Sieber über Bodenheimer: Wandernde Schatten

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Mirjam Sieber

Von jüdischer Authentizität
in der Literatur der Moderne
und der Bedeutung von Kunst
für eine Gesellschaft

  • Alfred Bodenheimer: Wandernde Schatten. Ahasver, Moses und die Authentizität der jüdischen Moderne. Göttingen: Wallstein Verlag 2002. 288 S. 12 Abb. Kart. EUR (D) 25,-.
    ISBN 3-89244-509-5.


In seinem Buch Wandernde Schatten. Ahasver, Moses und die Authentizität der jüdischen Moderne untersucht Bodenheimer, wie die jüdische deutsche Literatur seit Mitte des 19. Jahrhunderts in der Auseinandersetzung mit Ahasver und Moses Figurationen nicht-religiöser jüdischer Authentizität geschaffen hat – in einem zunehmend säkularen, national und territorial sich definierenden Umfeld, das sich eben anschickte, die Juden erneut auszugrenzen.

Die Studie, mit der sich Alfred Bodenheimer an der Universität Genf habilitiert hat, ist sowohl von literaturwissenschaftlichem als auch von judaistischem Interesse. Um sie in der Forschung zu situieren, kommen einerseits literaturwissenschaftliche Arbeiten zur Überlieferung und zu den Ausgestaltungen der Ahasverfigur und andererseits Studien zur jüdischen Identität in der Moderne in Betracht. Durch ihre Fragestellung hebt sich Bodenheimers Arbeit von beiden deutlich ab. Von den Motivgeschichten unterscheidet sie sich durch ihren Fokus auf dem reflexiven Umgang mit der Ahasverfigur im Hinblick auf die Konstruktion von Authentizität und von den zahlreichen Studien zur jüdischen Identität durch ihren genuin literaturwissenschaftlichen Zugang und die Abhebung der Authentizität von der als allgemeiner aufgefaßten Identität (S. 23): Sie untersucht die Konstruktion von Authentizität in Texten ohne Rückgriff auf psychologische oder soziologische Kategorien.

Bodenheimer geht davon aus, daß sich in den behandelten künstlerischen Werken ein Bedürfnis, vielleicht auch ein bestehender Diskurs, Ausdruck und Form verschafft, das / der zu jener Zeit insbesondere unter säkularen Juden virulent war, und daß die Werke ihrerseits wiederum Modelle von Authentizität für eine Vielzahl von Menschen schufen:

Im Vordergrund des Interesses steht dabei, dass es Autorinnen und Autoren von ganz verschiedenem Rang in verschiedenen Epochen waren, die in der Thematisierung der Moses- oder der Ahasverfigur (oder auch beider) ein tieferes Bedürfnis ganzer Generationen vor allem säkularer Juden in Deutschland chiffriert und in dieser Chiffre auch formuliert haben. Nur Literatur (und, wie ich daneben zu zeigen versuchte, Kunst) ist imstande, solche Chiffren zu schaffen, und die Literaturwissenschaft besitzt in besonderer Weise das Instrumentarium, sie lesbar zu machen. (S. 23 f.)

Inhalt

Bodenheimers Studie ist in elf etwa gleich große Kapitel eingeteilt. Der Einleitung folgen neun Einzeluntersuchungen zu Ahasver- / Mosesfigurationen in Werken jüdischer Autoren der Moderne. Die Einleitung leistet die geschichtliche Einordnung des zu untersuchenden Phänomens und stellt das theoretische Instrumentarium für die Analysen bereit.

Das Schlußwort trägt den Titel "Die verlorene Abwesenheit" und widmet sich der Frage, wie sich das Problem der Authentizität heute stelle – für eine Generation von Juden und Jüdinnen, die zumeist Nachgeborene der Shoah und Zeitgenossen des Staates Israel sind. Bodenheimer weist auf die drängenden Implikationen dieser Frage für Israel und die jüdische Gemeinschaft hin.

