Staiger über Lesekompetenz revisited
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Lesekompetenz revisited

  • Heinz Bonfadelli u.a. (Hg.): Medienkompetenz und Medienleistungen in der Informationsgesellschaft. Beiträge einer internationalen Tagung. Zürich: Pestalozzianum 2004. 240 S. Paperback. EUR (D) 32,00.
    ISBN: 3-03755-027-9.
  • Michael Kämper-van den Boogaart (Hg.): Deutschunterricht nach der PISA-Studie. Reaktionen der Deutschdidaktik. Frankfurt / M.: Peter Lang 2004. 244 S. 1 Abb. Paperback. EUR (D) 39,80.
    ISBN: 3-631-51994-X.
  • Ulrich Schiefele u.a. (Hg.): Struktur, Entwicklung und Förderung von Lesekompetenz. Vertiefende Analysen im Rahmen von PISA 2000. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2004. 358 S. 27 s/w Abb. Paperback. EUR (D) 27,90.
    ISBN: 3-8100-4229-3.
  • Marion von der Kammer: Wege zum Text. Sechzehn Unterrichtsmethoden für die Entwicklung der Lesekompetenz. (Deutschdidaktik aktuell 18) Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2004. XII, 343 S. Paperback. EUR (D) 19,80.
    ISBN: 3-89676-822-0.
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Der Begriff »Lesekompetenz« hat unmittelbar nach der Veröffentlichung der Ergebnisse der PISA-2000-Studie (vgl. Baumert u.a. 2001) eine große Popularität erfahren. 1 In den teils ausgiebigen öffentlichen Debatten der letzten Jahre wurden inzwischen zahlreiche potenzielle Ursachen für die schlechten Ergebnisse der deutschen Schüler in Bezug auf die Lesekompetenz diskutiert. Auf bildungspolitischer Ebene wurde ebenfalls gehandelt, innerhalb eines relativ kurzen Zeitraumes wurden Expertisen eingeholt und nationale Bildungsstandards vereinbart (vgl. Klieme u.a. 2002), um ein einheitliches Anforderungsniveau in allen Bundesländern zu gewährleisten. In der (Medien-)Öffentlichkeit scheint die Wirkung des ›PISA-Schocks‹ angesichts der etwas besseren Ergebnisse in PISA 2003 inzwischen etwas nachzulassen, die Anzahl der wissenschaftlichen Publikationen nimmt hingegen ständig zu. Im Folgenden werden vier neuere Titel vorgestellt, die sich aus sehr unterschiedlicher Perspektive mit dem Thema Lesekompetenz befassen.

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Lesekompetenz nach PISA

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In der PISA-Studie wird unter Lesekompetenz die Fähigkeit verstanden, »[…] geschriebene Texte unterschiedlicher Art in ihren Aussagen, ihren Absichten und ihrer formalen Struktur zu verstehen und in einen größeren Zusammenhang einordnen zu können, sowie in der Lage zu sein, Texte für verschiedene Zwecke sachgerecht zu nutzen« (Baumert u.a. 2001, S.10). Lesen wird hierbei nicht nur auf schriftliche Texte bezogen, der Textbegriff der Studie umfasst neben den so genannten ›kontinuierlichen Texten‹ – Erzählung, Darlegung, Beschreibung, Argumentation, Anweisung – auch ›nicht kontinuierliche Texte‹ – Diagramme / Graphen, Tabellen, schematische Zeichnungen, Karten, Formulare, Anzeigen.

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Darüber hinaus betrachtet die PISA-Studie Lesekompetenz als Basiskompetenz für das Lernen und den Wissenserwerb insgesamt, aber auch für die Persönlichkeitsentwicklung, die Sozialisation und die Enkulturation. Diese Konzeptualisierung von Lesekompetenz berücksichtigt somit neben sozio- und psycholinguistischen Aspekten auch eine sozialisations- und lerntheoretische sowie eine motivationspsychologische Komponente und unterscheidet sich teilweise grundlegend von einem geistes- und kulturwissenschaftlich orientierten Verständnis von Lesekompetenz bzw. literarischer (Rezeptions-)Kompetenz.

