Susteck über Svendsen: Nichts Neues über die Langeweile

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Sebastian Susteck

Nichts Neues über die Langeweile

Kurzrezension zu
  • Lars Svendsen: Kleine Philosophie der Langeweile. Frankfurt / M. u. Leipzig: Insel 2002. 190 S. Geb. € 16,90.
    ISBN 3-458-17109-6.


Als Phänomen, das seit der Romantik Literatur und Philosophie in prominenter Weise beschäftigt, trägt die Langeweile ein doppeltes Gesicht. Wirkt sie einerseits als beständiger Stachel, der zu zerstreuender Aktivität drängt – was sie Kierkegaard zur "Wurzel alles Übels" 1 und Baudelaire zum schlimmeren Laster als "Notzucht" oder "Brandstiftung" 2 macht – ist sie andererseits seltsam konturlos, indem sie ohne "Drohgebärde und Schrei" 3 (Baudelaire) auftritt. Die "Langweile ist eine Stimmung, die sich durch Qualitätslosigkeit" (S. 16) auszeichnet, weiß auch der norwegische Philosoph Lars Svendsen. Zugleich sieht er in ihr eine "groß[e] Frag[e]" der menschlichen Existenz, die "das eigene Sein" (S. 13) problematisiere. Auf knapp einhundertsiebzig Seiten hat Svendsen eine essayistische Ergründung der Langeweile vorgelegt, die erklärtermaßen auch das Fachpublikum ansprechen soll und nicht nur auf Zitate aus Philosophie, Popmusik und Film, sondern "interdisziplinä[r]" (S. 10) auch auf die Literatur rekurriert, welche als "ausgezeichnetes Quellenmaterial für philosophische Studien" (S. 17) angesehen wird.

Theoretische Unterbestimmtheit, die nicht allein der Textgattung geschuldet, sondern gewollt ist, ist dabei der zentrale Eindruck, der von Svendsens Analyse bleibt und der sein Buch auch für eine sozialgeschichtlich orientierte Literaturwissenschaft interessant macht. Denn wenn Svendsen etwas zeigt, dann, dass eine Auseinandersetzung mit dem (hochspannenden) Thema der Langeweile so problematisch bleibt. Durchaus provokant bezieht er zwar gegen eine Ausrichtung der Philosophie Stellung, die "sich fast gänzlich auf Variationen über Epistemologie beschränkt[.]" (S. 21) Auch positioniert er sich, wenn er erklärt, "daß man bei einem Phänomen wie der Langeweile nicht klar zwischen psychologischen und sozialen Aspekten trennen kann." Svendsens so genannter "teils ideengeschichtliche[r] und teils phänomenologische[r]" (S. 14) Zugriff jedoch erweist sich nicht als Alternative.

Unentschlossen verharrt der Autor vor den eigenen Beobachtungen, wenn er immer wieder betont, Langeweile sei "erst seit ein paar hundert Jahren ein zentrales Kulturphänomen" (S. 13), ohne dass ihm dies eigentlich erklärbar würde. Wenig originell und selbst erklärungsbedürftig ist denn auch Svendsens zentrale These: "Langeweile und fehlender Sinn sind letztlich dasselbe[.]" (S. 165) Die Langeweile wird – darf man folgern – negativ besetzt und in eine ebenso diffuse wie bekannte Erzählung des Verlustes eingepasst, die jenseits konkreter sozialer Koordinaten eigentümlich in der Luft hängt.

Argumentationsgang

Svendsen gliedert seinen Text in vier Kapitel. Im ersten Kapitel unternimmt er eine definitorische Einkreisung. Unterschieden wird zwischen zwei Formen der Langeweile, einer "situativen", die wesentlich überzeitlich existiert, und einer "existentielle[n]" (S. 24), die erst "im Schatten der Romantik" (S. 14) entsteht und Svendsen besonders interessiert. Langeweile – erklärt er – enthalte stets ein "kritisches" Element, denn wo sie zunehme, weise "die Gesellschaft [...] einen ernsten Fehler auf[.]" Dieser Fehler bestehe im Verlust eines "Ganzheitssinn[es]" (S. 25). Langeweile entspringe einer "moderne[n] Technologie", die den Menschen mehr und mehr zu einem passiven "Konsumenten" (S. 32) mache, welcher sein Leiden paradoxerweise durch Konsum ">sozialer Placebos<" (S. 29) aufzulösen suche. Diese Placebos wiederum repräsentierten ein "Interessante[s]", das immer ein "kurzes Verfallsdatum" (S. 31) habe. Die Langeweile provoziere so eine "transgredierende" Bewegung, die mit dem "Neuen identifiziert" (S. 40) werde.