Ahasver

Ahasver ist ein Jude in einer christlichen Legende, die seit dem Mittelalter in Europa kursierte. Er steht für die Fremdbestimmung dessen, was jüdisch sei, in einem christlich dominierten Umfeld. Ahasver ist immer unterwegs und nie und nirgends zuhause, er ist ein Wanderer, er ist schattenhaft (je nach Ausformung fehlt ihm der Schatten, oder er ist selber wesenlos, schattenhaft), er kann nicht sterben und ist deshalb auch der >Ewige Jude<. Seine Schuld besteht nach der christlichen Legende darin, daß er Christus auf dem Kreuzweg verspottete und nicht bei sich einkehren und rasten ließ (S. 8; S.19 f.). 1

Die Deutung der Legendenfigur Ahasver, des ewig wandernden, zur Ruhelosigkeit verdammten Juden, als säkularisierte Personifikation des jüdischen Volkes setzte sich in Europa etwa um die Mitte des 19. Jahrhunderts durch (S. 8; S. 221, Anm. 9). Die Figur prägte das Selbstverständnis des westlichen Judentums in unterschiedlicher Weise mit. Bodenheimer untersucht, wie jüdische Autoren der Moderne dieser heteronomen Charakterisierung durch Reflexion und durch die Konfrontation mit der genuin jüdischen Figur Moses Authentizität abgewinnen.

Moses

Aus der Reflexion der Fremdbestimmung auf der Suche nach Authentizität resultiert eine Ahasver-Figuration, die Züge von Moses annimmt. Die Basis dieser neuen Authentizität bildet die Erinnerung an die Knechtschaft in Ägypten, "das innigste Gebot des Judentums". 2 Diese Erinnerung an die Knechtschaft stellt ihrerseits eine Gegenfigur zur Assimilation dar. Das Bewußtsein der latent prekären eigenen Situation begründet eine stärkere Autonomie gegenüber der umgebenden Mehrheitsgesellschaft und eröffnet die Perspektive auf die Mosesfigur (S. 19).

So fungiert die Erinnerung als eine Art Scharnier zwischen Projektion und Reflexion. Moses bietet sich in verschiedener Hinsicht als Gegenfigur zu Ahasver an. Während Ahasver fiktiv und passiv ist, einem über ihn verhängten Gesetz folgt und die Schattenseite der ihn umgebenden Gesellschaft verkörpert, eine starre, immergleiche Figur, ist Moses originär jüdisch, aktiv und tritt (in der säkularen Deutung) als Gesetzgeber auf. Er ist eine Lichtgestalt, 3 die auch für individuelle Entwicklung steht: "vom ägyptischen Prinzen hin zur Führergestalt der Israeliten" (S. 19 f.). Beiden, Ahasver und Moses, gemeinsam ist, daß sie wandern, ohne ihr Ziel zu erreichen: den Tod oder das verheißene Land Israel.

Moses und Ahasver durchdringen sich in den untersuchten Kunstwerken in unterschiedlichen Gewichtungen und bilden je eigene Konfigurationen:

So kommt es zu den charakteristischen literarischen Äußerungen, die mit unterschiedlichen Gewichtungen, mit unterschiedlichen Zielen und auf in der Form gänzlich unterschiedliche Arten die Mischgestalt schaffen, zu einer Moses-Orientierung, die auch für das Schicksal des Ewigen Juden, und zu einer Ahasver-Orientierung, die auch für den mosaischen Anspruch an die Welt steht. Moses enthält in dieser Modifikationsstrategie in sich bereits die Anlagen des Ahasver, und in Ahasver erst realisiert sich Moses für die Moderne. In dieser gegenseitigen Spiegelung entsteht im doppelten Wortsinne aus dem projizierten der reflektierte Jude. (S. 21)

Transzendenz und Authentizität

Aus dem reflektierten ahasverischen und zugleich mosaischen Wandern gewinnt die Konfiguration die Transzendenz, die in einem säkularen Umfeld neu gedacht werden muß. Im Mythos der "unendlichen Fahrt", der parallel zur Säkularisierung Europas im 19. und 20. Jahrhundert populär wird, verkörpert sich die "in der Unendlichkeit der Fahrt abwesend gegenwärtige Ewigkeit". 4 Dieses Motiv, das von anderer Seite auch antisemitische Deutungen erfährt, bildet die Grundlage der modernen, säkularen jüdischen Transzendenz. Bodenheimer betrachtet die transzendente Ausrichtung als konstitutives Element moderner jüdischer Authentizitätssuche.