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Die vorliegenden Publikationen bestätigen diese Kluft, sie belegen jedoch auch die Anstrengungen zur Vermittlung zwischen den unterschiedlichen Konzeptualisierungen. Deutlich wird dies beispielsweise im Blick auf den Sammelband Struktur, Entwicklung und Förderung von Lesekompetenz. Die Herausgeber Schiefele, Artelt, Schneider und Stanat haben sich hier ein zweifaches Ziel gesetzt: »Zum einen sollte das Konstrukt Lesekompetenz differenziert analysiert werden und zum anderen wollten wir weiterführende und vertiefende Datenauswertungen vorlegen« (S. 10). Hierzu versammeln sie Beiträge, die ein relativ breites Spektrum von Ergebnissen präsentieren, zum Beispiel: Schneider kommt in seinen Überlegungen zur frühen Entwicklung von Lesekompetenz zu dem Schluss, dass eine Förderung phonologischer Bewusstheit und der Buchstaben-Laut-Zuordnung im Vorschulalter sich nicht nur generell positiv auf die Lesekompetenz auswirkt, sondern dass sich solche Fördermaßnahmen auch im Sinne einer Prävention von Schriftsprachproblemen als effektiv erweisen (vgl. S. 34).

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Hurrelmann betont in ihren Ausführungen zur Sozialisation der Lesekompetenz, »[…] dass sich pädagogische Prozesse nicht auf kognitive Fähigkeitsschulung beschränken können, sondern die sozialsymbolischen und normativen Implikationen des Kompetenzerwerbs bei der Förderung notwendig mit zu berücksichtigen sind« (S. 59). Hiermit wird der »Doppelcharakter« (S. 58) der Lesesozialisation hervorgehoben, die immer zugleich Lern- und Enkulturationsprozess ist. Während sich die Lesesozialisationsforschung bislang vorrangig mit dem letzteren Aspekt befasste, betont PISA laut Hurrelmann den Lernprozess. Leseförderung sollte deshalb in einem positiven Zusammenwirken der Sozialisationsinstanzen und somit in der Verbindung von Schulkultur und freizeitbezogener Kinder- und Jugendkultur stattfinden. Hier bietet sich in strukturell-organisatorischer Hinsicht in erster Linie die Primarstufe an.

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Schnotz und Dutke reflektieren in ihrem Beitrag die kognitionspsychologischen Grundlagen der Lesekompetenz und plädieren für eine systematischere Berücksichtigung des aktuellen Forschungsstandes zum Text-, Bild- und Diagrammverstehen in Lesekompetenz-Modellen. Dies böte nicht nur die Möglichkeit zur besseren Ausnutzung des diagnostischen Potenzials von einzelnen Test-Aufgaben, sondern könnte auch für die Planung und Realisierung von didaktischen Fördermaßnahmen nützlich sein. Möller und Schiefele fokussieren den Aspekt der Lesemotivation, die laut den PISA-Ergebnissen bei den 15-jährigen Schülern in Deutschland weit unterdurchschnittlich ausgeprägt ist. Die bisherige Forschung, so resümieren die Autoren in ihrem Aufsatz, zeige relativ eindeutig, dass motivationalen Faktoren ein Einfluss auf die Lesekompetenz zugesprochen werden könne, insbesondere das »lesebezogene Selbstkonzept« und »lesebezogene Selbstwirksamkeitsüberzeugungen« (S. 123).

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Doch vielfach liegen bis dato noch zu wenige Studien in diesem Bereich vor, zum Beispiel in Bezug auf die Beziehungen zwischen Lesemotivation und Lesekompetenz bei Schülern in mittleren und höheren Jahrgangsstufen. Dieser Blick auf einige Beiträge aus dem Sammelband Struktur, Entwicklung und Förderung von Lesekompetenz lässt erstens die Komplexität des Forschungsfeldes erahnen und unterstreicht zweitens die unbedingte Notwendigkeit einer interdisziplinären Kooperation. Die Anlage des Bandes von Schiefele u.a. bezeugt die grundsätzliche Absicht, die Disziplinen in einen produktiven Dialog zu bringen, es zeigt sich jedoch gleichzeitig die Schwierigkeit eines solchen Unterfangens: Der Band versammelt zwar recht unterschiedlich perspektivierte Zugänge zu PISA, doch letztlich stehen die Beiträge mehr nebeneinander als im Dialog miteinander.

