Stein über Göttsche: Zeit im Roman

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Peter Stein

Zur Geschichte des Zeitromans
in Deutschland

  • Dirk Göttsche: Zeit im Roman. Literarische Zeitreflexion und die Geschichte des Zeitromans im späten 18. und im 19. Jahrhundert (Corvey-Studien zur Literatur- und Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts 7) München: Fink 2001. 848 S. Kart. EUR (D) 83,20.
    ISBN 3-7705-3560-X.


Der Zeitroman
als gattungsgeschichtlicher Ausdruck
einer neuartigen Zeiterfahrung

Was eigentlich >Zeit< sei, fragte sich schon Augustinus und gab – immer wieder gern zitiert – zur Antwort: Er wisse es nur ungefragt, könne es aber einem Fragenden nicht erklären. Die Zeiten, in denen solche Auskünfte gegeben wurden, haben sich geändert. Zwar kommt auch Dirk Göttsche in seiner umfangreichen Habilitationsschrift (Westfälische Wilhelms-Universität Münster) einleitend auf das Zitat von Augustinus zu sprechen, wie schon vor ihm Paul Ricoeur in seiner wegweisenden Studie Zeit und Erzählung. 1 Doch beide haben inzwischen eine Menge Erklärungen gefunden und verarbeitet. Wie Ricoeur und ihm streckenweise folgend bemüht sich Göttsche um eine erzähltheoretische Differenzierung und Erweiterung der Zeitreflexion, ohne allerdings dem Ansatz der strukturalen Hermeneutik Ricoeurs verhaftet zu bleiben. Ihn leitet statt dessen in guter alter Tradition ein literarhistorisches und gattungsgeschichtliches Erkenntnisinteresse, das er – hier vielleicht einem aktuellen Fachtrend folgend – zugleich als "ein kulturgeschichtliches Erkenntnisinteresse" 2 versteht.

Dieses Interesse führt Göttsche zu einer längeren, äußerst informativen Einleitung (S. 9–64), in der er auf der Basis der von Reinhart Kosellecks 3 Untersuchungen zur Verzeitlichung des Denkens und der Beschleunigung der Geschichte im und seit dem 18. Jahrhundert angeregten Forschung darlegt, wie diese vielfältigen Umbrüche in der Zeitwahrnehmung und -reflexion "zu entscheidenden Problemstellungen der Literatur werden" (S. 13). Für ihn steht fest, daß diese neuartige Grunderfahrung von Zeit zwar alle Gattungen der Literatur um 1800 erfaßte, doch gerade im Roman das Problem der sich verändernden Zeit und Zeiterfahrung zentrale Bedeutung erlangte. Darauf deutet schließlich, ohne daß Göttsche dieses Argument besonders bemüht ("Gelegenheitsschöpfung", S. 47), auch die Tatsache hin, daß der Begriff >Zeitroman< in dieser Zeit erstmalig belegt ist, nämlich in einem Brief Clemens Brentanos an Friedrich Carl von Savigny vom 26.09.1809. 4

Das Problem derer, die mit Koselleck vom Verzeitlichungstheorem um 1800 ausgehen, ist, in welches Verhältnis im Falle der Zeitreflexion die gesellschaftlichen und bewußtseinsgeschichtlichen Umbrüche zueinander gestellt werden müssen. Direkt gefragt:

Schob der Bewußtseinswandel (die innere Geschichte der Subjekte) die Veränderung der äußeren Geschichte, letztlich die Französische Revolution, an oder war es umgekehrt?

Dabei ist klar, daß mit >Revolution< nicht nur das Ereignis von 1789, sondern der politisch-soziale Revolutionierungsprozeß der 1790er Jahre insgesamt gemeint ist. Für Göttsches literarhistorischen Untersuchungsansatz heißt das:

Hat es Sinn, nach dem Zeitroman in den Jahren vor der Französischen Revolution bzw. vor 1800 zu suchen – was noch keine Forschung vor ihm unternommen hat, wie im Forschungsüberblick (S. 42–64) dargelegt wird? Oder kann der Zeitroman, als Ausdruck der fundamental veränderter Zeiterfahrung, erst nach diesem "Einbruch der Geschichte" (S. 18) entstehen?

