Staiger über Christen: Theorien des Film-Endes

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Michael Staiger

Theorien des Film-Endes

Kurzrezension zu
  • Thomas Christen: Das Ende im Spielfilm. Vom klassischen Hollywood zu Antonionis offenen Formen (Zürcher Filmstudien; 7). Marburg: Schüren 2002. 224 S. Kart. 24,80 €.
    ISBN 3-89472-507-9.

Würde man die filmwissenschaftliche Literatur im deutschsprachigen Raum nach den von ihr behandelten Themen kartographieren, so würde sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine Landkarte mit unzähligen weißen Flecken ergeben. So wurden in den letzten Jahren teilweise zwar große verlegerische Anstrengungen bezüglich der Publikation neuer filmwissenschaftlicher Studien erbracht, im Vergleich zum anglo-amerikanischen oder französischen Filmbuchmarkt erscheint das deutsche Angebot jedoch nach wie vor als entwicklungsbedürftig. Einen Beitrag zur Schließung dieser Forschungslücken leistet seit einiger Zeit die Reihe Zürcher Filmstudien, die seit dem vierten Band im Marburger Schüren-Verlag erscheint. Die Studien stammen alle aus dem Umfeld des Seminars für Filmwissenschaft an der Universität Zürich und werden von Prof. Christine N. Brinckmann herausgegeben.

Thomas Christen befasst sich in seiner Dissertation Das Ende im Spielfilm. Vom klassischen Hollywood zu Antonionis offenen Formen mit einem beliebten Ansatzpunkt der Filmanalyse, dem Film-Ende, das bisher aus wissenschaftlicher Sicht jedoch nur wenig untersucht wurde. So wie der Film-Anfang selbstverständlich als Beginn der Erzählung, als Eingang in eine fiktionale Welt betrachtet wird, so bezeichnet das Film-Ende dazu komplementär das Ende der Erzählung und das Verlassen der Fiktion. Erst eine intensivere Betrachtung des Themenfeldes fördert die Komplexität dieser scheinbar so einfach zu fassenden Kategorien zutage, insbesondere im Blick auf die Kommunikationssituation zwischen Filmemacher und Filmrezipient. So stellt sich die Frage, ob das Ende eines Films tatsächlich immer eine Art unsichtbaren Magneten darstellt, "[...] der alles anzieht, auf den alles zusteuert, ohne dass die genauen Eigenschaften dieses Anziehungspunktes bekannt wären." (S. 10). Dies behauptet zumindest die strukturalistisch ausgerichtete Narratologie.

Christen nähert sich der Problematik aus drei verschiedenen Blickwinkeln: In einem ersten Teil wird ausgehend von narratologischen Konzepten eine Theorie des Film-Endes vorgestellt, im zweiten Teil geht es aus einer ikonographisch-formalen Perspektive heraus um eine Typologie des Endes im Film, u.a. am Beispiel des Western-Genres. Die in den ersten beiden Teilen erarbeiteten Theorie-Elemente werden dann als Fallstudie am Oeuvre Michelangelo Antonionis erprobt, unterstützt durch einen ausführlichen, über 70 Seiten umfassenden Anhang mit Bildsequenzen aus den untersuchten Filmen.

Aspekte einer Theorie des Film-Endes

Nun zu einigen Ergebnissen der Studie. Zuerst einmal lässt sich definitorisch feststellen, dass das letzte Element im realzeitlichen Ablauf des Films als Film-Ende bezeichnet werden kann. Diese Betrachtungsweise bezieht sich auf die Ebene des Plots, dessen Ende sich auch am Ende des Films befinden muss, nicht jedoch auf die Ebene der Story, die nicht zwingend mit dem Film zu enden hat, da sie vom Betrachter konstruiert wird und zusätzliche Elemente über den Plot hinaus enthält. Die Unterscheidung zwischen Plot und Story verweist bereits auf die Bedeutung des Rezipienten in der filmischen Kommunikation, denn letztlich obliegt ihm die Entscheidung, ob die Narration in der vom Filmemacher intendierten Weise gelingt oder nicht.

