Singh über Fick: Das Lessing-Handbuch

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Sikander Singh

Das Lessing-Handbuch
"Ein Schatz von richtigen Zergliederungen
und fruchtbaren Anmerkungen"

  • Monika Fick: Lessing-Handbuch. Leben — Werk — Wirkung. Stuttgart u. Weimar: Metzler 2000. XVIII, 517 S. Geb. DM 78,-.
    ISBN 3-4760-1685-4.


Nachdem in den letzten Jahren auch die Germanistik die Autoren- und Epochen-Handbücher als sinnvolle Nachschlagewerke und grundlegende Orientierungshilfen in einer sich immer weiter ausdifferenzierenden Forschungslandschaft entdeckt hat und sowohl die Schriften Fontanes und Goethes, Heines und Schillers als auch die Werke anderer Autoren der deutschen Literaturgeschichte auf diese Weise erschlossen worden sind, liegt nun eine Arbeit über den Aufklärer Gotthold Ephraim Lessing vor. Im Gegensatz zu anderen Handbüchern ist das Lessing-Handbuch nicht das Ergebnis einer Kooperation mehrerer Wissenschaftler, sondern die Leistung einer einzelnen Forscherin. Die in Aachen lehrende Literaturwissenschaftlerin Monika Fick hat die zweiteilige Studie über Lessings Leben und Werk, seine Epoche und die Zeitgenossen im Alleingang erarbeitet. Ebenso detailreich wie philologisch präzise werden Person, Werk, Zeit und Wirkungsgeschichte in Einzelartikeln analysiert und interpretiert. Das Handbuch bietet in einer Zeit, in der die Vielzahl der Fragestellungen und Ansätze längst unübersichtlich geworden sind, einen zuverlässigen und für die Zukunft unerläßlichen Begleiter durch die Lessing-Forschung.

Über Zeit und Person

Der erste Teil untersucht die Zeit und die Person Lessings und bietet neben einem einführenden Kapitel, das die historischen Entwicklungen Deutschlands im 18. Jahrhundert beleuchtet, einen biographischen Abriß, der den Schriftsteller vor dem zeitgenössischen Hintergrund darstellt. Dabei widmet sich das Kapitel zwei Persönlichkeiten, die das Leben und Werk des Schriftstellers nachhaltig geprägt haben: Christlob Mylius, Mentor des jungen Lessing, der den 17-jährigen in das literarische Leben der Buchmetropole Leipzig einführt und mit dem er ab 1748 in Berlin zusammenlebt, und Moses Mendelssohn, der jüdische Gelehrte, dem Lessing bis zu seinem Tod freundschaftlich verbunden ist. Die auf Briefen und Lebenszeugnissen basierende diachrone Darstellung der Selbstcharakterisierungen und des Persönlichkeitsbildes Lessings, mit denen Monika Fick das erste Kapitel beschließt, eröffnet über biographische Fragestellungen Perspektiven auf die Themen und Motive des literarischen Werkes und seines entstehungsgeschichtlichen Hintergrundes.

In ebenso präzisen wie prägnanten Abschnitten untersucht die Autorin im zweiten Kapitel die Nachwirkung Lessings. Die 1781 erschienenen Nachrufe werden im Kontext der theologisch-philosophischen, dramatischen und kritischen Debatten betrachtet, an denen Lessing mit seinen Werken beteiligt war oder die er ausgelöst hat. Durch diese Vorgehensweise werden die Urteilsstrukturen und -mechanismen herausgearbeitet, die bis in die Gegenwart die wissenschaftliche wie öffentliche Wahrnehmung des Schriftstellers geprägt haben und die im zweiten Teil des Handbuchs wenig Beachtung finden, wo die zeitgenössische Aufnahme einzelner Werke einer synoptischen Übersicht entgegenstehen muß. Die kontrastierenden und stilisierenden Lessing-Bilder der Romantiker, Jungdeutschen und Realisten im 19. Jahrhundert werden ebenso wie das einseitige und von ideologischen Prämissen deformierte Bild des Schriftstellers im Nationalsozialismus dargestellt. Die unterschiedlichen und ebenfalls von ideologischen Vorgaben geprägten Lessing-Bilder der ost- und westdeutschen Forschung nach 1945 beschließen das rezeptionsgeschichtliche Kapitel und geben zugleich den im zweiten Teil diskutierten neueren Forschungsergebnissen einen historischen Hintergrund.