Göttsches Antwort ist zweigeteilt.

  • Einerseits vertritt er die These, daß der Zeitroman "in der Jahrhundertwende 1800 in der Reaktion auf die Französische Revolution und ihre Folgen als der genuine gattungsgeschichtliche Ausdruck der Verzeitlichung der Geschichte und der neuen Qualität der Geschichtserfahrung" (ebd.) entstanden sei.
  • Andererseits sieht er jedoch diese neue Entdeckung der Zeit als einen Prozeß, der schon vor der Französischen Revolution begann und sie dann begleitete – ablesbar an literarischen Texten von der Empfindsamkeit bis zur Spätaufklärung. Gerade aus der letztgenannten Erkenntnis leitet er daher seinen eigenen Ansatz her, die Anfänge des Zeitromans dennoch bereits im späten 18. Jahrhundert zu suchen.

Da bleibt, wenigstens auf der theoretischen Ebene, ein Widerspruch. Göttsche löst ihn mit der Formel "phasenverschoben" (S. 18), was bedeuten soll: In dieser ersten Phase der Gattungsgeschichte des Zeitromans werden die erzählstrukturellen Neuerungen bereits angelegt, die sich nach 1800 deutlicher zeigen und zu schärferen Abgrenzungen zu den älteren Modellen des Staatsromans, der Epochensatire, des Familien- und des Individualromans führen, zugleich aber auch sich von den dann hervortretenden neuen Formen etwa des historischen Romans, des sozialen Romans und des Gesellschaftsromans unterscheiden.

Göttsches Ausgangsthese für seine weitgefaßte Untersuchung lautet daher:

Die Geschichte des Zeitromans stellt sich mithin als das Nebeneinander und Nacheinander unterschiedlicher Strukturmodelle des zeitgeschichtlichen Erzählens dar, deren Ausgangspunkt die Verzeitlichung der Geschichte im späteren 18. Jahrhundert ist. (S. 21).

Mit diesem sehr weit gefaßten Begriff lädt sich der Autor freilich nichts Geringeres als eine allgemeine Romangeschichte vom späten 18. bis zum späten 19. Jahrhundert auf. Behandelt werden in der Folge mehr als 200 Romane dieses Zeitraums; darüber geben das umfangreiche Quellenverzeichnis sowie ein aufgeschlüsseltes Autoren- und Werkregister detaillierte Auskunft.

Aspekte
literarischer Zeitreflexion

Unter den vielen Möglichkeiten, das Phänomen der Zeit näher zu betrachten, ist die literarische Zeitreflexion eine Form, die sowohl systematisch wie historisch niemals alle Betrachtungsformen in sich einschließen kann. Göttsche stellt vor allem die Probleme der "Lebenszeit", des "inneren Zeitbewußtseins", der "sozialen" und der "geschichtlichen Zeit" als die literarisch relevanten Aspekte heraus (S. 28 f.). Unter der von ihm gewählten Perspektive des Zeitromans konzentriert er sich in seinen Romananalysen auf drei Problemstellungen:

1. Zeit und Identität

Als Meßpunkte für den konstitutiven Zusammenhang von individueller Zeiterfahrung und personaler Identität nennt Göttsche die "Relativität des Zeitempfindens", den "Wandel des Zeitgefühls im Laufe der Lebensalter", die "Bewältigung von Endlichkeit und Vergänglichkeit", die "Struktur und Funktion von Kindheitserinnerung", die Phänomene der "Erinnerung von Erinnerungen", der "unwillkürlichen Erinnerung", der "Wiederholung", des déjà-vu und des Vergessens (S. 33).