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Lesekompetenz versus Medienkompetenz?

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Im Hinblick auf das im letzten Jahrzehnt ebenfalls viel diskutierte Schlagwort ›Medienkompetenz‹ lassen sich im Rahmen kulturwissenschaftlicher Forschung bereits seit einiger Zeit verstärkte Bemühungen zur Vermittlung mit Konzepten der Lesekompetenz ausmachen. Anstatt die innerhalb der Literaturwissenschaft lange Zeit forcierte Opposition zwischen ›der Literatur‹ und ›den Medien‹ (vgl. hierzu Stanitzek 2001) fortzuschreiben, wird in neueren Publikationen zunehmend versucht, den Zusammenhang zwischen Lese- und Medienkompetenzen herauszuarbeiten. So betont beispielsweise Hurrelmann in ihren Überlegungen zur Sozialisation der Lesekompetenz die Notwendigkeit einer Integration von Lese- und Medienunterricht. Eine angemessene Nutzung des Internets setze »ausgebildete Lese- und Schreibkompetenzen« (Hurrelmann in Schiefele u.a., S. 57) voraus. Deshalb ist es laut Hurrelmann Aufgabe der Schule, »Lesekompetenz langfristig als Teil einer umfassenden Medienkompetenz zu bewerten und zu fördern« (S. 60).

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Auch in dem medienwissenschaftlich ausgerichteten und 2004 erschienenen Tagungsband Medienkompetenz und Medienleistungen in der Informationsgesellschaft findet sich ein eigenes Kapitel zur Lesekompetenz. Vorgestellt wird eine Studie, die den Zusammenhang zwischen inner- und außerschulischen Determinanten der Lesesozialisation und somit natürlich auch das Lesen im Kontext von alten und neuen Medien untersucht. Kassis und Schneider stellen hier fest, dass die Familie zwar ein zentraler Faktor im Prozess der Lesesozialisation darstellt, dass sie jedoch nicht zu einer »allmächtigen Instanz« stilisiert werden sollte, denn bedeutsam ist beispielsweise auch die Einbindung der Jugendlichen in die Gleichaltrigengruppe (vgl. Kassis / Schneider in Bonfadelli u.a., S. 115). Hinzu kommen geschlechtsspezifische Differenzen: »Bei Mädchen scheint das Gemeinschaftserlebnis, das empathische Miteinander wichtig für ein starkes schulisches Selbstvertrauen zu sein, das seinerseits die Lesesozialisation unterstützt. […] Bei den Jungen stehen die Geschlechterrollenstereotype als wichtigstes Hindernis der Lesesozialisation im Wege« (S. 116).

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In einer zweiten im Tagungsband dokumentierten Studie geht es um medienübergreifende Lese- und Erzählkompetenzen. So stellt Bertschi-Kaufmann fest, dass die Auswahl, die Kinder und Jugendliche aus dem vielfältigen Medienangebot treffen, nicht nur Folgen für die »Lese- und Schreibaktivität der Heranwachsenden« hat, sondern auch deren »Kompetenzen im Umgang mit Schrift« (Bertschi-Kaufmann in Bonfadelli u.a., S. 120) beeinflusst. Ihre Untersuchung zeigt, dass sich die Entwicklung von Lesekompetenzen – seien sie auf Printmedien oder auf interaktive Medien bezogen – vielfach nicht als schematischer Entwicklungsverlauf beschreiben lässt. Es wird betont, dass unterschiedliche Medienangebote verschiedene Qualitäten der Rezeption schaffen, so fördern Adventures auf CD-ROM die »[…] aktive Konstruktion eines Geschichtenschemas und die emotionale und sprachliche Beteiligung an einem fiktionalen Geschehen, das Kinder mit der eigenen Rekapitulation in ihr Geschichtenrepertoire aufnehmen« (S. 130). Für die Entwicklung literarischer Rezeptionskompetenz bescheinigt die Autorin den gedruckten Kinderbüchern hingegen ein weit größeres Förderpotenzial (vgl. S. 130f.).

