Susteck über Eder / Kraß / Tischel: Begehren

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Sebastian Susteck

Studien des Begehrens

Kurzrezension zu
  • Franz X. Eder: Kultur der Begierde. Eine Geschichte der Sexualität (Beck'sche Reihe 1453) München: C.H. Beck 2002. 359 S. 10 Abb. Kart. EUR (D) 15,90.
    3-406-47593-0ISBN .
  • Andreas Kraß / Alexandra Tischel (Hg.): Bündnis und Begehren. Ein Symposium über die Liebe (Geschlechterdifferenz & Literatur 14) Berlin: Erich Schmidt 2002. 328 S. Kart. EUR (D) 29,80.
    ISBN 3-503-06146-0.


Geistes- und sozialwissenschaftliche Arbeiten zur Sexualitätsgeschichte seien gegenwärtig "durch eine Haltung des >anything goes< und pluralistische wie methodenübergreifende Versuche gekennzeichnet" (S. 14), erklärt Franz X. Eder in einer 2002 im Beck-Verlag publizierten Geschichte der Sexualität. Für die Zeit zwischen dem 17. Jahrhundert und der Gegenwart entwirft er auf gut 240 Textseiten "erstmals" eine Überschau der Sexualität "in Deutschland und Österreich" (S. 23), wobei neben einer Berücksichtigung der verschiedenen sozialen Schichten eine Reflexion des aktuellen wissenschaftlichen Diskussionsstands versucht wird.

Literatur spielt für die Ausführungen des Wirtschafts- und Sozialgeschichtlers bezeichnenderweise keine Rolle, doch empfiehlt sich sein Band zumal in den Kapiteln Sexualität historisch er / finden (S. 9–27) und Epilog. Die Historisierung des sexuellen Subjekts (S. 227–243) auch Literaturwissenschaftlern. Wie um eine Matrix aktueller Kontroversen zu entwerfen, zeichnet Eder hier das Bild einer Forschungslandschaft, die er zwischen einem vielgestaltigen "Essentialismus" und einem nicht weniger vielgestaltigen "sozialen Konstruktionismus" (S. 228) aufgeteilt findet – eine Dichotomie, an der sich auch literaturwissenschaftliche Forschungen abarbeiten.

Setzt Eders Sexualitätsgeschichte in ihrem Titel Kultur der Begierde einen gegen den naiven Essentialismus gerichteten Akzent, indem Flüchtigkeit und Vieldeutigkeit des Verlangens an die Stelle biologisch diktierter "Zwangsheterosexualität" (Judith Butler) treten, so gilt dasselbe für einen von Andreas Kraß und Alexandra Tischel herausgegebenen Sammelband zu Bündnis und Begehren, der in wesentlichen Punkten von Eder notierte Probleme und Forschungstendenzen bestätigt.

Die von Kraß und Tischel vorgestellten sechzehn Beiträge einer Tagung des Münchner Graduiertenkollegs "Geschlechterdifferenz & Literatur" aus dem Jahr 2000 operieren ebenso interdisziplinär wie international und schreiten eine Vielzahl von Themen ab, wobei sie vor innovativen Einsätzen nicht zurückschrecken. Anders als im Falle Eders liegt der Schwerpunkt klar auf der Literatur, die seit jeher das "Begehren" als "erotische Bewegung, die ein Subjekt auf ein anderes richtet", inszeniert habe, um sich zugleich am "Bündnis" als "soziale[r] Beziehung, die sich institutionell in Familie, Ehe und Freundschaft manifestiert" (S. 9), abzuarbeiten.

Schematisierung der Begierde

"[N]eben den gegen- auch die gleichgeschlechtlichen Erscheinungsformen der Liebe" (S. 9 f.) zu berücksichtigen, ist ein wichtiges Anliegen Kraß' und Tischels, die damit Eders Resümee entsprechen, dass "[h]eute" kaum mehr "eine hetero-, homo- oder wie immer geartete Form des Sexuellen [existiert], die nicht historisch beleuchtet wird." (S. 22) Dabei gelingt es in einer überaus luziden "Einführung" (S. 9–20), das notwendig heterogene Material zu systematisieren, wobei kategoriale Gewinne erzielt werden, die insgesamt das schwierige Feld von Liebe und Sexualität besser fassbar machen.

Unterschieden wird zwischen "vier basale[n] Arten der Liebe", die sich als "in ästhetischer Hinsicht überaus produktiv" (S. 10) erwiesen hätten und denen jeweils ein traditionsstiftender Basistext und Epochenschwerpunkte, schließlich ein eigener Teil des Sammelbandes korrelieren. Es handelt sich um geistliche Liebe zwischen Mensch und Gott (das Hohelied der Liebe / Mittelalter und Puritanismus), homosoziale Liebe (Platons Gastmahl / Renaissance und Petrarkismus), heterosoziale Liebe (Schöpfungsbericht der Genesis / Moderne) und narzisstische Liebe (Ovids Metamorphosen / Postmoderne).