[Der reflektierte Jude, M.S.] akzeptiert das ihm auferlegte Wandern als Charakterzug, doch versteht er es zugleich als jene Dynamik, die gerade der christlich-abendländischen Gesellschaft fehlt, in der zu jener Zeit der Umbruch von der transzendenten zur nationalen Orientierung inszeniert wird. Der Jude wird hier zum Gegenentwurf, der die Realität der rastlosen Moderne zugleich dechiffriert und antreibt, er verkörpert gewissermaßen jenen Glauben in einen Fortschritt, der letztlich nur durch den utopischen bzw. messianischen und damit wiederum transzendenten Charakter des finalen Ziels erreicht werden kann. Damit gewinnt der Jude der Moderne in der Identifikation mit Ahasver und Moses seinen historischen Ort als ausdrücklichen geografischen Nicht-Ort zurück. (S. 21)

Aus dem bloß projizierten, fremdbestimmten Ahasver wurde so durch Reflexion die Verkörperung einer abwesenden Transzendenz. In der Figur des Wanderers, der durch seine Abwesenheit anwesend ist, in Analogie zum >toten Gott< der Moderne, konnte im säkularisierten Zeitalter eine neue jüdische Authentizität mit einer verdeckten Transzendenz gefunden werden (S. 22).

Insofern ist der Authentizitätsbegriff, der [...] auf der Idee der verdeckten Transzendenz beruht, die sich gerade aus der (akzeptierten) Zuschreibung, unbeheimatet zu sein, ergab, hier ein spezifisch jüdischer. (S. 23)

Einzelanalysen

Das Spektrum der Einzelanalysen ist sehr breit und umfaßt die Autoren Heinrich Heine, Theodor Herzl, Fritz Mauthner, Ernst Toller, Jakob Wassermann, Karl Wolfskehl, Else Lasker-Schüler, Hedwig Caspari, Rudolf Kayser, Arnold Schönberg, Sigmund Freud, Gertrud Kolmar, Nelly Sachs, Stefan Heym und Philip Roth. Bodenheimer selbst erklärt es als Ziel seiner Arbeit, einen

[...] repräsentativen Korpus zu erstellen, an dem das Ineinanderspielen der Ahasver- und der Moses-Figuration demonstriert werden kann. Repräsentativ heißt in diesem Zusammenhang: Über eine lange Zeitperiode verfolgbar, in verschiedenen Gattungen sich niederschlagend, aus unterschiedlichen ideologischen Grundlagen her argumentierend. (S. 23)

Jede Kapitelüberschrift enthält neben den Namen der behandelten Autoren respektive Autorinnen einen Hinweis auf die jeweilige Ahasver- / Moses-Konfiguration, die manchmal noch durch ein literarisches Zitat veranschaulicht wird. Bodenheimer findet hier meist sehr prägnante und aussagekräftige Formeln für die herausgearbeitete Konstruktion jüdischer Authentizität. So heißt etwa eine Kapitelüberschrift: "Gras und Pflastersteine. Theodor Herzls mosaische Phantasien", und eine andere: ">Our face!<" oder Authentisch antithetisch. Stefan Heyms "Ahasver" und Philip Roths "Operation Shylock". Die einzelnen Kapitel enthalten eine sorgfältige historische und ideelle Verortung des zu behandelnden Werks und verarbeiten ausgewählte literaturwissenschaftliche Arbeiten hierzu. Insgesamt sind die Literaturhinweise sehr breit und umfassen sowohl Sekundärliteratur zum behandelten Werk als auch historische, kunstgeschichtliche und judaistische Literatur. Immer wieder wird überdies auf weitere einschlägige Stellen in der literarischen Tradition hingewiesen.

Die Einzelanalysen sind in sich nicht weiter gegliedert. Sie kommen dicht und zielbewußt daher und aus ihnen folgen oft sehr erhellende und neuartige Interpretationen der einzelnen Werke. In ihrer Gesamtheit eröffnen sie zugleich ein breites Spektrum von Modellen moderner jüdischer Authentizität. Der relativ enge Fokus der Fragestellung ermöglicht es Bodenheimer, die untersuchten Werke sorgfältig auszuloten und die Komplexität und Vielfältigkeit der Konfiguration anhand der verschiedenen literarischen und zum Teil bildnerischen Gestaltungen in eindrücklicher Weise auszufalten. Die Ahasver- / Moses-Konfiguration erweist sich als geeignete Folie, um die untersuchten Werke im Hinblick auf die Konstitution jüdischer Authentizität zur Geltung zu bringen. Die Folie ist überdies ohne weiteres auf weitere Werke der jüdischen Moderne übertragbar.