2. Zeit und Sozialität

Da Zeit, wie Göttsche mit Emmanuel Lévinas 5 ausführt, niemals allein personal, sondern von Anfang an sozial konstituiert und somit "soziale Zeit" (S. 34) ist, vermitteln sich unter dieser Perspektive individuelle Zeiterfahrung und Zeitgeschichte in der Erfahrung von Zeitgenossenschaft.

3. Zeitgeschichte

Unter >Zeitgeschichte< versteht Göttsche nicht nur die jeweilige politische und soziale Gegenwart, wie sie immerzu schon bestanden hat, sondern die als zeitlich entdeckte Geschichte mit besonderer Reflexion ihrer Gegenwart. Deswegen komme es zur speziellen Gattung des Zeitromans, der die Gegenwart als >Zeitgeschichte< nicht nur darstellt, sondern auch reflektiert (vgl. S. 35).

Es liegt auf der Hand, daß Göttsche mit diesen drei Ausgangspunkten zu einer Neugewichtung der historischen Dimension des Zeitromans sowie ihrer bisherigen Erforschung kommt.

  • Er verknüpft, enger als bisher gesehen, (spät)aufklärerische Ansätze, Roman und Geschichtsschreibung mit den Anfängen des historischen Romans und des Zeitromans bis in die 1820er Jahre.
  • Er bricht den bisherigen poetologischen Diskurs der Zeitromanforschung mit seiner Fixierung auf die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts, besonders auf die Produktionen des Jungen Deutschland, entschieden auf.
  • Er widerspricht der verbreiteten Forschungsmeinung, daß der deutsche Roman im 19. Jahrhundert infolge einer Beschränkung auf den Typus des Individualromans (vor allem in Gestalt des Bildungsromans) die Auseinandersetzung mit der politisch-sozialen Realität vernachlässigt habe.
  • Er schlägt gattungstypologisch eine begriffliche Differenzierung vor: Zu unterscheiden sei zwischen einfachen "zeitgeschichtlichen Romanen" ohne, "Epochenromanen" mit Zeitkritik und Epochenreflexion und "Gesellschaftsromanen" mit komplexen Erzählverfahren und großem, repräsentativem Figurenarsenal (vgl. S. 62).

Die >Entdeckung der Zeit<
im Roman des späten 18. Jahrhunderts

Unter dieser Überschrift legt Göttsche im zweiten Kapitel (S. 64–162) seiner Untersuchung die interpretatorischen Nachweise für seine zentrale These vor, daß >Zeit< und >Zeitgeschichte< bereits im Individualroman der Spätaufklärung, der Empfindsamkeit, bei Goethe, Jean Paul und den Romantikern thematisiert werden, ohne daß bereits von Zeitromanen gesprochen werden könne. In detaillierten Analysen verfolgt er die drei genannten Aspekte literarischer Zeitreflexion, also die "Entdeckung der Geschichtlichkeit personaler Identität" (S. 70), die Bedeutung der sozialen Zeit und die Verarbeitung der Zeitgeschichte in den folgenden Romanen:

  • Geschichte des Agathon (Christoph Martin Wieland, 1766–1799)
  • Anton Reiser (Karl Philipp Moritz, 1785–1790)
  • Wilhelm Meisters Lehrjahre (Johann Wolfgang von Goethe, 1795 / 96)
  • verschiedene Romane der Empfindsamkeit (besonders: Goethe, Miller, Sophie Mereau, Tieck)
  • Jean Pauls Romane
  • Franz Sternbalds Wanderungen (Ludwig Tieck, 1798)
  • Heinrich von Ofterdingen (Novalis, 1800 / 01)
  • Godwi oder Das steinerne Bild der Mutter (Clemens Brentano, 1802).