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Eine »multimediale Förderanlage«, in der Kinder zwischen Buch- und Bildschirmlektüren wählen können, kommt jedoch insbesondere Jungen entgegen, die im traditionellen Leseunterricht häufig als »Sorgenkinder« (S. 131) gelten: »Mädchen wählen Interactive Books vor allem als Auflockerung zwischen ihren Buchlektüren, während viele Jungen die CD-ROM häufig als Einstiegslektüre nutzen […]«(ebd.). Hier zeigt sich deutlich, dass die Erfassung, aber insbesondere auch die Vermittlung und Förderung von Lesekompetenz(en) immer auch eine mediale und eine geschlechtsspezifische Dimension beinhaltet. Die Konzeptualisierungen von Lesekompetenz sollten sich deshalb nicht als Gegenentwürfe zu den Konzepten der Medienkompetenz verstehen, sondern die zahlreichen Schnittstellen und wechselseitigen Bezüge von Lese- und Medienkompetenz(en) reflektieren. Auch hier ist eine interdisziplinäre Kooperation angezeigt, insbesondere zwischen den Kommunikationswissenschaften und der Medienpädagogik. Der Tagungsband von Bonfadelli u.a. dokumentiert die Bemühungen zu einer solchen Zusammenarbeit und deren erste Ergebnisse.

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Lesekompetenz und Deutschdidaktik

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Im Nachklang der PISA-Studie befassten sich nicht nur verschiedene Fachrichtungen der Psychologie und der Pädagogik sowie die Medien- und Kommunikationswissenschaften intensiver mit dem Thema Lesekompetenz, sondern verstärkt auch die Deutschdidaktik. Als praxisorientierte Disziplin liegt ihr Interesse neben der empirischen Erforschung von Lesekompetenz vor allem in der Reflexion von Möglichkeiten zu ihrer Vermittlung und Förderung im schulischen Deutschunterricht. Dies dokumentieren neben den Statements in der Presse und im Internet (vgl. z. B. Abraham u.a. 2002) entsprechende Themenhefte der Fachzeitschriften (z. B. Praxis Deutsch 176/2002, Deutschunterricht 5/2003) und der 2003 erschienene Sammelband Deutschdidaktik und Deutschunterricht nach PISA (Abraham u.a. 2003).

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Diese ersten Reaktionen auf PISA werden nun in einem von Kämper-van den Boogaart herausgegebenen Band mit dem Titel Deutschunterricht nach der PISA-Studie fortgeführt, der auf eine Ringvorlesung an der Humboldt-Universität Berlin zurückgeht. Auffallend ist auch hier die große Bandbreite von Einzelaspekten, die von den Beiträgern abgedeckt werden. Holle befasst sich beispielsweise mit einigen grundlegenden begrifflichen Problemen im PISA-Diskurs: Er zeigt anhand eines Vergleichs der Definitionen von ›reading literacy‹ bzw. ›Lesekompetenz‹ in der neuseeländischen und der deutschen Zusammenfassung der PISA-Ergebnisse auf, dass im Rahmen der Studie in verschiedenen Ländern zwar vergleichbare Fragebögen eingesetzt wurden, die Konzeptualisierungen der Kompetenzen sich jedoch unterscheiden. So verstehen die deutschen Autoren Lesekompetenz laut Holle »[…] nicht nur als eine bestimmte Fähigkeit als solche, sondern auch als ein ›Hilfsmittel‹, eine ›Bedingung‹ und eine ›Voraussetzung‹ für etwas anderes«, in der neuseeländischen Version ist reading literacy »[…] als reading to learn den basalen Lesefertigkeiten gegenüber durch eine finale Relation zwischen dem Lesen und den genannten Zielsetzungen ausgezeichnet« (Holle in Kämper-van den Boogaart 2004, S. 19).

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In der deutschen Konzeptualisierung geht es also um eine kognitive Fähigkeit im engeren Sinne, während reading literacy mehr eine »sozio-kognitive Handlungsfähigkeit« (ebd.) bezeichnet. Darüber hinaus stellt Holle in der deutschen PISA-Studie eine Akzentuierung auf die Ebene des Textes fest, während in Neuseeland offensichtlich der Ebene des Lesers größeren Vorrang gegeben wird. Diese Differenzen lassen sich wohl unter anderem auf die grundsätzliche Unterscheidung zwischen ›literarcy‹ und ›reading‹ in der angloamerikanischen Lesedidaktik zurückführen (vgl. S. 20).

