- Sabine Doyé / Marion Heinz / Friederike Kuster (Hg.): Philosophische
Geschlechtertheorien. Ausgewählte
Texte von der Antike bis zur Gegenwart. Stuttgart: Reclam 2002. 496 S. Kart.
EUR (D) 11,10.
ISBN 3-15-018190-9.
Einsatz des Bandes
Theorien des männlichen und
weiblichen Geschlechts haben – um einen viel strapazierten Begriff
Arnold
Gehlens zu verwenden – seit gut einem Jahrzehnt einen Punkt der
"Kristallisation" 1 erreicht. Auf
dem Spektrum der Denkpositionen sind die grundsätzlichen
Möglichkeiten in hinlänglicher Deutlichkeit markiert, so daß
von kommenden Entwürfen vor allem eine Anreicherung und
Präzisierung erkannter Optionen zu erwarten ist. "Der Horizont der
Möglichkeiten", formulieren auch die Herausgeberinnen des
Studienbandes Philosophische Geschlechtertheorien, Sabine Doyé, Marion
Heinz und Friederike Kuster,
innerhalb dessen das Verhältnis von Natur und
Kultur im Hinblick auf die Geschlechter konzeptualisiert werden kann, ist
[...] in seinen Grenzen abgeschritten, zugleich aber auch in ganzem Umfang
eröffnet. (S. 65)
Markiert der Begriff des
"Geschlechts" in einer
langen Tradition zunächst eine Größe der göttlich
stabilisierten Sozialordnung bzw. schlicht der "Natur", wird er
zunehmend als durch die Verbindung natürlicher und sozialer Aspekte
determiniert gesehen, was in der 1968 von R. Stoller
vorgeschlagenen 2 Trennung von biologischem (=
>sex<) und sozialem (= >gender<) Geschlecht auf den Punkt
gebracht ist.
Schließlich plädiert Judith Butler in den neunziger Jahren des
zwanzigsten Jahrhunderts für eine Infragestellung jeglichen
"natürlichen" Anteils am Geschlechtsbegriff: auch die
biologischen "Grundlagen" der zwei Geschlechter sind ihr sozial
konstruiert. Vor dem Hintergrund einer derart entfalteten Theorielandschaft
ist die Entscheidung, nun einen Studienband zu Philosophischen
Geschlechtertheorien vorzulegen, sicherlich nicht rein zufällig,
sondern auch einer Theorielage geschuldet, die es nahelegt, eine
Rückschau zu wagen und Bilanzen zu ziehen.
Aufbau und Inhalt
Arbeiten zu den zwei Geschlechtern und zum
Geschlechterverhältnis spielen in der Literaturwissenschaft seit
längerem eine wichtige Rolle. Der vorgelegte Band verspricht auch
solchen Arbeiten zukünftig leichtere Orientierung, was in – bei
Reclam bewährter – Weise durch eine Kombination von drei Komponenten
erreicht wird, nämlich einer umfangreichen Einleitung, dem eigentlich
vorgestellten Textmaterial sowie kurzen Einleitungstexten mit
Lektürehinweisen, die den einzelnen aufgenommenen Texten und
Autor(inn)en jeweils vorausgehen.
Auf rund sechzig Seiten besprechen Doyé, Heinz und Kuster
zunächst das von ihnen zusammengestellte Material mit dem Ziel "im
Durchgang durch die Geschichte der europäischen Philosophie ein
Themenfeld zu rekonstruieren" (S. 7). Dabei versuchen sie erfolgreich,
die später vorgestellten Texte in ihrem internen Zusammenhang zu
verbinden und auch den Stand der gegenwärtigen Diskussion zu
umreißen. Wert legen die Herausgeberinnen auf die Feststellung, der
Begriff des "Geschlechts" sei insgesamt mit Vorsicht zu behandeln,
da "die Kategorie vermeintlich ontologischen Zuschnitts [...] in
Wahrheit als ideologisches Konstrukt" (S. 7) fungiere. Die
anschließende Behauptung, der Begriff des "Geschlechts"
dürfe deshalb nicht den "philosophischen Grundbegriffen" (S.
7) hinzugefügt werden, bleibt allerdings hinter der Leistung des Bandes
zurück, denn immerhin demonstriert der, welch wichtige Rolle dieser
Begriff historisch gespielt hat, während über seine
Verabschiedung zur Zeit offensichtlich noch verhandelt wird.