Göttsche erkennt in den genannten Romanen nicht nur eine wachsende Sensibilisierung und Verdichtung der Zeitreflexion, die er an einer Fülle von motivischen, thematischen und erzählstrukturellen Details festmacht, die im Rahmen einer Rezension gar nicht referiert werden können. Er will zugleich mit seinen akribischen Belegen nachweisen, daß wenigstens in Deutschland die enge Verbindung von Subjektkonstitution und Zeitbewußtsein die notwendige Voraussetzung für die spätere Herausbildung des Zeitromans gewesen sei.

Dabei bleibt er nicht stecken in der (modern formulierten) Behauptung, daß das Private das Politische sei; für Göttsche ist ganz entscheidend, daß sich die politische Zeitkritik im Roman über die Zeiterfahrung des Subjekts entfaltet und dann allerdings über sie hinausgeht. Gerade in der sehr detaillierten Jean-Paul-Interpretation (S. 115–141), die die Entwicklung von Zeitmotivik und moralischer Zeitkritik aufmerksam verfolgt, wird dieses sehr deutlich. Auffällig ist, daß Hölderlin fast gänzlich ausgeklammert bleibt, ebenso die literarische Zeitkritik jakobinischer Schriftsteller, die zwar nicht die Romanform in Betracht zog, wohl aber unterschiedliche andere Prosaformen. 6

Die Entstehung des Zeitromans
(1800–1820er Jahre)

Dieses Kapitel (S. 163–432) kann als das Zentrum der Untersuchung bezeichnet werden. Göttsche arbeitet hier den Zeitroman als bislang zu wenig beachteten dritten großen Romantypus neben dem gleichzeitig sich entwickelnden romantischen Roman sowie dem klassischen Bildungsroman (Wilhelm Meister) heraus, die ihrerseits eine andere, eher indirekte Reaktion auf die Französische Revolution darstellen. Im Zeitroman dieser Phase sieht Göttsche den "Einbruch der Geschichte in die Lebenswelt und die Politisierung des Geschichtsbewußtseins" (S. 166) unmittelbarer literarisch erfaßt, auch im Vergleich zu den Staatsromanen und Epochensatiren des 18. Jahrhunderts, in denen die Auseinandersetzung mit der Zeitgeschichte immer mehr in den Vordergrund trat.

Formgeschichtlich werden zur näheren Bestimmung des entstehenden Zeitromans recht verschiedenartige Romantypen herangezogen: In Betracht kommen ab der Jahrhundertwende neben dem Sensationsroman, der Revolutionssatire und dem zeitgeschichtlichen Abenteuerroman vor allem

  • der Familienroman (z.B. August Lafontaine, Therese Huber),
  • der Individualroman als Bildungsroman (z.B. Friedrich Maximilian Klinger) und
  • der Geheimbundroman (z.B. Johann Weitzel).

Nach 1806 treten unter dem Eindruck der napoleonischen Zeit weitere, zumeist eher unbekannte Romane hinzu, an denen Göttsche den entstehenden Zeitroman exemplarisch herausstellt: Dabei entsteht ein Bogen von der Berliner Literatursatire (der sogen. Doppelroman der Berliner Romantiker 7 ) und den Epochenromanen der mittleren Romantik (Achim von Arnim, Joseph von Eichendorff) bzw. dem Familienroman (Caroline Fouqué) über die Romane zu den Befreiungskriegen (Carl Gottlob Cramer, Ludwig von Baczko, Carl Ludwig Nicolai, Charlotte von Ahlefeld u.a.) bis hin zu Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahre.

Folgt man Göttsche, so erlebte der Zeitroman, eigentlich ein Konstrukt ex post aus vielen Facetten der Romanproduktion zwischen 1800 und 1819, vor allem seit den Befreiungskriegen eine erste Blütezeit, ohne daß er als ausgebildeter Formtypus den Zeitgenossen bewußt war. Das ist durchaus eigenartig und könnte auch allgemeiner so interpretiert werden, daß die Romanproduktion dieser gemeinhin der Romantik zugeschlagenen Epoche insgesamt viel politisch-engagierter und zeitnäher gewesen ist, als es die bisherige Romangeschichtsschreibung mit ihrem bevorzugten Kanon wahrhaben will.