Über den Kontext des Handbuches hinaus weisen die den ersten Teil beschließenden Kapitel, in denen die Verfasserin sich mit den philosophischen Strömungen des Aufklärungszeitalters auseinandersetzt und die ideengeschichtliche und literarhistorische Einordnung Lessings in die Strömungen und Tendenzen des 18. Jahrhunderts diskutiert.

Bemerkenswert ist die Prägnanz, mit der es Monika Fick gelingt, die grundlegenden philosophischen und literaturgeschichtlichen Voraussetzungen zu erarbeiten sowie den politischen und sozialen Horizont der Epoche zu umreißen. Die Darstellung bietet, nicht zuletzt durch die bibliographischen Hinweise, Literaturstudenten eine hervorragende Einführung in zentrale Problemstellungen des Zeitalters der Aufklärung.

Über das Werk

Der zweite Teil befaßt sich mit dem literarischen und kritischen Gesamtwerk, das chronologisch in Einzelartikeln behandelt wird. Der Betrachtung der Werke ist eine bibliographische Analyse der Lessing-Ausgaben vorangestellt — beginnend mit den "Schriften" von 1753 bis 1755 bis zu den 12-bändigen "Werken und Briefen", die Wilfried Barner und Klaus Bohnen für den Deutschen Klassiker Verlag edieren. Den Band beschließen eine ebenso umfassende wie systematische Bibliographie, eine Zeittafel zu Lessings Leben sowie die Register (Werke, Sachen, Namen), unter denen das Sachregister besondere Erwähnung verdient, ermöglicht es doch den schnellen gezielten Zugriff auf einzelne Begriffe und Schlagworte, die das chronologisch aufgebaute Handbuch auch diachron erschließbar machen.

Die Analysen des Hauptteils folgen alle einem Schema, was zum einen für Übersichtlichkeit und Klarheit sorgt und zum anderen eine bemerkenswert ausgewogene Darstellung der lyrischen, dramatischen und kritischen Teile des vielfältigen Œuvres ermöglicht. Den Angaben zum Erstdruck und der Druckgeschichte folgen Informationen zur Entstehung des einzelnen Werkes, wobei Monika Fick besonderen Wert auf den literatur- und geistesgeschichtlichen wie den gattungstheoretischen Kontext der Entstehungsgeschichte legt. Im Stand der Forschung stellt die Verfasserin sowohl die wesentlichen Fragen und methodischen Ansätze der Interpretationsgeschichte wie die Desiderate der Lessing-Philologie klar strukturiert dar. Der Artikel über das wohl am häufigsten interpretierte Drama Lessings, die "Emilia Galotti", zeigt dies in exemplarischer Deutlichkeit. Das Handbuch gibt nicht nur einen Überblick über die politischen und soziologischen Interpretationsansätze sowie die werkimmanenten Deutungen auf der Grundlage der Hermeneutik, sondern referiert ebenso die Deutungsversuche, die sich aus psychoanalytischer und feministischer Perspektive dem Trauerspiel genähert haben. Methodisch konzentriert sich Monika Fick in den Analysen und Interpretationen der Werke auf die in der Forschung bisher debattierten Deutungsansätze, formuliert aber über den Stand der Diskussion hinausgehende Fragegestellungen, die zur Grundlage ihrer Interpretationen werden. Die zentralen Aspekte, die sowohl Lessings dramatisches wie theoretisches Schaffen bestimmt haben und vor deren Hintergrund Monika Fick die Werke analysiert, werden in der Einleitung formuliert: "Anschauung und Erkenntnis, Gefühlsimpuls und rationales Ziel, das Individuum in seiner kreatürlichen Bedingtheit und die Ordnung des Ganzen, Sinnlichkeit und Moralität, Natur und (göttlicher) Geist." (S. XV)

