Seidel über Geiß: Petrarca in Deutschland

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Robert Seidel

Petrarca in Deutschland

Jürgen Geiß untersucht die Rezeption
des italienischen Frühhumanisten
auf der Grundlage von 2000 Druckexemplaren

  • Jürgen Geiß: Zentren der Petrarca-Rezeption in Deutschland
    (um 1470–1525). Rezeptionsgeschichtliche Studien und Katalog der lateinischen Drucküberlieferung. Wiesbaden: Dr. Ludwig Reichert Verlag 2002. XV / 481 S. Kart. Euro (D) 72,-.
    ISBN 3-89500-271-2.


Die bei Franz Josef Worstbrock entstandene Münchner Dissertation 1 hat sich zum Ziel gesetzt, die Rezeption der gedruckten lateinischen Schriften Petrarcas innerhalb des deutschen und niederländischen Sprachgebietes bis in die zwanziger Jahre des 16. Jahrhunderts zu ermitteln, zu dokumentieren und sowohl aus genuin buchgeschichtlicher wie aus kulturhistorischer Perspektive im weiteren Sinne zu analysieren.

Geiß begründet die diversen Eingrenzungen seines Untersuchungsfeldes recht plausibel, wenn er etwa darauf hinweist, daß "Petrarcas Dichtungen im Volgare im deutschen Sprachraum bis in das 16. Jahrhundert hinein praktisch unbekannt blieben" (S. 2) oder daß es "im Zusammenhang mit der Durchsetzung der Reformation" zu einer "radikalen Veränderung auf dem Markt gedruckter Bücher" kam, die einen "Einbruch eigenständiger Petrarca-Ausgaben" herbeiführte (ebd.). Die im Titel angedeutete, etwas vage formulierte Beschränkung des Rezeptionsgebietes betrifft allerdings nur die kulturhistorische Auswertung des ermittelten Materials, nicht dessen Dokumentation: Die italienischen und französischen Frühdrucke von Petrarcas lateinischen Schriften – insgesamt von geringer Anzahl – sind sehr wohl erfaßt (s. S. 139) und nach denselben buchgeschichtlichen Kriterien (s.u.) beschrieben wie die im Reichsgebiet erschienenen Ausgaben.

In einem einführenden Kapitel (S. 1–16) wirft Geiß zunächst einen vergleichenden Blick auf die Geschichte der handschriftlichen Petrarca-Rezeption in Deutschland vor und während der im Hauptteil untersuchten Epoche. Die vom Autor allenthalben beklagte und von ihm selbst – aus verständlichen Gründen – nicht zu behebende Lückenhaftigkeit der Handschriftenforschung läßt freilich eine systematische Parallelanalyse der Rezeption Petrarcas in den beiden Überlieferungsmedien nicht zu. Gleichfalls nicht zusammenhängend analysiert wird der Umstand, daß im Untersuchungszeitraum nur ein Teil des "Petrarca Latinus" überhaupt zum Druck gelangte, wie denn generell die Ermittlung von "Differenzen zwischen dem Rezeptionsverhalten zu einzelnen Texten in Abhängigkeit von ihrer medialen Präsentation" (S. 122) dem Autor als wichtiges Forschungsdesiderat gilt.

Wichtiger für den Gang der Argumentation sind die methodologischen Vorüberlegungen des Autors, die darauf abzielen, seinen kulturhistorischen Ansatz zu untermauern, indem sie etwa die Wechselbeziehung von "Druckgeschichte" und "Gebrauchsgeschichte" in Anschlag bringen oder das "verlegerische Umfeld" und den "inhaltlichen Stellenwert von Petrarca-Drucken in zeitgenössischen Sammelbänden" (S. 15) als relevante Untersuchungsgegenstände herausstreichen. In diesen disziplinenübergreifenden, empirischen Fragestellungen liegt das Potential der Arbeit begründet, zugleich aber auch ein Aufwand an positivistischer Detailforschung, der bei einem Einpersonenunternehmen kaum genug gewürdigt werden kann.