Zeit und Gesellschaft
im Zeitroman der Restaurationsepoche

Göttsche beginnt dieses Kapitel (S. 433–572), in dem er sich auf das traditionell besser erforschte Gebiet der Zeitromanforschung begibt, mit der Feststellung einer Zäsur. Unter den radikal veränderten gesellschaftlichen Produktions- und Rezeptionsbedingungen der Metternichschen Restauration können die bislang herausgebildeten Formen des Zeitromans sich nicht weiter entwickeln. Die Produktion von Zeitromanen geht markant zurück. Der neue, von Walter Scott geprägte historische Roman und die programmatischen Impulse, die von der Debatte um das Ende der Kunstperiode (Menzel, Heine) ausgehen, beginnen erst nach 1830 ihre Wirkung zu entfalten.

Hinzu kommt, daß mit und nach 1830 im gattungsgeschichtlichen Bewußtsein der Zeitroman-Autoren ein Bruch eintritt, der dazu führt, daß die Kenntnis der früheren Zeitromane verschwindet. Dieser Umstand sowie der marktstrategisch inszenierte Anspruch der nach 1830 als <jung< und >modern< auftretenden Autoren (insbesondere des Jungen Deutschland) verdrängte – so die These – die Frühgeschichte des Zeitromans.

Gleichwohl sieht Göttsche in den Texten der 1820er Jahre eine freilich verborgene Entwicklung des Zeitromans. Der Clou seiner Argumentation besteht darin:

Nicht im literaturkritischen bzw. poetologischen Diskurs, sondern in der literarischen Praxis zeigt sich, daß wichtige Erzählverfahren des vor 1815 entwickelten Zeitromans im Gewande des dominanten historischen Romans der 1820er Jahre rezipiert und modifiziert wurden, die dann unerkannt nach 1830 in den vermeintlich neuen Zeitroman zurückkehrten.

Göttsche exemplifiziert diese These in längeren Interpretationen der Romane von Friedrich de la Motte Fouqué (Der Refugié), Willibald Alexis (Der Geächtete), Karl Ludwig Häberlin (Die Demagogen), Caroline Pichler (Frauenwürde), Moritz Thieme (Der Kampf des Alten mit dem Neuen), Caroline Fouqué (Die beiden Freunde) u.a. einerseits; auf der anderen Seite zeigt die umfangreiche Interpretation von Karl Immermanns Die Epigonen (1836), wie sehr dieser "klassische Zeitroman des Restaurationszeitalters" 8 auf die Blickweise und Erzählverfahren der Vorgänger aus den 1820er Jahren aufbaut.

Für die Zeit nach 1830 konstatiert Göttsche neben dem allgemeinen Phänomen eines zeitkritischen Konvergierens aller Romanformen als programmatische Neuschöpfung den diskursiven Zeitroman des Jungen Deutschland. Er bleibt mit dieser Erkenntnis jedoch nicht nur bei der Selbstauffassung der Jungdeutschen stehen; auf Widersprüche zwischen Programm und Praxis des jungdeutschen Zeitromans hatte bereits die bisherige Forschung hingewiesen.

Göttsche kann aufgrund seiner detaillierten Kenntnis des Zeitromans vor 1830 nachweisen, daß die Modernität der intellektuell-diskursiven Zeitkritik der Jungdeutschen Mundt, Kühne, Gutzkow und vor allem Laube gleichsam gezügelt wird durch das erzähltechnische Erbe des Zeitromans vor der Julirevolution. Das wird vor allem an der dialogischen Form (Briefroman), an der Figurentypik, an der Anknüpfung an den >romantischen Figuralismus< (Horst Meixner) und an den Topoi der Zeitreflexion deutlich. Damit wird einer gerechteren Beurteilung der Weg gebahnt: Die Jungdeutschen bleiben nicht einfach "zurück", sondern setzen fort, d.h. sie werden gemessen an ihrer tatsächlichen Leistung und nicht an ihrem Programm.