Daß die Analysen und Deutungen auf die bereits im Stand der Forschung diskutierten Fragestellungen verweisen und in ihrer detailreichen aber zugleich übersichtlichen Darstellung auf einschlägige Forschungsarbeiten verweisen, macht das Handbuch für die Zukunft zu einem unverzichtbaren Werk in der Auseinandersetzung mit Lessing. Das gilt sowohl für den Studenten, der sich mit dem Aufklärer und seiner Zeit im Rahmen seines Studiums auseinandersetzt, wie für den Forscher, dem das Handbuch eine solide und zuverlässige Basis für die wissenschaftliche Auseinandersetzung bietet. Immer wieder gibt die Autorin innerhalb einer Analyse Hinweise auf vergleichbare Fragestellungen und verweist auf ein anderes Kapitel des Handbuches, in welchem die Frage weiter diskutiert oder von einer anderen Seite beleuchtet wird. Termini, die für das Verständnis des Lessingschen Denkens unerläßlich sind, werden nicht nur erläutert, sondern aus den philosophischen, theologischen oder kunsttheoretischen Diskursen der Zeit entwickelt und faßbar gemacht.

Den Abschluß der Kapitel bildet jeweils ein der zeitgenössischen Rezeption des Werkes gewidmetes Unterkapitel. Daß die Verfasserin die Wirkung Lessings, wie sie selber in der Einleitung formuliert "in der Regel bis zu Goethe" dokumentiert (S. XV), ist die einzige etwas unglückliche Entscheidung des Handbuches, spiegelt doch die gewählte Form der Darstellung die in Deutschland ebenso einseitige wie problematische Wirkung der Aufklärung, die von der Nachwirkung der Klassik und insbesondere Goethes bis ins 20. Jahrhundert überlagert und dominiert worden ist. Dennoch bieten die "Aufnahme und Wirkung" überschriebenen Abschnitte einen zuverlässigen Einblick in einen Bereich der Lessing-Forschung, der bisher weder systematisch noch exhaustiv untersucht worden ist.

Beispiel: Faust-Fragmente

Monika Fick betrachtet die Faust-Fragmente vor dem Hintergrund des Spannungsverhältnisses zwischen dem aufklärerischen und erkenntnisorientierten Anspruch Lessings und der dem Faust-Stoff immanenten Skepsis gegenüber der wissenschaftlichen und verstandesbetonten Sicht der Welt. Wie Johann Wolfgang Goethe hat der Faust-Stoff auch Gotthold Ephraim Lessing von den Anfängen bis zu seinem Lebensende begleitet. Monika Fick teilt, im Konsens mit den bisherigen Untersuchungen, diese lebenslange Beschäftigung mit dem Thema in drei Phasen. In der ersten Konzeptionsstufe, zu der das sogenannte Berliner Szenar sowie das Fragment aus dem 17. "Literaturbrief" gehören, folgt Lessing den traditionellen Bearbeitungen des Stoffes und stellt das Teufelsbündnis und die damit verknüpfte schuldhafte Verstrickung Fausts ins Zentrum. Die zweite Konzeptionsstufe, die nur von Zeugnissen der Zeitgenossen belegt wird, deutet auf den Versuch, die Figur des Teufels, in Umkehrung der ursprünglichen Konzeption des Volksbuches, durch eine rationale Auslegung verstehbar zu machen und mit aufklärerischen Kategorien in Einklang zu bringen. In der dritten Stufe, die auf die Jahre nach 1777 zu datieren ist, wird der Teufelspakt zu einem Traum, aus dem Faust am Ende des Dramas geläutert erwacht.