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Belgrad stellt in seinem Beitrag die Frage nach den Versäumnissen des Deutschunterrichts angesichts der Lesekompetenzschwächen, die in der PISA-Studie festgestellt wurden. Er verortet diese Versäumnisse in zwei Problemfelder: Erstens in der falschen Konzeptualisierung des Deutschunterrichts, in dem zwar nach wie vor gelesen und geschrieben wird, allerdings meist nur sehr kurze Texte, also »überproportional zu wenig« (Belgrad in Kämper-van den Boogaart, S. 41). Außerdem werden in der Schule die vielfältigen Anknüpfungspunkte zur Leseförderung kaum genutzt, zum Beispiel Comics als »Brückenkopf vom Wenig-Leser zum Viel-Leser« (S. 48), auch Lese- / Schreibschwächen werden oftmals zu spät erkannt.

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Als zweites Problemfeld benennt Belgrad »die mangelnde integrierte Elternarbeit an den Schulen« (S. 38), er fordert eine Professionalisierung dieser Arbeit, um der zentralen Rolle des Elternhauses im Rahmen der Lesesozialisation von Kindern und Jugendlichen gerecht zu werden. In weiteren Beiträgen des Bandes werden zusätzliche Schnittstellen des Lesekompetenz-Begriffs deutlich, etwa im Blick auf Deutsch als Zweitsprache (Rösch), im Zusammenhang mit Sprachreflexionskompetenz (Klotz), in Bezug zum Film (Paefgen) oder in der Frage nach dem grundsätzlichen Verhältnis von Kanon und Kompetenzen im Literaturunterricht (Müller-Michaels).

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Somit ist Deutschdidaktik und Deutschunterricht nach PISA ein typischer Sammelband mit sehr unterschiedlichen Blickwinkeln und methodischen Vorgehensweisen, er dokumentiert jedoch eindrücklich die intensive – und kritische – Auseinandersetzung der Deutschdidaktik mit der PISA-Studie und die Bemühungen der Disziplin, ihren spezifisch fachdidaktischen Beitrag im Rahmen der Entwicklung von Kompetenzmodellen zu leisten, wie dies in der Expertise zur Entwicklung von Bildungsstandards gefordert wird (vgl. Klieme u.a. 2003).

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Diesen notwendigen theoretischen Fragestellungen stellt von der Kammer mit ihrer Monographie ein methodisches Kompendium zur Entwicklung von Lesekompetenz zur Seite, das zum einen altbekannte und bewährte Methoden der Textarbeit in einem veränderten Licht erscheinen lässt und zum anderen nach neuen Verfahren des Umgangs mit Texten sucht. Diese Wege zum Text stehen im Zeichen der neuropsychologischen Theorie des Textverstehens, die in den letzten Jahrzehnten u.a. von Grzesik theoretisch fundiert und didaktisch reflektiert worden ist (vgl. z. B. Grzesik 1996). Ausgangspunkt ist eine systematische Förderung der Lesekompetenz, die an den vielfältigen Operationen des Textverstehens ansetzt: »Wenn Schüler Textverstehen systematisch lernen sollen, müssen sie immer wieder Aufgaben erhalten, die sie gezielt anregen, textverstehende Operationen zu vollziehen, die geeignet sind, ihnen den Weg zum Sinn eines Textes zu bahnen« (S. 22f.).

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Für die praktische Umsetzung dieser Prämisse im Unterricht präsentiert die Autorin 16 Methoden, die verschiedene Teilkompetenzen im Verstehensprozess fördern. Die vorgestellten Möglichkeiten des Umgangs mit Texten beginnen bei der Inhaltssicherung, dem Urteilen und Werten, und der Schulung der Vorstellungsbildung, schreiten mit dem grafischen Darstellen von Textsinn, dem darstellenden Vorlesen und dem Lösen von Kohärenzproblemen weiter und reichen bis hin zur Umgestaltung von Textsinn, der Analyse der sprachlichen Darstellung und dem Verstehen von Emotionen (vgl. S. 30 ff.). Diese ausschnitthafte Wiedergabe einiger Überschriften des Methodenkapitels veranschaulicht den hier zugrunde gelegten Ansatz, der die Schüler zu einem souveränen Umgang mit textinternem und textexternem Wissen sowie zu einer sinnvollen Verknüpfung dieser beiden Wissensbestände hinführen soll.