Der Hauptteil des Bandes wird von Auszügen aus den
einschlägigen Texten der Philosophiegeschichte eingenommen. Dabei ist
offenbar Wert darauf gelegt worden, möglichst die großen und
populären Denker der Tradition zu versammeln, also insgesamt eine
Textauswahl konservativen Zuschnitts zu treffen. Dass dies nicht immer
völlig unproblematisch gewesen zu sein scheint, deutet
zumindest die Formulierung Kusters an, von der Geschlechterkonzeption des
vertretenen John Locke lasse sich "kein vollständig klares Bild
gewinnen" (S. 148). Explizit von der Aufnahme ausgeschlossen sind Texte,
die "das Geschlechterverhältnis einseitig unter dem Blickwinkel von
Eros und Sexualität erfassen" sowie eindeutig
"polemisch-misogyne" (S. 9) Texte. In Richtung auf das zwanzigste
Jahrhundert erfolgt eine Öffnung des Bandes auch über die Grenzen
der Philosophie im engeren Sinne hinaus, da – so die Herausgeberinnen
– die
nun vorgefundene Textlandschaft mit traditionellen Abgrenzungsmarkierungen
"nicht mehr adäquat" (S. 54) erfasst werden kann. Besonders
wird solchen Entwürfen Rechnung getragen, die als Beiträge zu einer
"kritischen Gesellschaftstheorie" das "Erbe der klassischen
praktisch-politischen Philosophie" (S. 10) mit antreten.
Die Konzentration auf Autor(inn)en des philosophischen Kanons
hat dabei den offenbaren Vorteil, noch einmal große Traditionslinien
europäischen Denkens aufscheinen zu lassen. Erkennbar wird freilich auch
die pikante Tatsache, dass Autorinnen aus dieser Perspektive offenbar erst so
spät "relevant" wirksam werden konnten, dass sie im
vorliegenden Band nur dreimal – nämlich: mit den letzten drei
Texten –,
und zwar ganz im Rahmen einer auch auf praktische Veränderung zielenden
feministischen Strömung vertreten sind. Insgesamt umfasst die Liste der
besprochenen Autor(inn)en Platon, Aristoteles, Thomas von Aquin, Thomas
Hobbes, John Locke, Jean-Jacques Rousseau, Immanuel Kant, Johann Gottlieb
Fichte, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wilhelm von Humboldt, Friedrich
Engels, Georg Simmel, Sigmund Freud, Max Horkheimer, Herbert Marcuse, Simone
de Beauvoir, Luce Irigaray sowie Judith Butler.
Fazit
Die Fokussierung allein der philosophischen
Geschlechtertheorien führt zu notwendigen Limitierungen, wirkt aber
selbst erkenntnisstiftend. Auffällig ist besonders, wie mit hohem
Reflexionsaufwand über zweitausend Jahre hinweg immer wieder
ähnliche Ergebnisse erreicht werden. Die Differenz zwischen einem
männlichen, aktiven und weltzugewandten Geschlecht mit faktisch enormen
Machtprivilegien und einem weiblichen, passiven und auf einen Bereich des
Hauses und der Intimität verpflichteten weiblichen Geschlecht ist das
monotone Resultat beeindruckender Oberflächenaktivität, und zwar
auch dort, wo – wie bei Thomas von Aquin – kein "Unterschied
[...] der Geschlechter" (S. 131) vor Gott existiert, oder die Frauen – bei
Wilhelm von Humboldt – "dem Ideale der Menschheit näher als der
Mann" (S. 292) sind bzw. sie – bei Georg Simmel – "den eigentlichen
>Menschen< " (S. 335) darstellen.
Der Überblick nur über die philosophischen
Theorien wird darüber hinaus jedoch auch für Forschungen in
angrenzenden Fächern – hier also: der Literaturwissenschaft
– hilfreich
sein. Schon eine oberflächliche Lektüre der philosophischen
Entwürfe deutet an, in welch hohem Maße philosophisch entworfene
Konstruktionen Irritationen auch in der Literatur hinterlassen bzw. aus ihr
empfangen haben dürften. Dies gilt über den – ohne Zweifel
spektakulärsten – Fall Rousseaus hinaus, dessen wirkmächtige
Ausführungen im Emile sich selbst bereits einer
"literarische[n] Form" (S. 159) bedienen. Zumal die
Erläuterungen sind hier hilfreich.
Insgesamt bietet der Band einen beeindruckenden und sehr
kompakten Überblick über und Durchgang durch die Geschichte der
Geschlechtertheorien, der die entsprechenden Quellen geschickt zu
bündeln und kommentierend zu verbinden versteht.
Sebastian Susteck
Ruhr-Universität Bochum
Germanistisches Institut
Universitätsstraße 150
D-44780 Bochum
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Ins Netz gestellt am 13.11.2002
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Anmerkungen
1 Arnold Gehlen: Über kulturelle
Kristallisation. Bremen 1961. Vgl. für die – leicht Zweck
entfremdete – Verwendung S. 11: "Ich [...] würde vorschlagen,
mit
dem Wort Kristallisation denjenigen Zustand auf irgendeinem kulturellen
Gebiet zu berzeichnen, der eintritt, wenn die darin angelegten
Möglichkeiten in ihren grundsätzlichen Beständen alle
entwickelt sind." zurück
2 Vgl. für diese Auskunft den Eintrag
gender in: Ansgar Nünning (Hg.): Metzler-Lexikon
Literatur- und Kulturtheorien. Ansätze. Personen. Grundbegriffe.
Stuttgart / Weimar: J. B. Metzler 1998. zurück
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