Jüdische Authentizität in der Postmoderne?

Im Schlußwort bezeichnet Bodenheimer als Gemeinsamkeit der von ihm dargestellten Autoren und Autorinnen die Erfahrung von Diskriminierung, Verfolgung bis hin zur Vernichtung. Dagegen seien für die nach dem Zweiten Weltkrieg und nach der Staatsgründung Israels geborenen Juden die Rolle in der Gesellschaft und das Problem der Gewinnung von Authentizität radikal anders (S. 211). Als Beispiel einer Auseinandersetzung dieser Generation mit dem eigenen Judentum stellt Bodenheimer Alain Finkielkrauts Juif imaginaire vor. 5 Die Authentizität muß nun einem Judentum abgerungen werden, "welches sich, erstmals seit 2000 Jahren, innerhalb Europas nicht mehr in der Defensive befindet", beschreibt Bodenheimer die neue Lage eindrücklich (S. 211).

Für Finkielkraut bietet das Judentum keine religiöse Transzendenz mehr und daher auch keinen Ansatzpunkt für Authentizität qua Religion. Daher wird ihm "das Streben nach dem Unauffindbaren, unter bewusstem Verzicht eines Anspruchs auf dessen Vereinnahmung, [...] zum Akt, der jüdische Transzendenz gewährleistet" (S. 214). Die Ermordeten der Shoah repräsentieren für Finkielkraut – so Bodenheimer – eine Abwesenheit, die ihm sein Judentum in sich selber transzendent mache: Zusammen mit dessen Trägern sei das Judentum in seiner religiösen Dimension "jedem Zugriff entzogen" worden (S. 214): "Nicht mehr mein Selbstporträt suche ich in dem Wort >Jude<, sondern alles, was ich nicht bin und was ich mir aus eigener Kraft niemals vorstellen könnte", schreibt Finkielkraut. 6

Bodenheimers Buch endet – nach einem besorgten Blick auf die Frage der Authentizität in der israelischen Gesellschaft heute – mit dem Fazit, daß der jüdischen Authentizität der Moderne, die getragen gewesen sei von der Repräsentation eines Abwesenden, durch die Ermordung des größten Teils der europäischen Juden in der Shoah einerseits und durch die Anwesenheit eines Territorialstaates andererseits gewissermaßen die Abwesenheit abhanden gekommen sei. "Die Authentizitätskrise des gegenwärtigen, in diesem ganz spezifischen Sinne >postmodernen< Judentums besteht im doppelten Verlust seiner Abwesenheit" (S.217), lautet daher seine Diagnose. Ob und wie eine neue Authentizität des Judentums sich aus dieser Situation entwickeln werde, bleibe abzuwarten. – Damit fällt Bodenheimer aber hinter Finkielkraut zurück, der doch, wenigstens für die Juden der Diaspora und unabhängig von der Anwesenheit des Staates Israel, ein Modell postmoderner jüdischer Authentizität entworfen hat: eine Authentizität, die sich herstellt in der Transzendierung des Verlustes eines Wissens von der Transzendenz der Abwesenheit Gottes.

Kritik

Die Gesamtkonzeption der Studie ist ansprechend und überzeugend. Das Buch ist graphisch sorgfältig gemacht. Hervorzuheben sind diesbezüglich die Bildreproduktionen und das sehr klare, schlichte Layout. Die Umschlaggestaltung – ein entsetzt über ein mit Leichen und riesigen Kreuzen übersätes Feld auf den Betrachter zufliehender Jude (aus einem Bild von Samuel Hirszenberg von 1899) – entspricht durchaus dem Haupttitel des Buches: "Wandernde Schatten" – allerdings etwas einseitig den ahasverischen Aspekt der Konfiguration betonend. Doch: Dieser bietet die Basis der untersuchten Authentizität und läßt sich insofern begründen. Kritisch zu vermerken sind manche kleineren sprachlichen Mängel und eine – leider gerade in Bezug auf das zentrale und titelgebende Bild des Schattens – vage Bildlichkeit. Als Mangel könnte überdies empfunden werden, daß das in erster Linie literarische Korpus der Studie und deren literaturwissenschaftliche Ausrichtung nicht explizit aus dem Titel hervorgehen. Nicht zwingend notwendig, aber hilfreich wäre ein Personenregister.

