PD Dr. Gerd Schwerhoff
Universität Bielefeld
Fakultät für Geschichtswissenschaften und Philosophie
Postfach 100 131
D-33501 Bielefeld

Ins Netz gestellt am 02.02.1999.

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