Simanowski über Künstliche Paradiese

Roberto Simanowski

Schüler erschießt Lehrer.
Sind die Medien schuld?

Holger Krapp und Thomas Wägenbaur (Hgg.):
Künstliche Paradiese - Virtuelle Realitäten.
Künstliche Räume in Literatur-, Sozial- und Naturwissenschaften.
München: Fink 1997. 308 S. Kart. DM 58,-.



Immer wenn in den USA ein Schüler seinen Lehrer erschießt, um sich für schlechte Noten und anderes >Unrecht< zu rächen, erneuern die Medien ihren Diskurs über sich selbst. Brutalisiert die Brutalität in den Medien die Gesellschaft? Das liegt auf der Hand, sagen die einen und fordern eine stärkere Zensur dessen, was als virtuelle Welt angeboten wird, denn die Unmenge an Gewaltszenen liefere dem Publikum ein falsches Bild über die adäquaten Wege, Probleme zu lösen. Dies bestreiten die anderen als längst widerlegte These vom passiven Rezipienten: ein Zuschauer wisse, daß er Zuschauer ist, er nimmt den Film nicht als Spiegel der Wirklichkeit, er ist, wie psychologische Untersuchungen zeigen, keineswegs das wehrlose Opfer einer Infiltrationsmaschinerie. 1

Diese Ansicht findet theoretische Rückendeckung beim Konstruktivismus, wonach "Verstehen" von Texten (oder Bildern) sich nicht als "Bedeutungs->Entnahme<, sondern von Anfang an als Bedeutungs-Zuschreibung" vollzieht, 2 Aussagen über die Wirkung des Textes also nicht von diesem her gemacht werden können. Das berührt auch die Frage der Stimulations- oder Kompensationswirkung von Gewaltdarstellungen. Aus konstruktivistischer Perspektive wirken Gewaltdarstellungen im Fernsehen "in jeder nur denkbaren Richtung":
Der gleiche Film kann abstoßend, anregend oder relativ neutral wirken – je nach Persönlichkeit des jeweiligen Zuschauers
"Hauptsächlich entscheidend sind die eigenen Konstruktionsleistungen". 3 Dieser Einspruch gegen die Unterstellung eines einlinigen Wirkungsmodell folgt der Auffassung, daß Realität gemäß dem kognitiven Referenzrahmen des Betrachters konstruiert wird. Nicht die >äußeren< Stimuli, sondern die >inneren< Pläne bestimmen menschliches Verhalten; der Konstruktivismus spricht von Konstruktionen des Gehirns.

Diese Formulierung muß jedoch in ihrem grammatikalischen Doppelsinn bedacht werden: das kognitive System wird, vor seinen Konstruktionen, in und durch Sozialisation konstruiert. Was aber geschieht, wenn sich die Sozialisation in hohem Maße im Rahmen der Medien vollzieht? Wenn diese von Anfang an Art und Weise der Bedeutungs-Zuschreibung bestimmen? Erscheinen schießwütige Kinder dann nicht doch als Opfer der Medien?


Problemstellung

Während diese Fragen mit Blick auf die herkömmlichen elektronischen Medien noch keineswegs geklärt sind, blinkt am Medien-Horizont schon eine neue, viel wirksamere Möglichkeit der Derealisierung des Wirklichen. Cyberspace und Virtual Reality lauten die Schlagworte für eine Technologie, die künstliche Räume dreidimensional erzeugen und den Rezipienten durch die Interaktivität des Geschehens vollends in dieses involvieren kann:

Revolutionär ist nicht die Konstruktion künstlicher Welten, sondern die Möglichkeit, in sie einzutreten, also die normale Situation des passiven oder auch manipulativ eingreifenden, äußeren Beobachters insoweit zu verändern, als dieser nun die künstlichen Welten von innen als Teil ihrer beobachtet. (S. 99)
Dieses Zitat, das dem Buch als Motto hätte voranstehen können, entstammt einem früheren Sammelband zu Cyberspace 4 und markiert, was Cyberspace vom Fernsehen unterscheidet: man kann in der virtuellen Realität mit einer virtuellen Pistole auf seinen virtuellen Lehrer schießen, und zwar so oft man will. Das erledigt nicht die am Fernsehen entzündete Diskussion, sondern gibt ihr eine ganz neue Dimension.

Welche Auswirkung wird diese Technik auf die Realitätswahrnehmung der nächsten Generationen haben? Welche philosophischen, psychologischen und sozialen Konsequenzen ergeben sich aus dieser Aussicht auf die ungehemmte Produktion von Wirklichkeit? Wie wird man sich der Grenze zwischen künstlichem Raum und Realität bewußt bleiben? Und wo verläuft sie?

