Siebenpfeiffer über Breuer: Bekenntnisse

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Hania Siebenpfeiffer

Bekenntnisse –
Zwischen Authentizität und Inszenierung

  • Ulrich Breuer: Bekenntnisse. Diskurs – Gattung – Werk (Finnische Beiträge zur Germanistik 3) Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang 2000. 521 S. / 7 Abb. Geb. Eur (D) 50,10.
    ISBN 3-631-37057-1.


Bekenntnisse gab es zu allen Zeiten, auch wenn keine Zeit so reich an Bekenntnissen zu sein scheint wie die gegenwärtige, in der das Bekennen zum alltäglichen Akt des (medialen) Überlebens mutiert ist. Bekenntnisse sind so selbstverständlich und der Gestus des Bekennens so vertraut, dass man sich wundert, warum die Kultur- und Literaturwissenschaften dieses Spiel mit Authentizität nicht viel eher systematisch in den Blick genommen hat. Auf eben diese Leerstelle zielt Ulrich Breuers umfangreiche und textversierte Untersuchung des Bekenntnisses als Diskurs-, Gattungs- und Werkform.

Die vergebliche Suche
nach Authentizität

"Im semiotischen Prozess des Bekennens", so leitet der Verfasser, Professor für deutsche Literatur an der Universität von Helsinki, seine 2000 erschienene Habilitationsschrift Bekenntnisse. Diskurs – Gattung – Werk ein, "haben sich nachweisbar sämtliche Hoffnungen auf eine direkte und authentische Darstellung des Individuellen als vergeblich erwiesen" (S. 7). Die vom bekennenden Sprechen suggerierte Authentizität erfüllt sich erst in und nach der Einsicht in die kulturelle Gebundenheit jeder Bekenntnishandlung. An der Erkenntnis, dass Bekennen sich nicht als Akt der Selbstschöpfung, sondern erst in der kulturell formatierten Kommunikation herstellt, sind und waren literarische Texte "seit jeher" (ebd.) beteiligt. Ulrich Breuer dient dieser Befund als Anlass, eine eigenständige Bekenntnisforschung einzufordern, deren Grundriss er in seiner Studie entwirft.

Um diesem selbstbewussten Anspruch gerecht zu werden, verfolgt er eine doppelte Perspektivierung in der Präsentation von Material und Argumentation. Da ist zunächst die systematische Unterteilung seiner Studie, die vom Diskurs über die Gattung in das Werk führt. Ihr folgt der Aufbau der Studie, deren drei Teile sich jeweils einer der drei systematischen Kategorien widmen: Eröffnet wird die Darstellung im ersten Teil mit einer >Diskurssemantik<, deren text- und gattungspoetologische Implikationen im zweiten Teil zur >Gattungssemantik< im Mittelpunkt stehen, um im dritten Teil, der >Werksemantik<, zur Konstruktion von Werkzusammenhängen enggeführt zu werden. Zugleich wird der systematische Zugriff auf das Bedeutungsfeld >Bekenntnis / Bekenntnisse< um eine historische Perspektive erweitert, denn die Studie verfolgt in ihrem Gesamtaufbau wie auch – mit unterschiedlicher Akzentuierung – in jedem einzelnen ihrer Teile die historischen Wandlungen der Semantisierung und Semiotisierung von >Bekenntnis< im kulturellen Prozess.

Der Gewinn, den dieser >doppelte Blick< auf das Material bereithält, wird dabei gleich zu Beginn augenscheinlich. Er erlaubt dem Verfasser nicht nur die zugrundegelegten literarischen und nicht-literarischen Texte in ihren historischen Bedeutungs- und Gebrauchsveränderungen zu präsentieren, sondern bindet sie gleichzeitig in einen klassifikatorischen Zusammenhang ein, der jenseits historischer Spezifikationen einen systematischen Zugriff auf das Themenfeld gestattet. Ebenso augenscheinlich werden allerdings auch die hierdurch entstehenden konzeptuellen Schwierigkeiten der Argumentation. Da die Spezifiken von Diskurs, Gattung und Werk zu allen Zeiten ineinander greifen, lassen sie sich nur unter der Vorgabe eines langen Atems systematisch aufbereiten, der sich unter anderem in dem beträchtlichen Umfang der Studie niederschlägt. Von den Rezipienten erfordert er, sich einer klassifikatorischen Unterteilung zu unterwerfen, deren Zusammenschluss sich erst nach Durchlaufen aller drei Semantisierungsebenen vollständig erschließt.