Rezeptionsgeschichte:
Druckerzentren, Provenienzen, Sammelüberlieferung

Nachdem Geiß sich in einem kurzen Abschnitt zu Albrecht von Eyb (S. 17–27) zunächst nochmals der handschriftlichen Überlieferung zugewendet und hier stellvertretend "für die frühe Form deutscher Petrarca-Rezeption [...] die Neigung zur Exzerptüberlieferung sowie zur Überlieferung in Sammelhandschriften" (S. 26) konstatiert hat, handelt er in den fünf zentralen Kapiteln des Darstellungsteils
(S. 27–118) systematisch die an den Druckorten festzumachenden Zentren der Vermittlung des italienischen Frühhumanisten ab: Im süddeutschen Raum sind dies die Reichsstädte Straßburg, Ulm und Augsburg; im Nordwesten bilden der Niederrhein, Westfalen sowie die Niederlande einen von kirchenreformerischen Tendenzen (>Devotio moderna<) und humanistisch inspirierten Schulgründungen geprägten, für die Texte Petrarcas besonders aufnahmebereiten Wirkungsraum; dazu kommen Leipzig als genuin akademisches Vermittlungszentrum und schließlich Basel, wo 1496 die erste (vorläufige) Gesamtausgabe der Opera Latina gedruckt wird.

Die einzelnen Kapitel sind in sich locker chronologisch und nach Überlieferungsfiliationen gegliedert, Druck- und Gebrauchsgeschichte werden je nach Quellenlage knapper oder ausführlicher berücksichtigt. Die Dominanz der buch- und kulturgeschichtlichen Fragestellungen zeigt sich darin, daß selbst zu den kleineren Schriften Petrarcas kaum inhaltliche oder literarhistorische Informationen gegeben werden, auch zu einzelnen Verlegern, Übersetzern, Herausgebern oder Besitzern werden nur elementarste Angaben gemacht. Wenn Geiß in komplizierteren oder besonders gut dokumentierten Einzelfällen von diesem Prinzip abweicht – etwa bei dem Straßburger Frühhumanisten Sigismund Gossembrot
(S. 29–31), dem Erfurter Magister Konrad Schechteler (S. 62 f.) oder Thomas Pentzelt in Leipzig (S. 95 f.) –, tritt das kulturpolitische, gelehrte, pädagogische oder auch merkantile Engagement als Movens der Petrarca-Rezeption schlaglichtartig hervor.

Das Bild von Petrarca als einem Autor, der zwischen Mittelalter und Renaissance, zwischen Weltflucht und Daseinsfreude, zwischen "christlicher Religiosität" und "humanistischer Leidenschaft" (Worstbrock) stehe und beide Tendenzen symbiotisch zusammenzuführen strebe, liegt auch Geißens Untersuchung der Rezeption Petrarkischer Schriften zugrunde, geht es doch immer wieder darum zu sehen, in welchem funktionalen Kontext eine bestimmte Ausgabe rezipiert worden ist. Exemplarisch läßt sich dies an den Traktaten Secretum de contemptu mundi, De vita solitaria und De remediis utriusque fortunae ablesen, die kurz nach 1470 in Straßburg zum ersten Mal gedruckt wurden und von denen sich zahlreiche Exemplare in zeitgenössischen Sammelbänden erhalten haben. Anhand dieser >Kontextüberlieferung< kann Geiß das Rezeptionsinteresse der Besitzer, auf deren Betreiben die Zusammenstellung der Bände ja jeweils zurückgeht, ermitteln. Im Falle der drei Traktate zeigt sich nun, daß das "Rezeptionsprofil" der Besitzer teils "humanistisch", teils "religiös geprägt" war (S. 36).

Beide Sammel- und Lektüremotive können in bestimmten Fällen noch spezifiziert werden, so etwa finden sich die Leipziger Drucke (durch geringen Umfang und Zeilendurchschuß häufig schon als Schulausgaben qualifiziert) nicht selten mit Ausgaben aus dem Umfeld des humanistischen Lehrbetriebs zusammengebunden. Bisweilen gelangt Geiß bei der Interpretation der Kontextüberlieferung zu sehr weitreichenden Schlußfolgerungen, wenn er etwa aus der Kombination einer Auswahlausgabe aus De remediis mit Schriften aus dem akademischen Trivium und Quadrivium "eine funktionale Bindung dieser Form humanistischer Rezeption an den artistischen Schulunterricht" konstatiert und fortfährt:

In den Sammelbänden fehlen jedoch die elementaren Lehrbücher zur Logik. Somit kann man vermuten, daß der humanistische Unterricht, innerhalb dessen auch Petrarcas Remedia rezipiert wurden, zwar von den Magistern der Artistenfakultät vermittelt wurde, aber außerhalb der offiziellen universitären Lehrveranstaltungen in Form von Privatkollegs stattfand. (S. 93)

Ein Meilenstein
der Überlieferungsgeschichte:
Die Basler Ausgabe der Opera Latina von 1496