Diesen geradlinigen Interpretationsansatz demonstriert Göttsche in Interpretationen der selten beachteten zeitgeschichtlichen Romane, die die Julirevolution direkt thematisieren (u.a. Ludwig Rellstab: Die Juliustage, Ferdinand Stolle: Der Weltbürger, Henrik Steffens: Die Revolution) sowie der Sozialromane der 1840er Jahre (u.a. Ernst Willkomm: Weisse Sclaven, Robert Prutz: Das Engelchen, Georg Weerths Romanfragment).

Vor allem beim vormärzlichen Sozialroman wird das Grundmuster des Familienromans herausgearbeitet, durch den sowohl die historische Dimension der erzählten Gegenwart als auch die soziale Differenzierung der handelnden Figuren vertieft werden kann und der Übergang zu einem Gesellschaftspanorama ermöglicht wird. Daß der Sozialroman des Vormärz in seiner zeitkritischen Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse präziser ist als die Zeitromane des bürgerlichen Realismus, zeigt Göttsche u.a. an der ausführlichen Interpretation von Gutzkows Roman Die Ritter vom Geiste (1850 / 51), den er trotz seines späteren Erscheinungstermins ganz in diesen vormärzlichen Formtypus einreiht (S. 579–600).

Dem ist im ganzen zuzustimmen; bedauerlich ist allerdings, daß die im Gewand des historischen Romans auftretende Zeitkritik, beispielsweise die von Willibald Alexis, auf der Strecke bleibt.

Die Entwicklung des Zeitromans
nach 1848

Zwei Schübe der Zeitromanproduktion zeichnen sich für die Zeit nach 1848 ab:

  • die Jahre um 1850 mit der Verarbeitung der Revolutionszeit und
  • die Jahre um 1860 mit der Auseinandersetzung mit der sogen. Neuen Ära in Preußen.

Göttsche setzt sich sehr ausführlich mit den Revolutionsromanen von Adolph Streckfuß, Alexander von Ungern-Sternberg, Jeremias Gotthelf, Christian Reinhold Köstlin, Louise Aston, Arnold Ruge, Friedrich Albert Karcher, Otto Müller, Carl Spindler, Eugen Hermann von Dedenroth, Karl Ludwig Häberlin, Max Ring, Jodocus Temme, Ludwig Steub u.a. auseinander (S. 600–654). Viele dieser Autoren sind heute nur noch Spezialisten bekannt. Göttsche kann zeigen, wie unverdient diese Nichtbeachtung und wie sehr es mit Blick auf die engagierten Zeitromane berechtigt ist, in den 1850er Jahren vom >Nachmärz< zu sprechen
(S. 654–695). Hier hat seine Untersuchung nach der Rekonstruktion der Frühgeschichte des Zeitromans ihr zweites Verdienst.

Insgesamt erweist sich, daß die Revolutionsthematik immer mehr zurücktritt hinter die Auseinandersetzung mit einer Gesellschaft, die sich im Aufbruch zur Industrialisierung grundlegend umstrukturiert. Damit verbunden ist die Abwendung von den Erzählverfahren, wie sie sich bis zu dem vormärzlichen Sozialroman entwickelt und in Gutzkows Roman des Nebeneinander zusammengefaßt hatten. In den Jahren nach 1860 bricht nach Göttsche, so muß man schon zugespitzt formulieren, eine längere deutsche Tradition des Zeitromans ab: Den weiteren Weg hin zum "großen Gesellschaftsroman europäischer Prägung" begreift er als Abweichung (S. 575), auch wenn mit den Zeitromanen Berthold Auerbachs, Karl Gutzkows und vor allem Friedrich Spielhagens (S. 678–695) sogleich einige bemerkenswerte Ausnahmen betont werden.