Das vorliegende Buch kann, wie so viele andere zum gleichen Thema, natürlich noch keine klaren Antworten geben. Sein Anliegen ist vielmehr, mit der Materie vertraut zu machen, erste Anwendungspraktiken vorzustellen und zunächst die richtigen Fragen zu formulieren. Zu diesem Zweck wurde in einer Ringvorlesung an der Universität Tübingen das Thema Virtuelle Reallität aus der Perspektive verschiedenster wissenschaftlicher Disziplinen erörtert. Der Band versammelt die 15 Beiträge unter den Überschriften

  1. Philosophie
  2. ,
  3. Literatur, Psychologie und Kunst,
  4. Sozialwissenschaften sowie
  5. Technik und Naturwissenschaften.

Dirk Vaihingers Beitrag über die Fiktionalisierung der Wirklichkeit und die unendliche Information richtet sich gegen die Hochkonjunktur jener philosophischen Theorien, "die der Wirklichkeit ihren Realitätsgehalt absprechen, indem sie sie zu einer Mischung aus interessierter Willkür und physioneurologisch-kognitiver Interpretationsmasse umformulieren, die nicht objektiv erfaßt und über die schon gar keine wahrheitsfähige Aussage gemacht werden kann." (S. 21) Vaihingers kulturkritischer, marxistisch inspirierter Einwand markiert die fatalen politischen Konsequenzen einer Haltung, die keine "Schuldigen an der Misere" (S. 22) mehr ausmachen will, sieht im Begriff der Virtuellen Realität "den Wunsch nach Kompensation einer als unbewältigbar erfahrenen Wirklichkeit" (S. 27), verweist auf die mit der digitalen Datenverarbeitung "ins Unermeßliche anwachsende Monopolisierung besonders der neuen Information, der Information über die Eßgewohnheiten, die Aufstehzeiten und politischen Vorlieben der Bürger" (S. 31) und gibt schließlich zu bedenken:

der Zugang zu Unmengen von Informationen […] bringt weder das Projekt der Aufklärung wieder in Gang, noch erhöht er die Einsicht und die kritische Anteilnahme des Steuerzahlers. (S. 36)

Dieser Rundumschlag liefert eine erfrischende Gegenperspektive zu den allzuoft vernehmbaren Utopien der Cyberspace-Proponenten. Dennoch bzw. gerade deswegen wünscht man sich nun, jene zu hören, um auch Vaihingers Dystopie nicht unwidersprochen stehen lassen zu müssen. Auf diese andere Perspektive muß der Leser allerdings einige Beiträge lang warten, denn vor dem Abschnitt Sozialwissenschaften, der sich gut dem einzigen Beitrag der Rubrik Philosophie angeschlossen und noch besser mit diesem eine Einheit gebildet hätte, folgt zunächst jener zur Literatur, Psychologie und Kunst, der weit ausholt und im Mittelalter beginnt.


Literatur, Psychologie und Kunst

Joachim Knape erörtert Fiktionalität und Faktizität als Erkenntnisproblem am Beispiel spätmittelalterlicher Reiseerzählungen und zeigt, daß die phantastisch klingende Realität (Marco Polos authentischer Reisebericht) für Fiktion, die realistisch erzählte Fiktion (John Mandevilles Reisebericht) indes für authentisch genommen werden konnte.

Markus Heilmann bespricht am Beipiel von Rousseaus Autobiographie und Tiecks "Runenberg"-Novelle "Wirkliche" und "künstliche" Refugien am Ende der Aufklärung und verweist auf Rousseaus Verfahren, mit seiner "imagination riante" die mangelnde Wirklichkeit zu kompensieren und somit selbst "die Bastille als Refugium, als Ort beglückender, ungestörter Wirklichkeitserfahrung" (S. 75) zu nutzen.

Kurt Klooke behandelt Das Erzählen imaginärer Räume als Inszenierung von Erkenntnis am Beispiel von Italo Calvinos "Le città invisibili" mit Augenmerk auf die Funktion der Textorganisation für die Erkenntnisreise des Lesers selbst.

Oliver Scheiding untersucht Tech-Lit und radikaler Konstruktivismus in William Gibsons Cyberspace-Trilogie. Scheiding erörtert die Flucht der Figuren Gibsons aus ihrer Wirklichkeit in den virtuellen Raum des Cyberspace und schlägt vor, Gibsons Texte "als Musterbeispiele des radikalen Konstruktivismus" zu lesen (S. 114). Der Vorschlag, sie als Hypertexte anzusehen, weil sie "links als Großschrift oder als kursive Textelemente" im Text aufweisen (S. 112), hieße allerdings, auf die sinnvolle Differenz dieses Begriffs zur herkömmlichen Intertextualiltät gedruckter Texte zu verzichten.