In Bezug auf die Auswahl der Texte, die bei Bodenheimer nicht vollständig, aber repräsentativ sein soll, läßt sich grundsätzlich nichts einwenden. Trotzdem bedauert man, daß der eine oder andere Text, wenigstens in der Einleitung, keine Aufnahme gefunden hat. So hätte etwa die Debatte von 1838 zwischen Karl Gutzkow und dem Rabbiner Ludwig Philippson über die zeitüblichen, jüdischen und christlichen, Neugestaltungen der Ahasverfigur in der Einleitung zu Bodenheimers Studie gewiß gewinnbringend Erwähnung finden können. 7 Bodenheimer berücksichtigt ferner in der Einleitung die Komplexität und Veränderlichkeit der Ahasverfiguration im Laufe ihrer Geschichte zu wenig, und die Darstellung der Ahasverlegende von 1602, welche die Grundlage für die Verbreitung in Europa bildet, fällt zu knapp aus. 8 Bodenheimers ganz explizites Interesse für die Reflexion Ahasvers in der jüdischen literarischen Moderne und die daraus hervorgehenden Ahasver- / Moseskonfigurationen relativiert diese Kritik allerdings.

Im Sinne einer Ergänzung und einer Präzisierung sei darauf hingewiesen, daß die Deutung Ahasvers als Verkörperung des Judentums schon ins frühe 18. Jahrhundert zurückreicht. 9 Ludwig Börne führt in seinem Text Der ewige Jude, der auch den Auftakt zu Bodenheimers Studie bildet und dort auszugsweise zitiert ist (S. 7), die Rede vom Ewigen Juden implizit auf ihren christlichen Ursprung zurück und kritisiert sie als das, was sie ist: als christliche Sicht der Juden, die diese immer gleich (und immer anders als sich selber) sehen will und sieht. Neu ist also bei Ludwig Börne nicht so sehr die Verwendung des Begriffs >Ewiger Jude< als Bezeichnung für die Juden als Kollektiv, wie Bodenheimer in Anlehnung an A. Leschnitzer 10 schreibt. Neu ist im 19. Jahrhundert allerdings die "säkularisierte Symbolisierung des jüdischen Volkes" (S.8) durch Ahasver, die zunehmende Herauslösung Ahasvers aus dem heilsgeschichtlichen Deutungszusammenhang, die das jüdische Volk gänzlich antisemitischen Angriffen preisgab.

Eine gewisse theoretische Problematik beinhaltet das für die Argumentation tragende Gegensatzpaar Projektion-Reflexion respektive "der projizierte und der reflektierte Jude". Es erweist sich zwar als eingängig und leistungsfähig, scheint aber einen etwas irritierenden Perspektivenwechsel zu beinhalten. So etwa, wenn es heißt: "Vor allem die zweitletzte Strophe zeigt den Sprechenden zwischen Projektion und Reflexion" (S. 175). Wenn ich die Bildlichkeit zunächst konkret physikalisch auffasse, ist das Zentrum, der "Akteur" der Projektion nicht derselbe wie derjenige der Reflexion. Die beiden Weisen des Umgangs mit der Heteronomie wären somit eigentlich Übernahme der Projektion einerseits und Reflexion andererseits, wobei Reflexion immer wörtlich und metaphorisch, als Spiegelung und geistige Durchdringung, gemeint ist.

In Bezug auf die zahlreichen literaturwissenschaftlichen Studien zur Frage der jüdischen Identität in der Moderne positioniert sich Bodenheimer schließlich nicht explizit. Zu denken ist etwa an Dieter Lampings Studie zum "jüdischen Diskurs in der Literatur des 20. Jahrhunderts", die sich mit der Darstellung jüdischer Erfahrungen in der deutschsprachigen Literatur jüdischer Autoren und Autorinnen des 20. Jahrhunderts befaßt. 11 In der Auseinandersetzung mit der Studie von Lamping, die ähnlich gelagert ist wie Bodenheimers eigene und sich doch in wesentlichen Punkten von ihr unterscheidet, ließe sich letztere gut situieren und auch konturieren. Die Hauptkritik der Verfasserin an Bodenheimers Arbeit ist demnach, daß sie ihr Interesse und ihre Eigenständigkeit manchmal zu implizit behauptet. Auch wünscht man sich an manchen Stellen eine größere theoretische Ausführlichkeit.