Materialität des Bekenntnisses

Die Materialität von Bekenntnissen ist – zumal wenn sie aus historischer Perspektive untersucht wird – primär textuell, und insofern stützt sich die Untersuchung von Ulrich Breuer auf ein breites Fundament unterschiedlicher literarischer, paraliterarischer und nicht-literarischer, v.a. philosophischer Textmaterialien, die nur an einigen Stellen durch Abbildungen illustriert werden. Damit tritt die sprachliche Verfasstheit von Bekenntnis, die als methologische Maxime in der Einleitung formuliert wird, in den Vordergrund. Dort heißt es: "In diesem Rahmen [dem Zusammenhang von Semiotik und Semantik des Bekennens, H.S.] stellt sich die spezifische Frage nach Wert und Bedeutung des Bekennens als einer Form der Kommunikation [...]" (S. 19). Zugleich präzisiert Breuer seinen Begriff von Kommunikation, in dem er ihn systemtheoretisch gewendet von dem Begriff der Handlung abgrenzt:

Wir verstehen es [das Bekennen, H.S.] nicht primär, wie bislang üblich, als eine Form der Handlung, sondern als eine Form der Kommunikation. Denn im Rückgriff auf die Systemtheorie [...] gehen wir in theoretischer Absicht hinter die Handlungsebene bis auf die sie fundierende Ebene der Kommunikation zurück [...]. (S. 21–22)

Auch wenn damit in Hinblick auf die Auswahl der zugrundegelegten Materialien Klarheit und eine – angesichts der Breite der Fragestellung und Größe der Materialfülle – wohltuende Begrenzung gewonnen wird, so stellt sich im Verlauf der Lektüre dennoch die Frage, wie exakt Handlung und Kommunikation im Einzelfall wirklich voneinander zu trennen sind.

Hierfür bietet sich das Beispiel der Rhetorik an, der der Verfasser im ersten Teil seiner Studie im Vergleich zu den übrigen an dieser Stelle behandelten "Bekenntnistypen" (Kapitel I.2, S. 81–115) nur wenige Seiten widmet. Begreift man Rhetorik in Rückgriff auf ihre auch in Breuers Studie angeführten klassischen Quellen nicht nur als ein Regelsystem zur funktional differenzierten, narrativen Durchformung von Texten, sondern als Synthesis von Sprache und Sprechakt, so erhält das Bekenntnis gerade als rhetorische Figur der >confessio> nicht nur sprachliche, sondern auch inszenatorische Qualität. Die "sympathiefördernde Leistung" (S. 112), die Breuer in Bezug auf Quintilian der >confessio> zuschreibt, ist – dies wird aus der Argumentation deutlich – nicht nur der Kommunikationssituation, z.B. vor Gericht, geschuldet, sondern verdankt sich in erheblichem Maße der inszenatorischen Glaubwürdigkeit ihrer Anwendung.

Die Studie allerdings denkt die inszenatorische Glaubwürdigkeit des Bekenntnisses wiederum nur sprachlich; die Bedeutung des Körpers für den und im Akt des (mündlichen) Bekennens, wie er nicht nur bei Gericht, sondern auch bei der Beichte, der Taufe und weiteren religiösen Bekenntnis-Ritualen unabdingbar ist, mithin das Bekenntnis als performativer Akt, wird nicht mitreflektiert.

Statt dessen konzentriert Breuer seine Untersuchung auf unterschiedliche Textmaterialien. Jedem Teil wird dabei ein eigenständiges Textkorpus zugewiesen, an dem sie ihre spezifische Perspektivierung erprobt:

  • Der >Diskurssemantik< liegen lexikalische und spezialdiskursive Quellen zugrunde, anhand derer die Etymologie des Substantivs >Bekenntnis< und der ihm beigeordneten Verben zunächst in ihrer Wortgeschichte vom Altgriechischen über das Lateinische in die deutsche Sprachentwicklung (S. 48–81), darauf aufbauend in ihrer Diskursspezifik in Religion und Recht (S. 81–115) wie in ihrer Textsortenspezifik als autobiografischer und intertextueller Akt (S. 115–153) untersucht werden.

  • Die Grundlage der >Gattungssemantik< bilden die Schriften von Augustinus Confessionum Libri XIII (S. 157–181) und Rousseaus Les Confessions (S. 181–219), deren Gestus des Bekennens als Akt individueller Entäußerung zum einen historisch zurückgebunden, zum anderen in Goethes Briefen, seinen "Bekenntnisse einer schönen Seele" (Wilhelm Meister Lehrjahre) und seiner großen >Bekenntnisschrift< Dichtung und Wahrheit nachgespürt wird (S. 219–294).

  • Der Frage nach der >Werksemantik< wird schließlich mit Hilfe der Schriften Thomas Manns nachgegangen (S. 305–459), dessen Texte – die frühen Erzählungen, die Essays und nicht zu Letzt sein Bekenntnisroman par excellence, die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull, – sich zugleich als heimlicher Fluchtpunkt der Gesamtargumentation der Studie verstehen lassen.

Bekenntnis
als ironische Brechung in der Moderne

Unter der Bezugnahme auf die beiden "repräsentativen Autorenfiguren" der ">große[n]< deutsche[n] Literatur" (S. 20), Johann Wolfgang Goethe und Thomas Mann, gelingt Ulrich Breuer zu Ende des zweiten und vor allem im dritten Teil seiner Studie ein argumentativ sehr überzeugender Gedankengang. Dieser interpretiert die literarische Form des Bekenntnisses als Artikulation und gleichzeitig ironische Brechung des problematisch gewordenen Wirklichkeitsbezugs moderner Literatur und verweist damit auf die ästhetische Qualität, die dem Bekennen resp. dem Bekenntnis in der Literatur der Moderne zukommt.