Georg Braungart geht unter dem Titel Die imaginären Räume des Leibes: Traumtheorien vor Freud auf Karl Albert Scherners Grundlegung der Traumtheorie und auf Scherners ersten Propagator Johannes Volkelt ein, der die Traumräume als virtuelle und zugleich höchst reale Räume des Ich und seines Leibes verstand.

Stephan Berg zeichnet einige Stationen der Kunst auf ihrem Weg in die virtuelle Realität nach und bedauert hinsichtlich der Überführung des Betrachters in das Bild die Diskrepanz zwischen purem technischen Aufwand und überholter Inhaltlichkeit an Beispielen der Videokunstszene (June Paik, Bill Viola).


Sozialwissenschaften

Abschnitt III setzt die Diskussion der philosophischen sowie gesellschaftlichen Aspekte und Konsequenzen der Virtuellen Realität fort. Wulf Halbach folgt unter dem Titel Virtual Realities, Cyberspace und Öffentlichkeiten anders als Vaihinger der Argumentation Husserls und des Radikalen Konstruktivismus und sieht keinen Grund, die unterstellte Subjektivität unserer Weltwahrnehmung zu bezweifeln oder zu bedauern. Nach der Unterscheidung zwischen der Kunst, als einer über die Alltagswelt hinausgehenden, nicht auf Isomorphie zur Natur orientierten Alterität, und der Simulation digitaler Medien geht Halbach auf den Computer als Medium der Wirklichkeitsabbildung und -veränderung ein. Entscheidend ist dabei, daß die Interaktion empfunden wird und zugleich das "Interface, die Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine und die Grenze zwischen Alltags- und computergenerierter Welt, zu verschwinden [beginnt]." (S. 162) Halbach diskutiert die MUDs (Multi User Dungeons) als durch Schrift generierte künstliche Räume der Gegenwart und erörtert die Dreidimensionalität künftiger künstlicher Räume mit Datenhelm- und Datenhandschuh-Equipment.

Die am Ende vergebens erhoffte Überführung des Aufgezeigten in die sozialwissenschaftliche Fragestellung – was also bedeutet die Erfahrung dieser Art Kommunikation für die Kommunikation der Gesellschaft? – erfolgt im Anschlußbeitrag von Manfred Faßler: Interaktion und Virtualität. Faßler fordert eine "sozialwissenschaftliche Analyse telematischer Kommunikation", die wegen der "medientheoretischen Unterbestimmung eines sozialwissenschaftlichen Interaktionskonzepts" noch immer ausstehe. (S. 187) Ein Aspekt der veränderten Kommunikationssituation ist die weitere Auflösung des Interaktionskonzepts der Angesichtigkeit mit seinem "persönlichen Rahmen für die Zusicherungs- und Erwartungssicherheit". (S. 195) Das Problem, so Faßler, sei weniger die Ungegenständlichkeit oder Immaterialität als

die Tatsache, daß Handeln nicht mehr über die Nähe meiner Handlungspartner, deren Interessen und über die geteilten kulturellen Gepflogenheiten nachzuzeichnen ist. Es ist grundsätzlich Handeln aus der Ferne geworden." (S. 199).
Die „Hemmschwelle gegenüber Virtualisierungsprozessen", so heißt es pointiert, läßt sich "als Hemmschwelle gegenüber dem friedlichen Eigenrecht der Ferne erläutern", die aus der Tatsache rühre, "daß in der Neuzeit keine nicht-koloniale Kultur der Ferne entstanden ist, sondern Ferne ein imperialer Gestus war und noch ist." (S. 197)

Heiner Benking mahnt unter dem Titel Fluchtwelten oder Sinnwelten – Cyberspace als Spielzeug und Orientierungshilfe schließlich den sinnvollen Einsatz von Cyberspace in der Wissensverarbeitung und Schulbildung an, leider ohne Aussagen dazu, welche Erfahrungen und Ergebnisse es diesbezüglich bereits gibt.


Technik und Naturwissenschaften

Von der Anwendung des Cyberspace spricht hingegen Abschnitt IV. Ulrich Lang illustriert den Einsatz von VR-Methoden zur Visualisierung wissenschaftlicher und technischer Daten, als Mittel zur Auswertung umfangreicher Berechnungsergebnisse und Meßwertreihen. Wolfgang Müller-Schauenburg und Marcus Sean Rebel fragen Wie kommt reale Welt in den virtuellen Cyberspace? Anhand ihres CREACEPTIONs-Konzepts (Creation+Perception) zeigen sie, wie im medizinischen Bereich zweidimensionale Daten dreidimensional dargestellt werden können.