Dass diese Schematisierung gegenüber ihrem Objekt notwendig unterkomplex bleibt und auch innerhalb des Sammelbandes zu Ambiguitäten führt, ist dabei wohl kaum überraschend. So wäre etwa Ralph J. Pooles unter geistlicher Liebe firmierende Analyse der "Gattenbriefe" (S. 109) der amerikanischen Autorin Anne Bradstreet auch unter dem Schlagwort der Heterosozialität verhandelbar, während Andreas Kraß' Text zu Michel de Montaignes Essay De l'amitié sich nicht nur mit homosozialen, sondern auch mit narzisstischen Aspekten der Freundschaftskonzeption befasst. Dies sind indes Spitzfindigkeiten, die nichts daran ändern, dass der Band einen sehr guten Zugriff auf seine Texte eröffnet.

Beiträge des Sammelbands

Bevor es um die vier fokussierten Spielarten der Liebe geht, behandelt ein erster Teil der Untersuchung poetologische Aspekte von Liebesdarstellungen. Albrecht Koschorke beobachtet hier "Die Figur des Dritten bei Freud und Girard"(S. 23–34), die in Folge einer signifikanten epistemologischen "Umbesetzung" ins "Rampenlicht" (S. 23) der Theorie getreten sei. Ulrike Landfester analysiert Liebesmetaphorik am Beispiel des Bildes der Rose (S. 35–62), bevor Manfred Schneider "Grundzüge einer Kritik der erotischen Vernunft" skizziert (S. 63–84), die sich zumal an Niklas Luhmanns Buch Liebe als Passion reiben, dem Schneider voraussagt, "nicht mehr lange" die "Theorie der Liebescodes [zu] beherrschen." (S. 63)

Unter dem Stichwort "geistlicher Liebe" untersucht Eva Cescutti sodann das Hohelied der Liebe und seine mittelalterliche Exegese (S. 87–102). Wie – so ihre provokante Ausgangsfrage – wurde die im Hohelied verhandelte Sexualität "in das Selbstverständnis" männlicher Exegeten integriert, die in klösterlicher Ordnung "auf reproduktive Sexualität" (S. 88) verzichteten? Dass in Folge interpretatorischer Anstrengung auch ein "begehrenswerte[r] [...] weibliche[r] Körper [...] aus Männern und Büchern" (S. 91) bestehen kann, lautet eines der Ergebnisse. Ralph J. Poole diskutiert die puritanische Sexualitätsauffassung, insbesondere aber mehrere auf der Grenze zur Lyrik balancierende Briefe Anne Bradstreets (S. 103–124), die "sich in diesen Gedichtbriefen an einem Ort [positioniert], den ihre Gesellschaft zumal für eine Gattin nicht vorsieht." (S. 119)

Unter dem Stichwort "homosozialer Liebe" beobachtet Andreas Kraß in einem dritten Teil des Bandes die Konzeption der Männerfreundschaft in Michel de Montaignes Essay De l'amitié (S. 127–141), während Erika Greber sich mit der Lyrik der "frühverstorbene[n]" (S. 143) deutschen Barockdichterin Sibylle Schwarz befasst, die in ihren Texten Liebessubjekt und "Liebesobjekt" (S. 146) weiblich besetzt habe (S. 142–168). Horst Weich bearbeitet abschließend "Juan Gil-Alberts schwule[n] Sonettkranz >Misteriosa presencia<" von 1936 (S. 169–189).

Mit Bezug auf "heterosoziale Liebe" untersucht Alexandra Tischel in einem vierten Teil Hugo von Hoffmannsthals Lustspiel Der Schwierige (1921) (S. 193–209), bevor Sylvia Mieszkowski eine vergleichende Analyse von Arthur Schnitzlers Traumnovelle (1926) und Stanley Kubricks Film Eyes Wide Shut (1999) unternimmt (S. 210–228). Karsten Uhl zeigt in einem hochinteressanten Beitrag, wie Weiblichkeitsnormen in Kriminologie und Biologie des 19. und 20. Jahrhunderts dazu beitrugen, Frauen von der Verantwortung für bestimmte Verbrechen zu entlasten, sie andererseits mit einem Mehr an Verantwortung für andere Verbrechen zu belegen (S. 229–244). Carola Blod-Reigl beobachtet Zusammenhänge von "Mutterliebe" und "Reproduktionsmedizin" (S. 245) in Fay Weldons Roman The Cloning of Joanna May (1989) und Michel Houellebecqs Les particules élémentaires (1998) (S. 245–261).

Im Teil über "narzisstische Liebe" schließlich bespricht Andrea Gutenberg Maureen Duffys Roman Love Child (1971) (S. 265–284). Wilhelm Trapp analysiert Kathryn Bigelows Film Strange Days von 1996 (S. 285–297), während Peter Teltscher moderne Fados in das Zentrum seines Beitrags stellt (S. 298–310). Zuletzt befasst sich Katrin Lange mit der russischen Gegenwartsautorin Valerija Narbikova (S. 311–324), die "einerseits >geschlechtlich< deutlich kodierte Aspekte von Sexualität [...] im Text semantisch" asexualisiere, "andererseits dezidiert asexuelle Aspekte [...] sexuell" (S. 323) auflade.