Breuer sieht in der Leistung, im literarischen Akt des Bekenntnisses das Bekennen selber zu unterlaufen und so das Bekannte als Inszenierung und somit als inauthentisch zu entlarven, nicht nur ein Merkmal moderner Bekenntnisliteratur, sondern gleichzeitig einen Verweis darauf, dass "seit dem 18. Jahrhundert die Literatur das Bekennen nicht nur aus seinen religiösen, sondern auch aus seinen politischen Funktionskontexten herausgelöst und erfolgreich für ihre eigenen Belange adaptiert hat" (S. 16).

Dem Nachweis dieser allmählichen Adaption des Bekennens für die "eigenen Belange" sind knapp zwei der drei Teile der Studie gewidmet. Ihren Beginn setzt Breuer bei Goethe an; ihren (vorläufigen) Höhepunkt im Werk Thomas Manns. Während sich bei Goethe Bekenntnisse (noch) über das gesamte Werk verstreuen, so dass in der abschließenden Geste einer umgreifenden Konfessionsformel im siebten Buch von Dichtung und Wahrheit nachträglich der Geltungsanspruch für das Gesamtwerk erhoben wird, steht das Spiel zwischen Bekenntnis und "Camouflage" (S. 465) bei Thomas Mann im Zentrum des literarischen Schreibens. Hatte Goethe in seinen metaphorischen Konfessionen die literarische Form des Bekenntnisses als eine vor allem symbolische Figur eingesetzt, die die hermeneutische Homologie von Werk und Autor zugleich aufrief und unterlief, so zeigt der Verfasser, wie bei Thomas Mann die literarischen Bekenntnisformeln zu "Sprachmasken" (S. 343) werden, die die Unmöglichkeit eines authentischen Wirklichkeitsbezugs in der Moderne in das selbstreflexive Spiel von Wahrheit und Lüge, Bekenntnis und Verweigerung, Inszenierung und Glaubwürdigkeit überführen und dabei aber vor allem mit den Leseerwartungen spielen.

Manns Hochstaplerroman Die Bekenntnisse des Felix Krull wird in dieser Perspektive zur "Summe seines Lebenswerks" (S. 304), an der Breuer zeigt, wie sich Thomas Manns an Rousseau, Goethe und Nietzsche geschulte Poetologie hier als "Dekonstruktion des Bekennens im Medium des Bekennens" (S. 364) erweist. Überzeugend und am Text wie an der Textgenese akribisch nachgewiesen ist diese Interpretation in jedem Fall, und es drängt sich bei der Lektüre die Idee auf, die poetologische Figur einer Dekonstruktion des Bekennens im Bekennen an weiteren Texten der Moderne zu erproben. Umso bedauerlicher ist deshalb die Wendung, die der Verfasser seiner eigenen Interpretation am Ende gibt: Dem parodistischen Spiel mit dem Bekenntnis zum Trotz ist die literarische Figur
>Felix Krull< für Breuer letztlich nichts als eine "Autormaske" (S. 446).

Anstatt die Produktivität des gezeigten Spiels mit Authentizitätsfiktionen als Konstruktion von Autor-Bildern im Text zu betonen und so den Blick auf die Funktion des >Autors< als Effekt, nicht als Substanz frei zugeben, wird jegliches Spiel zurückgebunden an den Autor Thomas Mann:

Damit sind beide Anekdoten [aus dem Roman, H.S.] ihrerseits ein Bekenntnis: sie verdeutlichen, dass sich hinter der romanhaften Oberfläche der Autor Thomas Mann verbirgt, dem es um Anerkennung seiner gebildeten und um Bewunderung und Liebe seiner ungebildeten Leser geht. Da ihm gerade die letzteren durch die zeitgenössische Romanproduktion aber genommen werden, muss er Liebe und Sympathie sich selbst gegenüber aufbringen. Eben das ist das Thema vor allem der Passagen seit dem Beginn des zweiten Buches. (S. 446)

Felix Krull als "Apotheose seines Autors" (S. 447), oder wie an anderer Stelle mit anderen Worten formuliert: "Felix Krull alias Thomas Mann" (S. 446) – dies ist das Fazit, auf das Breuer seine Interpretation des Romans hinauslaufen lässt. Leider, wie man hinzufügen muss, denn die Studie entscheidet sich – wenn auch verdeckt – letztlich für die Authentizität und nicht für die Inszenierung des Bekennens und schöpft damit das Potential, dass sie methodisch, konzeptuell und thematisch entfaltet, am Ende nicht aus.


Dr. des. Hania Siebenpfeiffer
Westfälische Wilhelms-Universität
Institut für deutsche Philologie II
Domplatz 23
D - 48149 Münster

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Ins Netz gestellt am 21.07.2003
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Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Dr. Joachim Linder. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Karoline Hornik.


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