Heinrich H. Bülthoff, Bärbel M. Foese-Mallot und Hanspeter A. Mallot skizzieren unter dem Titel Virtuelle Realität als Methode der modernen Hirnforschung, wie durch Experimente in der Virtuellen Realität Kenntnisse über Kreisläufe von Wahrnehmung und Handlung gewonnen werden können. Auf einem Nachbarfeld der verhaltensorientierten Hirnforschung nutzt Rüdiger Voss VR als Methodik für die Ethologie. Die "virtuelle Ethologie", so Voss, biete zwei Vorteile: sie ist "minimal invasiv", weil sie "erlaubt, mit geringen Eingriffen in die natürliche Verhaltenssituation bis in die Bereiche der neuronalen Grundlagen vorzustoßen", und sie erlaubt dem Forscher, etwa den "Blick aus dem Cockpit einer Wespe" einzunehmen. (S. 289).

Andreas Rößler liefert mit seinem Beitrag Virtual Reality – sinnvolle Technik für den Ingenieur oder Suchtmittel? gewissermaßen den Epilog, der nach den verschiedenen geisteswissenschaftllichen und technisch-naturwissenschaftlichen Näherungen ans Thema eine Inventur der Pros und Contras vornimmt, insofern eine solche Inventur überhaupt schon möglich ist. Rößler erklärt noch einmal die grundlegenden Techniken von Virtual Reality (die bei ihm klar als Dreidimensionalität definiert und somit gegen einen Begriff wie Multimedia abgegrenzt ist) und skizziert deren mögliche Auswirkungen "im Spannungsfeld zwischen industriellem Einsatz und dem Einsatz als Unterhaltungsmedium". (S. 293) Sein Resüme aus der bisherigen Marktentwicklung –

daß die Unterhaltungsindustrie sowohl im High-End- als im Low-End-Bereich in Zukunft die entscheidenden Impulse für die Weiterentwicklung von Virtual Reality geben wird (S. 301)
– mag beunruhigen, nicht weniger als der Hinweis, daß in den USA bereits an der Direktankopplung des Computers an das menschliche Gehirn gearbeitet wird.

Der vorliegende Band liefert einen guten Überblick zu verschiedenen Aspekten des künstlichen Raumes, sei es in der Literatur der Vergangenheit oder in der Technik der Gegenwart. Die Wortwahl des Doppeltitels bringt die unterschiedliche Teilhabe am Thema sehr treffend zum Ausdruck: die künstlichen Räume der Literatur im alten Medium des Buches und die künstlichen Räume der naturwissenschaftlichen Disziplinen im avancierten elektronischen Medium.

Diese Verteilung scheint alle Klischee über das Wesen der verschiedenen Wissenschaftssektoren zu bestätigen. Und doch ist dies nur die halbe Wahrheit. Es gibt eine Schnittstelle zwischen Technik und Literatur: Hyperfiction.


Hyperfiction:
Schnittstelle zwischen Technik und Literatur

Dabei handelt es sich um literarische Texte, die Textsegmente miteinander vernetzen, statt sie linear anzuordnen, und somit nicht nur den Link zum eigentlichen stilistischen Mittel erheben, sondern durch die Variabilität der Zusammenstellung der Textteile auch die Weise der Produktion und Rezeption prinzipiell verändern. Zwar stellen diese Texte keine Virtuelle Realität im dreidimensionalen Sinne dar, aber diese Dreidimensionalität ist nur eine Frage der Zeit. Dann werden sie allerdings noch weniger den literarischen Texten im traditionellen Sinne ähneln; sie werden Mischung sein aus Text, Bild, Videogame.

Man hätte sich einen Beitrag über diese neue Art künstlicher Räume im Bereich der Literatur gewünscht, die es in den USA immerhin seit 1987 gibt und die in Deutschland 1998 das 3. Mal von "Zeit" und IBM mittels eines Hyperfiction-Literaturwettbewerbs gefördert wird. Und es wären weitere Schnittstellen zwischen Technik und Literatur berichtenswert gewesen: so die Anwendung interaktiver, hypertextbasierter Fictions im Fremdsprachenunterricht, die den Studenten in den künstlichen Raum versetzen, um ihn dort Kommunikationshandlungen auszuführen zu lassen, 5 und so die Erstellung riesiger Hypertexte im Literaturunterricht wie der >künstliche Raum< des Dickens-Web 6 oder der des Shakespeare-Archivs. 7 Zu all diesen Anwendungsformen des elektronischen Mediums in der Sprach- und Literaturwissenschaft hätte man gern einen Beitrag im Band gesehen.