Monika Fick deutet Lessings Auseinandersetzung mit dem Faust-Stoff auf mehreren Ebenen. Einerseits untersucht sie Lessings Interesse an der tragischen Situation des Gelehrten im Gravitationsfeld zwischen dem wissenschaftlichen Anspruch der Aufklärung und der ethischen Dimension menschlichen Handelns. Andererseits wird die Epochenverwandtschaft zwischen Renaissance und Aufklärung thematisiert, die zu dem erneuten Interesse an dem Stoff führt, das sich im 18. Jahrhundert nicht nur in den Fragmenten Lessings manifestiert, sondern auch in den Bearbeitungen des Sturm und Drang und der die Nachwirkung des Stoffes dominierenden Tragödie Johann Wolfgang Goethes. Indem die Verfasserin Lessings Auseinandersetzung mit Faust vor dem Hintergrund der Stoffgeschichte betrachtet und zugleich im Kontext der erkenntnistheoretischen Debatten der Aufklärung diskutiert, gelingt es ihr, nicht nur die spezifische Problematik der Faust-Fragmente Lessings herauszuarbeiten, sondern auch eines der zentralen Themen der Aufklärung, die Frage nach der Relation der Möglichkeit menschlichen Handelns und einem numinosen Schicksal in die Diskussion um die von der Forschung bisher eher kursorisch betrachteten Fragmente einzubringen.

Resümee

Das eigentlich Bemerkenswerte, das Monika Ficks Handbuch über den Bereich der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Lessing hinaus zu einer interessanten und lohnenden Lektüre macht, ist der gelungene Versuch der Autorin, sowohl das Gesamtwerk wie einzelne Werke im Kontext ihrer Zeit verstehbar zu machen. Selbst in der Analyse einer Detailfrage verliert die Autorin zu keinem Zeitpunkt den geistesgeschichtlichen und literarhistorischen Horizont der Fragestellung aus dem Auge. Kaleidoskopartig verknüpft sie Biographie, Literatur, Geschichte und Philosophie miteinander zu einer Einführung in die deutsche Literatur des 18. Jahrhunderts.

Ein weiteres Verdienst des Handbuches ist es, das vielseitige Œuvre des Aufklärers in seiner Gesamtheit zu untersuchen. Zwar werden einige frühe Komödien, kunsttheoretische und philosophische Schriften nur indirekt und im Kontext bedeutenderer Werke besprochen, aber zahlreiche, auch von der Forschung wenig rezipierte Texte, erfahren durch die chronologische Darstellung eine angemessene Wertung. Das Handbuch bietet eine enzyklopädische Darstellung Gotthold Ephraim Lessings, seines Denkens und seines Werkes im Kontext seiner Zeit, der höchstens das Didaktische mancher Frage, die Monika Fick formuliert, nur um sie gleich selbst zu beantworten, zum Vorwurf gemacht werden kann.

Die einzelnen Kapitel und Abschnitte sind zwar im Sinne eines Handbuches als in sich abgeschlossene Einheiten zu benutzen, aber ebensogut im Sinne einer Monographie zu lesen, da Fragestellungen und Probleme an unterschiedlichen Stellen wieder aufgegriffen und in dem jeweils neuen Kontext diskutiert werden. Die einzelnen Abschnitte zerfallen nicht in für sich stehende Kapitel, sondern bilden durch die inhaltliche Homogenität und formale Stringenz der ihr zugrunde liegenden Gedankengänge eine überzeugende Einheit.

Das seltene Lob zu dem sich der als nicht besonders zimperlich bekannte, von seinen Zeitgenossen gefürchtete und von der Nachwelt so bereitwillig vergessene Friedrich Nicolai im zweiten Stück des zehnten Bandes der "Allgemeinen deutschen Bibliothek" 1769 über die soeben erschienenen ersten Stücke der "Hamburgischen Dramaturgie" Gotthold Ephraim Lessings aufschwingt, gilt ganz sicher auch für das "Lessing-Handbuch" von Monika Fick: "Es ist ein Schatz von richtigen Zergliederungen und fruchtbaren Anmerkungen."


Sikander Singh M. A.
Technische Universität Darmstadt
Institut für Sprach- und Literaturwissenschaft
Hochschulstraße 1
D-64289 Darmstadt

Ins Netz gestellt am 02.10.2001
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