Die drei folgenden Kapitel fügen dem wenig hinzu, stellen aber eine Reihe von Zitaten zusammen. Für die Literaturwissenschaft interessant ist zumal das zweite Kapitel, das sich das Ziel setzt, Abschnitte der Geschichte der Langeweile seit "der Akedeia des Mittelalters" (S.53) zu rekonstruieren. In einem ersten Unterabschnitt referiert es die philosophischen Positionen Pascals, Kants – der "Thomas Manns Theorie der Langeweile" (S.60) aus dem Zauberberg vorweggenommen habe – Kierkegaards, Schopenhauers und Nietzsches. Sodann wendet es sich Literatur und Kunst zu. Svendsen befasst sich zunächst mit Ludwig Tiecks Roman William Lowell und Bret Easton Ellis' Roman American Psycho. Tiecks Text wird ihm "der klassische Roman der Langeweile" (S. 69). Vorgeführt werde eine Logik der Transgression, die auch Lowells literarische "Verwandten" "Goethes Faust, Hölderlins Hyperion, Byrons Manfred und Don Juan etc." (S. 71) erfahren würden. Derselben Logik folge der Held aus American Psycho, dem eine "völlig kontingent[e]" (S. 81) Welt begegne. Variiert wird die Argumentation mit Bezug auf David Cronenbergs Film Crash, die Schriften Samuel Becketts und die Popkunst Andy Warhols.

Svendsens drittes Kapitel sucht eine "Phänomenologie der Langeweile" zu entwerfen. Es stützt sich wesentlich auf Martin Heideggers Vorlesungen über Grundbegriffe der Metaphysik von 1929 / 30, die "fraglos umfassendste phänomenologische Analyse der Langeweile[.]" (S. 115) Überraschend wird hier die Langeweile zum Fenster auf Sinn:

Durch eine Stimmung wie die Langeweile, so Heidegger, lasse sich ein Zugang zur Zeit und zum Sinn des Daseins finden. Für ihn ist die Langeweile eine privilegierte Grundstimmung, weil sie unmittelbar zur Problematik von Sein (dem Sinn unseres Daseins) und Zeit hinführt.
(S. 124)

Diese Problematik freilich soll wiederum in der Abwesenheit wesentlicher Lebensaufgaben und -bedrängnisse bestehen.

Das vierte Kapitel schließlich sucht die "Moral der Langeweile". Hier verschreibt Svendsen sich einer Theorie des Utopischen. "Wir müssen die Langeweile festhalten, weil in ihr das Versprechen eines besseren Lebens widerhallt." Und: "Denn auf den Schmerz im Leben zu verzichten hieße, sich selbst zu dehumanisieren." (S. 156) Nicht zuletzt sei das Ertragen von Langeweile ein Zeichen von Reife, denn – assoziiert Svendsen – "es fällt auf, daß Kindheit und Langeweile um etwa die gleiche Zeit aufgetaucht sind." (S. 159) Angebracht scheint ihm an dieser Stelle auch eine Kritik Michel Foucaults, der als Philosoph beständigen Transgressionszwang verkörpert und diese Reife nie erreicht habe.

Resümee

Svendsens Behandlung der Langeweile – darf resümiert werden – erschöpft sich in einer unspezifischen, aber vertrauten Verlustrhetorik. Durchbrochen wird diese Rhetorik nur an vereinzelten Stellen. Dass Langeweile etwa "eine positive Quelle für die Entwicklung des Menschen, wenn nicht für Fortschritt überhaupt" (S. 43) sein könne, wird auch erwähnt. Tatsächlich lässt sie sich in diesem Sinne als Anregung des schöpferischen Potentials der Gesellschaft fassen. Literaturwissenschaftlich sind entsprechende Versuche etwa von systemtheoretischen Strömungen in den neunziger Jahren unternommen worden, die das Gesamt moderner Kunst und Literatur aus der Langeweile entwickelt haben. Ein negatives Vorzeichen bestimmt indes noch Svendsens letzte Worte:

Die Langeweile muß als unvermeidliche Tatsache angenommen werden[.] Das ist keine großartige Lösung, denn das Problem der Langeweile hat keine Lösung. (S. 167)


Sebastian Susteck
Ruhr-Universität Bochum
Germanistisches Institut
DFG-Projekt "Die Geschichte des Deutschunterrichts 1945-89"
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Ins Netz gestellt am 27.08.2002
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Anmerkungen

1 [Søren Kierkegaard:] Entweder-Oder. Ein Lebensfragment. Übers. von Alexander Michelsen u. Otto Gleiß. Leipzig 1885, S. 225.   zurück

2 Charles Baudelaire: Die Blumen des Bösen. Hg. u. übers. von Wilhelm Richard Berger. 5. Aufl. Göttingen 1994, S.9.   zurück

3 Ebd.   zurück