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Ein kompetenter Leser ist laut von der Kammer im Stande erstens Texte seinen Bedürfnissen nach auszuwählen, zweitens diese entsprechend seiner Leseintention zu verstehen, drittens den Symbolcharakter von Texten zu erkennen, viertens die Qualität der Texte zu bewerten und fünftens die in jedem Text enthaltenen impliziten Wertungen zu erfassen und einzuschätzen (vgl. S. 322 f.). Das übergreifende Ziel einer Förderung von Lesekompetenz ist somit der Erwerb metakognitiven Wissens, das heißt die Schüler sollten »[...] verstehen, was sie tun, wenn sie einen bestimmten Weg beschreiten, um einen Text zu verstehen, und sie sollten auch wissen, warum sie gerade diesen und nicht einen anderen Weg beschreiten« (S. 24). Lesekompetenz ist aus diesem Blickwinkel weit mehr als ein Bündel von Fertigkeiten, sie ist ein elementarer Baustein einer komplexen Problemlösekompetenz und leistet einen wichtigen Beitrag im Hinblick auf den Erwerb reflexiven Wissens. Mit Wege zum Text gelingt von der Kammer der schwierige Balanceakt zwischen – reflektiertem – Theoriebezug einerseits und praktischen Umsetzungsvorschlägen für den Unterricht andererseits.

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Fazit

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Dieser kurze Ausflug in die PISA-Debatte innerhalb der Deutschdidaktik erweitert das bereits anhand der Bände von Schiefele u.a. sowie Bonfadelli u.a. sehr weit gesteckte Forschungsfeld der Lesekompetenz um weitere zentrale Aspekte und verweist darüber hinaus auf die Komplexität einer unterrichtspraktischen Umsetzung der theoretischen Prämissen. Die vorgestellten Publikationen zum Themenkomplex der Lesekompetenz illustrieren also insgesamt die Weitläufigkeit dieses Forschungsfeldes und zeigen nachdrücklich die Notwendigkeit interdisziplinärer Kooperation auf. Hierzu besteht offenbar von vielen Seiten Bereitschaft, die Zusammenarbeit sollte jedoch über ein einfaches Nebeneinander von Beiträgen in Sammelbänden hinausgehen.

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Zitierte Literatur:

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• Abraham, Ulf / Bremerich-Vos, Albert / Frederking, Volker / Wieler, Petra (Hrsg.) (2003): Deutschdidaktik und Deutschunterricht nach PISA. Freiburg: Fillibach.

[28] 

• Abraham, Ulf / Beisbart, Ortwin / Frederking, Volker (2002): Die PISA-Studie im Blickfeld der Deutschdidaktik. 12 Thesen. Würzburg, Bamberg, Nürnberg. Online unter: http://www.deutschdidaktik.ewf.uni-erlangen.de/home/index,id,396.html

[29] 

• Baumert, Jürgen / Klieme, Eckhard / Neubrand, Michael / Prenzel, Manfred u.a. (2001): PISA 2000. Zusammenfassung der Ergebnisse. Berlin: Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. Online unter: http://www.mpib-berlin.mpg.de/pisa/ergebnisse.pdf

[30] 

• Grzesik, Jürgen: Textverstehen lernen und lehren. Geistige Operationen im Prozeß des Textverstehens und typische Methoden für die Schulung zum kompetenten Leser. 2. Aufl. Stuttgart: Klett 1996.

[31] 

• Klieme, Eckhard / Avenarius, Hermann / Blum, Werner u.a. (2003): Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards. Eine Expertise. Berlin: BMBF. Online unter http://www.bmbf.de/pub/zur_entwicklung_nationaler_bildungsstandards.pdf

[32] 

• Stanitzek, Georg (2001): Kriterien des literaturwissenschaftlichen Diskurses über Medien. In: Stanitzek, Georg/Voßkamp, Wilhelm (Hrsg.): Schnittstelle: Medien und Kulturwissenschaften. Köln: DuMont, S. 51–76.



Anmerkungen

Im wissenschaftlichen Diskurs spielte er freilich schon vor PISA eine bedeutende Rolle, vgl. u. a. das DFG-Schwerpunktprogramm Lesesozialisation in der Mediengesellschaft.   zurück