Die ausführliche Analyse von Entstehung, Struktur und Verbreitung der Basler Sammelausgabe von 1496 vermittelt einen Eindruck von dem verlegerischen und philologischen Ehrgeiz, den eine Reihe von renommierten Frühhumanisten beim Zustandekommen der Ausgabe an den Tag legte (Johann Amerbach, Sebastian Brant, Jakob Wimpfeling, Johannes Trithemius u.a. hatten maßgeblichen Anteil). So gab man sich nicht etwa mit der Kompilation früherer Einzeldrucke zufrieden, sondern bemühte sich um die zuverlässigsten und vollständigsten handschriftlichen und gedruckten Textzeugen, um "konsequent ein differenziertes Profil des Humanisten Petrarca als Dichter, Moralphilosoph und Historiker" (S. 111) liefern zu können. Der mit mehreren Indices und ausführlichen Inhaltsverzeichnissen zu den einzelnen Schriften versehene Band "übertraf [...] in der Qualität seiner Benutzbarkeit und textlichen Verläßlichkeit alle bisher gedruckten Ausgaben" (ebd.).

Gleichwohl war den Herausgebern der Zugang zu zahlreichen Handschriften verwehrt, und durch diese ungleichmäßige Repräsentation der Texte blieb "das Autorbild der Basler Ausgabe [...] von der für die deutsche Rezeption typischen Vorstellung eines Dichters bestimmt, der sich aus der Welt zurückgezogen hatte, um sich in der Einsamkeit als Schriftsteller Ruhm und gleichzeitig das ewige Leben zu verdienen" (S. 115). Erst zwei italienische Ausgaben der Jahre 1501 und 1503, die auf der Amerbachschen Edition aufbauten, konnten durch die Aufnahme mehrerer nördlich der Alpen bis dahin unbekannter Texte (zahlreiche Briefe, autobiographische Schriften, Invektiven usw.) ein nahezu vollständiges Bild des lateinischen Petrarca vermitteln. Das Interesse an Petrarca als Autor, als >exemplum< eines in humanistischem Geist geführten Lebens war freilich schon in der Frühdruckphase mit Rudolf Agricolas Vita Petrarchae (Pavia 1473 / 74) geweckt worden (S. 125 und passim).

Der darstellende Teil von Geißens Studie endet mit einem abschließenden Kapitel Ergebnisse und Ausblick (S. 119–125), das den Schwerpunkt auf das den Autor offenkundig faszinierende Phänomen der Kontextüberlieferung legt, aus der sich in der Tat detailgenaue Einblicke in das zeitgenössische Rezeptionsverhalten ergeben. Man mag der Erkenntnisfreude entgegenhalten, daß die Analysen vielfach auf das wenig überraschende Konzept der typisch humanistischen >litterata pietas< hinauslaufen, wenn man etwa auf "Fälle pädagogischer Rezeption" stößt, "die lateinische Sprachfertigkeit über moralphilosophische oder religiöse Texte Petrarcas vermittelten" (S. 123), oder wenn gar eine häufige "Affinität der Rezipienten zum Humanismus" konstatiert wird, dem sich dann freilich "sowohl Welt- und Ordenskleriker als auch stadtbürgerliche Laien" (S. 122) verbunden gefühlt hätten. Auch die in den Sammelbänden begegnende "Vermischung von Texten des italienischen Humanismus mit frömmigkeitstheologischer, moralischer, pädagogischer und stilistischer Literatur deutscher und niederländischer Provenienz" (ebd.) überrascht kaum, wenn man bedenkt, daß die Vermittlung Petrarcas maßgeblich geprägt war durch Figuren wie den "von den Vorstellungen einer humanistischen Bildungsreform und vom religiösen Denken der Devotio moderna gleichermaßen beeinflußte[n] Schulrektor [Alexander] Hegius" in Deventer (S. 53).

Gleichwohl weisen die zusammenfassenden Bemerkungen den Weg, auf dem sich die Ergebnisse dieser detailreichen Studie fruchtbar machen lassen: So könnten etwa regionalhistorische Studien die "Pädagogisierung einzelner Schriften [Petrarcas] für den humanistischen Unterricht in Deventer und Leipzig" (S. 123) reflektieren oder könnte die Universitätsgeschichte "das humanistische Profil deutscher Petrarca-Rezeption" im Lichte "der kritischen Distanz ihrer Träger zum scholastischen Wissenschaftsdiskurs der Zeit" analysieren (S. 123 f.).