Im klassischen Kino folgt die Erzählstruktur oft der Formel "Rätsel – Lösung des Rätsels" oder "Ruhe – Unruhe – Wiederherstellung der Ruhe" (S. 10), so dass sich mit dem Ende ein "Zustand der Stabilität" (S. 17) ergibt. Solche geschlossenen dramaturgischen Formen liegen dem Großteil der Hollywood-Produktionen zugrunde und bestimmen folgerichtig auch die Drehbuchtheorie, die oftmals die klassischen Drei- und Fünfakt-Strukturen lehrt. Neben seiner Einfachheit spricht für einen solchen Erzählaufbau auch der kommerzielle Faktor, denn auffallend viele der finanziell erfolgreichen Filme sind nach solchen Schemata aufgebaut.

Hier kommt ein weiterer Aspekt des Film-Endes zum Tragen, den Christen "genussvolles Erleben" (S. 11) nennt. Ein Film, der bestimmte angenehme Emotionen oder ästhetische Erfahrungen in uns auslöst, evoziert das Bedürfnis, das Ende so lange wie möglich hinauszögern zu wollen. Das Ende verliert in diesem Fall seine >magnetische< Anziehungskraft, da es sich nicht mehr um die Auflösung eines Rätsels oder Konflikts dreht, sondern zur Hilfestellung wird, um die – emotional besetzte – fiktive Welt wieder verlassen zu können. So kommt dem Film-Ende auch in diesem Fall eine entscheidende Bedeutung im Rahmen der filmischen Kommunikation zu.

Grundsätzlich lässt sich nach Christen festhalten,

[...] dass sich der Gehalt einer Erzählung erst aus ihrem Ende erschließt und dass dieses Ende tatsächlich eine besondere Stellung einnimmt: ein Punkt, an dem die prospektiven Kräfte versiegen, die retrospektiven dagegen ihre stärkste Ausprägung erfahren. (S. 18)

Die populärste Form des Abschlusses eines Films dürfte das >Happy-End< sein, das dem Zuschauer ein Gefühl des Glücks und der Sicherheit suggeriert, so dass er sorglos und gestärkt das Kino verlassen kann. Gleichzeitig impliziert diese Form eine dualistische Schwarz-Weiß-Struktur, die sich im Sieg des Guten über das Böse manifestiert. Trotz aller Konventionalität muss ein funktionierendes &>Happy-End< über eine gewisse Plausibilität verfügen, also einigermaßen logisch und wahrscheinlich aus dem Handlungsverlauf heraus zu erschließen sein. Das >Happy-End< ist somit immer Teil einer geschlossenen dramaturgischen Form und wichtiges Element in der Grammatik des Hollywood-Kinos. Offene Enden sind hingegen selten und bringen einige Probleme der Kategorisierung mit sich. Sie ergeben sich zumeist aus nicht am Kausalitätsprinzip ausgerichteten Erzählen, z.B. in episodischen oder zyklischen Formen.

Formale Konventionen des Film-Endes

Neben narratologischen Aspekten stellt sich im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung mit Film-Enden freilich auch die Frage nach den formalen Konventionen, die sich im Laufe der Filmgeschichte herausgebildet haben. Endeten Filme bis in die sechziger Jahre meistens mit einer Schrift-Einblendung wie >Ende<, >Fin< oder >The End<, so findet man heute oft mehrere Minuten Nachspann mit der Nennung aller am Produktionsprozess Beteiligten. Christen unterscheidet darum zwischen dem >äußeren Ende<, also dem Nachspann als Ende der Projektion und dem >inneren Ende<, womit er das Ende der Filmerzählung bezeichnet (vgl. S. 61).

Für die Realisierung des inneren Endes ergibt sich ein ganzes Spektrum von möglichen ikonografischen Verfahren, von der Distanzierung durch die Kamera, z.B. in einer Fahrt oder einem Zoom über die Metapher des Schließens von Fenstern, Türen, Vorhängen bis hin zum Freeze-Frame, der das letzte Bild erstarren und eine Zeit lang stehen lässt. Die Reduktion der Diegese kann auch durch ganz einfache Verfahren wie eine Abblende, dem Wegnehmen der Schärfe oder eben der Einblendung eines End-Titels erfolgen. Ein Sonderfall der Kennzeichnung des Endes wäre ein selbstreflexives Moment, in dem sich der Film selbst als Film und somit als Artefakt und Inszenierung offenbart.