Die poetologische Vorarbeit dazu leistete das Programm des literarischen bzw. bürgerlichen Realismus, mit dem eine Wiederaufwertung des Formtypus >Individualroman< verbunden ist, so daß nach Göttsche ein neuer Mischtypus entsteht, den er ein wenig begriffsartistisch "als Erweiterung des Individualromans um Elemente eines Gesellschaftsromans oder als Strukturierung eines Gesellschaftsromans auf der Grundlage einer Individualgeschichte" (S. 577) präzisiert.

Auffällig und doch auf seine Weise konsequent ist, daß Göttsche diese vielinterpretierte Linie des realistischen Gesellschaftsromans, deren Anfang in der Regel mit Gustav Freytags Soll und Haben bezeichnet wird, nur noch in Skizzenform behandelt (S. 695–714): Neben Freytag werden dabei Gottfried Keller, Friedrich Spielhagen, Berthold Auerbach, Oskar Meding, Wilhelm Raabe (in einem eigenen Kapitel, S. 739–752) und schließlich noch Theodor Fontane behandelt. Dieser tour d'horizon schließt sich im Schlußkapitel ein Ausblick auf den Zeitroman im beginnenden 20. Jahrhundert an. Das wären allerdings, folgte man dem Vorgehen Göttsches, noch einmal 800 Seiten und ergäbe dann eine neue Habilitationsschrift.

Fazit

Mein abschließendes Urteil ist insgesamt positiv. Göttsche hat, trotz der lastenden Wucht einer Habilitationsschrift und trotz des gewaltigen Stoffumfanges, eine lehrreiche und sehr gut lesbare Theorie und Geschichte des deutschsprachigen Zeitromans bis zum zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts geschrieben. Es gibt, wie es bei einem derartigen Umfang nicht anders sein kann, Wiederholungen und mitunter auch formelhafte Begriffsanwendungen. Das fällt jedoch nur dem auf, der sich den ganzen Wälzer vornimmt, doch wer macht das schon?

Die Romaninterpretationen sind fundiert und regen, gerade in der Wiederentdeckung vernachlässigter AutorInnen, zum Lesen an. Das wäre neben dem theoretischen Erkenntnisgewinn kein schlechtes Ergebnis, denn wer wird diese vielen Zeitromane wirklich kennen? Der Rezensent kann sich hier leider nicht ausnehmen.


Prof. Dr. Peter Stein
Universität Lüneburg
FB III Kulturwissenschaften
Sprache und Kommunikation
Scharnhorststr. 1
Campus, Geb. 5
D - 21332 Lüneburg
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Anmerkungen

1 München 1989–91, Bd. 3, S. 389f.; vgl. Göttsche, S. 36f.   zurück

2 Göttsche, S. 40.   zurück

3 Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1979; Reinhart Koselleck und Horst Günther: Artikel >Geschichte< in: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. 8 Bde. Stuttgart 1972–1997, hier Bd. 2, S. 593–717. Vgl. zuvor schon: Stephen Toulmin und June Goodfield: Entdeckung der Zeit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1985 [London 1965].   zurück

4 Göttsche, S. 47; vgl. auch S. 277, Anm. 258.   zurück

5 Emmanuel Lévinas: Die Zeit und der Andere. Hamburg 1989.   zurück

6 Auf Georg Friedrich Rebmanns Epochensatire Hans Kiekindiewelts Reisen in alle vier Weltteile (1794) wird knapp eingegangen (S. 215).   zurück

7 Hg. von Helmuth Rogge. 2 Bde. Leipzig 1926.   zurück

8 Hans-Georg Gadamer: Zu Immermanns Epigonen-Roman. In: Ders.: Kleine Schriften, Bd. 2. Tübingen 1967, S. 148–160, hier: S. 151; zit. nach Göttsche, S. 485, Anm. 76.   zurück