Auch die Negativbefunde wären interdisziplinär auszuwerten: Wenn um 1500 (pseudo-)petrarkische Schriften gedruckt wurden, "die sich wegen ihres kirchenkritischen Inhalts gerade für eine reformatorische Rezeption angeboten hätten", später aber selbst reformatorisch geprägte Rezipienten "eine Verbindung zwischen Petrarca und den reformatorischen Themen nicht gesucht" haben (S. 124), wäre nach den komplexen Gründen für diesen fehlenden Konnex zu fragen. Daß bei der von Geiß propagierten Analyse der Kontextüberlieferung, die ja im einzelnen von Zufällen bestimmt sein kann, grundsätzlich die Gefahr der Überinterpretation droht und daher stets ein besonders behutsames Vorgehen geboten ist, versteht sich von selbst.

Grundlage interdisziplinärer Forschung:
Ein beschreibender Katalog
der Druck- und Kontextüberlieferung

Der Katalog der lateinischen Drucküberlieferung (S. 137–422) liefert eine erschöpfende Dokumentation aller 88 im Untersuchungszeitraum erschienenen Ausgaben, indem er nicht nur rund 2000 (!) ermittelte Exemplare – viele davon aufgrund von Autopsie – beschreibt, sondern auch die Kontextüberlieferung minuziös nachweist. Über die von Geiß selbst herausgearbeiteten Grundzüge der Petrarca-Rezeption hinaus lassen sich auf der Basis dieses Kataloges viele Einzelfragen aus den unterschiedlichsten Disziplinen bearbeiten oder zumindest in Angriff nehmen. Von der detaillierten Analyse eines mit Glossen und Textbesserungen versehenen Einzelexemplars (vgl. etwa das schöne Dokument studentischen Engagements, S. 64 und 212, Katalog Nr. 7.2) über die vergleichende funktionsgeschichtliche Untersuchung repräsentativer Sammelbände bis zur statistischen Auswertung ganzer Überlieferungskontexte sind die unterschiedlichsten Nutzungsmöglichkeiten dieses gewaltigen Datenmaterials denkbar.

Aus buchgeschichtlicher Perspektive dürften alle Anforderungen an eine adäquate Beschreibung erfüllt sein: Jede Ausgabe ist nach den Kriterien des Gesamtkatalogs der Wiegendrucke zuverlässig beschrieben, zu jedem einzelnen Exemplar werden neben dem Bibliotheksstandort Angaben zur Provenienz (sofern der zeitgenössische Besitz zu dokumentieren ist), zu Rezeptionsspuren (Rubrizierung, Glossierung, Textbesserungen usw.) und zur Bindung (besonders wertvoll hier die detaillierte Auflistung der beigebundenen Ausgaben) gemacht. Die druckgeschichtliche Literatur – allerdings nur diese – ist gleichfalls ausführlich nachgewiesen.

Die Benutzung des Bandes wird durch eine sehr übersichtliche Gestaltung des Kataloges und durch Register der Druckorte wie der Provenienzen (dreiteilig: Personen, Institutionen, Regionen und Orte) erleichtert. Zu bedauern ist, daß nicht auch die übrigen Personennamen (Verleger, Herausgeber, Autoren der in den Sammelbänden mitüberlieferten Werke usw.) in einem Register verzeichnet sind.

Fazit

Das Gesamturteil über die Studie kann nicht anders als positiv ausfallen, wenn man neben dem plausiblen Aufbau und dem um Verständlichkeit bemühten Stil vor allem die Gründlichkeit bei der Bewältigung des schier unüberschaubaren Materials berücksichtigt. Wenn es im Verlauf der Darstellung gelegentlich zur Artikulation von Selbstverständlichkeiten kommt, so ist dies die Folge davon, daß für den soliden Philologen alle mühsam ermittelten Sachverhalte zunächst einmal denselben Stellenwert haben, unabhängig davon, wie spektakulär sie im kulturhistorischen Gesamtkontext sind. Der Band versteht sich denn auch in erster Linie als ein Arbeitsinstrument, auf welchem monographische Studien unterschiedlichster Ausrichtung aufbauen können.


PD Dr. Robert Seidel
Germanistisches Seminar der Universität Heidelberg
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Ins Netz gestellt am 11.01.2003
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Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Dr. Gernot M. Müller. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Karoline Hornik.


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Anmerkungen

1 Vgl. Franz Josef Worstbrocks instruktiven Petrarca-Artikel in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Hg. v. Kurt Ruh u.a., Bd. 7. Berlin, New York 1989, Sp. 471-490.   zurück