Am Beispiel des Western-Genres veranschaulicht Christen die Stereotypisierung, die sich durch bestimmte Genrekonventionen entwickeln kann. Er unterscheidet drei typische Enden von Westernfilmen:

  1. "Und sie ritten davon" – der Held verlässt nach dem Showdown den Schauplatz,

  2. "Symbolische Geste" – zum Beispiel das Wegwerfen der Waffe oder des Sheriffsterns und

  3. "Präsenz der Landschaft" – das Panorama der Prärie, in der sich der einzelne Mensch verliert (vgl. S. 102 ff.).

Da der Western ein in sich sehr geschlossenes Genre darstellt, zeigt sich gerade im Hinblick auf das Film-Ende wenig Experimentierfreude, Christen stellt fest: "Innovationen [...] zeigen sich in Filmen, die eine Genrebindung aufweisen, andernorts, nicht am Ende." (S. 108). Darum verortet er seine Fallstudie auch nicht im Bereich des Genrekinos, sondern im Autorenfilm.

Fallstudie:
Film-Enden bei Antonioni

Das letzte Kapitel enthält Feinanalysen der Film-Enden von elf Filmen Michelangelo Antonionis. Von der Beschränkung auf das Werk eines Regisseurs erhofft sich Christen einen Erkenntnisgewinn im Hinblick auf einige wichtige Jahrzehnte des Art Cinema, da Antonioni von den 50er Jahren bis in die 80er als Filmemacher tätig war. Tatsächlich ergeben sich aus den Analysen interessante Erkenntnisse über Antonionis Schaffen, vor allem weil die Filme nicht nur im Hinblick auf ihren Erzählschluss, sondern auch auf den Erzählanfang hin beleuchtet werden.

Eine so strenge Eingrenzung des Untersuchungsfeldes auf einen einzigen Filmemacher erscheint jedoch als starker Kontrast zu dem im ersten Teil zugrunde gelegten, weit gefassteren Fokus. Zwar war sich Christen offenbar der Gefahr bewusst, dass hierdurch das Buch in zwei Teile zerfallen könnte, eines zur Theorie des Film-Endes und eines über Antonioni. Denn zurecht stellt er ja in seinem ersten Teil fest, dass sich viele Filmanalysen den Filmanfängen und -enden als Analyseobjekte bedienen. Doch trotz der Tatsache, dass er seine Analyse der Filme stets vor dem Hintergrund seiner theoretischen Überlegungen und auf einem hohen Niveau durchführt, fällt letztlich der Transfer der Erkenntnisse aus dem Antonioni-Kapitel auf andere Regisseure, bestimmte Genres oder gar Einzelfilme sehr schwer.

Auch die Ausführungen über den Western helfen im Blick auf andere Genres nur wenig, da diese nicht immer eine so deutlich nachvollziehbare Entwicklungsgeschichte aufweisen und somit auch keine entsprechend offensichtlichen Stereotypisierungen. Ein weitere Begrenzung ergibt sich aus der Fokkusierung auf das klassische Kino und das "Art Cinema westlicher Prägung" (S. 14), wodurch viele ästhetische Inspirationsquellen des heutigen Kinos ausgeblendet werden. So konstituiert sich der postmoderne Film gerade durch seinen spielerischen und experimentierfreudigen Umgang mit Genrekonventionen und Filmstilen und entwickelt – mit der Mediengeschichte als Steinbruch – bricolageartige Artefakte, die zum Teil nicht mit den entwickelten Kategorien zu erfassen sind.

Eine breit angelegtere Untersuchung des Ende im Spielfilms steht somit immer noch aus, Thomas Christen hat in seiner Dissertation jedoch einen ersten wichtigen Beitrag zur Schließung dieser Forschungslücke der Filmwissenschaft geleistet.


Dipl.-Päd. Michael Staiger
Pädagogische Hochschule Freiburg
Institut für deutsche Sprache und Literatur
Kunzenweg 21
D - 79117 Freiburg i.Br.
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Ins Netz gestellt am 12.09.2002
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