Insgesamt können diese Kritikpunkte den Beitrag Alfred Bodenheimers zur Frage nach der jüdischen Authentizität in der Moderne aber keinesfalls schmälern: Der Vorzug und die Bedeutung seiner Arbeit liegen darin, daß sie ein Spektrum von Figurationen moderner jüdischer Authentizität entfaltet, die von der Kunst unter unterschiedlichen geschichtlichen Bedingungen hervorgebracht wurden und noch werden, und daß sie dabei manchen bekannten Text in einem neuem Licht zur Geltung bringt. – Wie der Schluß des Buches zeigt, ist die Frage nach der Authentizität nach wie vor virulent. Es ist eine Frage von sozialer und politischer Relevanz. Hinzuzufügen ist: von Relevanz, wenn auch unter anderen Voraussetzungen, nicht nur für die jüdische Gesellschaft. Und so wirft dieses Buch beiläufig ein Licht auf eine bedeutende Funktion von Kunst in einer Gesellschaft: Sie kann Modelle von und Chiffren für Authentizität schaffen.


lic.phil. Mirjam Sieber
Universität Zürich
Deutsches Seminar
Schönberggasse 9
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Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Katrin Fischer.


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Anmerkungen

1 Die erste erhaltene Fassung der Ahasver-Legende von 1602 findet sich vollständig als Faksimile in Mona Körte / Robert Stockhammer (Hg.): Ahasvers Spur. Dichtungen und Dokumente vom "Ewigen Juden". Leipzig: Reclam 1995.   zurück

2 Theodor Lessing: Der jüdische Selbsthass. Mit einem Vorwort von Boris Groys. München: Matthes und Seitz 1984, S. 238 (zit. n. Bodenheimer 2002, S. 19).   zurück

3 "die Haut seines Antlitzes strahlte" ihm, als er nach einer Begegnung mit Gott mit den zweiten Gesetzestafeln unter dem Arm vom Sinai herunterstieg, heißt es von ihm in der Bibel (Ex. 34, 29 und 31).   zurück

4 Manfred Frank: Die unendliche Fahrt. Ein Motiv und sein Text. Frankfurt / M.: Suhrkamp 1979, S. 19 (zit. n. Bodenheimer 2002, S. 20).    zurück

5 Alain Finkielkraut: Der eingebildete Jude. Aus dem Französischen von Hainer Kober. München u.a.: Carl Hanser 1982.   zurück

6 Alain Finkielkraut (Anm. 5), S. 201, zit. n. Bodenheimer 2002, S. 214.   zurück

7 Vgl. Mona Körte / Robert Stockhammer (Anm. 1)   zurück

8 Vgl. Anm. 1. Zur Wanderung Ahasvers durch die europäische Literatur siehe: Angelika Rahm: Irrlichternd durch Raum und Zeit: Die Gestalt des Ahasver in der europäischen Literatur. In: Peter Csobadi u.a. (Hg.): Europäische Mythen der Neuzeit: Faust und Don Juan. Gesammelte Vorträge des Salzburger Symposions 1992. Salzburg: Verlag Ursula Müller-Speiser 1993, S. 665–678.    zurück

9 Vgl. den Text von Johann Jacob Schudt aus dem Jahre 1714 in Mona Körte / Robert Stockhammer (Anm. 1), wo Ahasver (allerdings noch in einen christlichen heilsgeschichtlichen Deutungszusammenhang eingebunden) als Verkörperung des jüdischen Volkes gedeutet wird.   zurück

10 Adolf Leschnitzer: Der Gestaltwandel Ahasvers. In: Hans Tramer (Hg.): In zwei Welten. Siegfried Moses zum fünfundsiebzigsten Geburtstag. Tel Aviv: Bitaon 1962, S. 470–505.   zurück

11 Dieter Lamping: Von Kafka bis Celan. Jüdischer Diskurs in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1998.   zurück