"vertrotzte Bildungsbürgerlichkeit"

Daß die Konferenz solche Beiträge nicht lieferte, spiegelt ein Problem der deutschen Hochschullandschaft: die Resistenz der Geistes- und im vorliegenden Fall der Literaturwissenschaft gegenüber dem neuen Medium. Für diesen Umstand fand die dem Thema "Medienwissenschaft – Medienerziehung" gewidmete Fachtagung des Deutschen Germanistenverbandes im Januar 1997 deutliche Worte der Kritik und Mahnung. Peter Glotz sprach von "vertrotzter Bildungsbürgerlichkeit und romantischer Technikfeindschaft" 8 der Lehrer und nannte die Verweigerung der "Computer- and Media Literacy" die ">Bildungskatastrophe< der neunziger Jahre": im Jahr 2000, so Glotz, "werden rund vierzig Prozent der Berufstätigen ohne die Beherrschung der Telematik nicht mehr auskommen. Wir aber fertigen die junge Generation ab: Lernt bei Nintendo, was ihr braucht." 9

Hier schließt sich der Kreis an Überlegungen, Gefahren und Unterlassungen. Wenn es offenbar ist, daß die junge Generation heute zunehmend oder gar vorangig durch die Medien sozialisiert wird, ist zu fragen, wie sie dafür >fit< gemacht werden kann. Die Zensierung der Medien wird das Problem nicht lösen. Es kommt darauf an, daß die Schule ihre mediendidaktische Zuständigkeit und Verantwortung wahrnimmt; als Ergänzung (oder Schadensbegrenzung) der weniger pädagogischen Ambitionen von Nintendo. Dies fordert wiederum zunächst eine Offenheit der geisteswissenschaftlichen Fakultäten für die virtuelle Realität: des Fernsehens als gegenwärtigem und des Cyberspace als künftigem Hauptsozialisationsmedium der jungen Generation.

Der vorliegende Band ist ein weiterer Beitrag im Bemühen, dem Gegenstand die akademische Würde zu verschaffen. Dies ist unabdingbar, denn es ist nicht zu früh, nach den philosophischen, psychologischen und sozialen Konsequenzen dieses Mediums zu fragen. Die Trennung zwischen Medium und Realität fällt hier weit schwerer als in allen bisherigen Fällen, man sollte beizeiten diskutieren, wie man den reflexiven, ironischen Umgang mit diesem Medium einüben kann, damit der Unterschied bewußt bleibt und Halbwüchsige nicht, in Verkennung der Handlungsebenen und dessen, was nicht künstlicher Raum ist, in der Schule ihren Lehrer mit der Pistole bedrohen.


Dr. Roberto Simanowski
Georg-August-Universität Göttingen
Seminar für Deutsche Philologie
Jacob-Grimm-Haus
Käte-Hamburger-Weg 3
D-37073 Göttingen

Ins Netz gestellt am 31.08.1999.

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Anmerkungen

1 Peter Winterhoff-Spurk: Fernsehwissen und Weltwissen. Opladen 1989. zurück

2 Bernd Scheffer: Interpretation und Lebensromen. Zu einer konstruktivistischen Literaturtheorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992, S. 8. zurück

3 Ebd., S. 30. zurück

4 Florian Rötzer und Peter Weibel (Hgg.): Cybersapce: Zum Medialen Gesamtkunstwerk. München 1993, S. 9. zurück

5 Vgl. Janet H. Murray: Reconstructing Space, Time, Story, and Text in Advanced Multimedia Learning Environments. In: Edward Barrett (Ed.): Sociomedia. Multimedia, Hypermedia, and the Social Construction of Knowledge. Cambridge, Massachusetts: MIT Press 1992, S. 319-345. zurück

6 Vgl. das Kapitel "Reconfiguring Literary Education", in: George P. Landow: Hypertext 2.0. Baltimore und London: John Hopkins University Press, 1997 (1.Aufl. 1992). zurück

7 Peter Donaldson: The Shakespeare Interactive Archive: New Directions in Electronic Scholarship on Text and Performance. In: Edward Barrett (Ed.): Contextual Media, Multimedia and Interpretation. Cambridge: MIT Press 1995, S. 103-127. zurück

8 Peter Glotz: Medienpolitik als Wissenschafts- und Bildungspolitik. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes, März 1997 "Medienwissenschaft und Medienerziehung", S. 10-22, hier: 16f. und 17. zurück

9 Ebd., S.17. zurück