Forschung zwischen
>Essentialismus< und >Konstruktionismus<

Die Bandbreite der von Kraß und Tischel versammelten Themenbeiträge ist eine große Stärke ihres Sammelbandes, markiert zugleich aber seine Limitierung. Es lohnt sich daher noch einmal ein Blick auf Eders Geschichte der Sexualität, die aus der Vogelperspektive ein Bild der Forschungslandschaft gewinnt, welche sich dieser Perspektive als durch eine Dichotomie von Essentialismus und sozialem Konstruktionismus bestimmt darstellt. Beide Positionen – so jedoch Eder – litten zur Zeit an gravierenden Problemen. Einerseits führe zu "festen essentialistischen Begriffen und Theorien" (S. 14) kein Weg zurück. "In Abrede gestellt wird [...], dass genetische und hormonelle Faktoren als bedeutungs- und sinngebende Motoren sexueller Gefühle, Phantasien, Verhaltensweisen und Identitäten gelten können." (S. 16) Zugleich freilich sei die "biologische >Wollust<" zwar "in den evolutionären Tiefen des menschlichen Körpers verborgen", jedoch "von sich aus ein wichtiger Antrieb des Sexuellen." (S. 15 f.) Bei aller Vielschichtigkeit ihrer Bemühungen – so die provokante These – befände sich die sexualitätsgeschichtliche Forschung zur Zeit insgesamt in einer von "Glaubensbekenntnisse[n]" bestimmten "Warteposition"(S. 241), was gerade nicht zu einer Auflösung von Fronten und produktiver Weiterentwicklung führen könne.

Die Schwierigkeiten einer Forschung, die zwischen essentialistischen und konstruktionistischen Positionen eingespannt ist, durchziehen auch Kraß' und Tischels Band auf vielfache Weise.

Auffällig behandelt etwa Carola Blod-Reigl das Phänomen der Mutterliebe unter Verweis auf einschlägige Forschungsliteratur als "produzierte[n] und propagierte[n] Mythos" (S. 246). Zugleich freilich referiert sie ein in ihren Text letztlich nicht integrierbares Narrativ der "evolutionsgeschichtlich orientierte[n] Anthropologie" (S. 248), die die Mutterliebe noch immer zentral setzt, um jegliche Liebesform begründen zu können. Nun hat dieses Narrativ – wie etwa auch der Beitrag Karsten Uhls zeigt (bes. S. 235 f., 238 f.) – eine lange Geschichte mit bedenklichen Konsequenzen. Offen bleibt jedoch die Frage, ob allein mit Verweis auf diese Geschichte, aber auch auf eine marginalisierte, unterdrückte und kulturell ausgeblendete >Vaterliebe< die Mutterliebe ausschließlich als kulturell produziert fassbar wird.

In ganz anderer Weise ist auch der Beitrag Manfred Schneiders auf die von Eder beschriebene Dichotomie abbildbar. Schneider trennt spannend zwischen zwei Perspektiven der Liebesbeobachtung, nämlich (1.) einer "romantische[n]" (S. 65), die vom Einzelfall ausgeht und in Literatur- und Literaturwissenschaft, aber auch in der Luhmannschen Soziologie dominiere, (2.) einer gerade in der Literaturwissenschaft oft abgeblendeten statistischen Perspektive der "große[n] Datenmengen" (S. 64), vor der sich viele Probleme der romantischen Perspektivierung aufzulösen scheinen. "[D]ie Untersuchung des Liebescodes", so Schneider, müsse "von der biologischen Erfahrungstatsache ausgehen, daß Fortpflanzung, die Erhaltung der Art, die Immortalität des Protoplasmas [...] die einzige naturgewollte Mission der Lebewesen ist." (S. 64)

Nun ist die Dichotomie von Essentialismus und Konstruktionismus selbst problematisch. Nicht zuletzt hat der Begriff des "Essentialismus" eine Tendenz, inflationär einsetzbar zu werden, und so könnte man ihn auf Aspekte des offenkundig konstruktionistisch orientierten Bandes von Kraß und Tischel anwenden. Keineswegs selbstevident ist nämlich, warum die Liebe primär als sexualisierte oder erotisierte Liebe Interesse verdient, eine Sichtweise, die im Sammelband vor allem im Teil zu geistlicher Liebe auffällt. Unter Umständen zeigt sich hier eine (post)moderne Vergangenheits(re)programmierung, die Eder hinterfragt, wenn er vermerkt, dass der Einsatz moderner Kategorien wie etwa "Sexualität" "bei der Analyse historischer Formen des Sexuallebens [...] äußerst problematisch" (S. 31) bleibe.

Kraß' und Tischels Sammelband enthält viele erhellende Einzeluntersuchungen, welche die Liebe zumal als ein genuin internationales und verschiedene (literarische) Kulturen umspannendes Phänomen profilieren. Zugleich fordert er aber auch zu weiterer Diskussion heraus.


Sebastian Susteck
Ruhr-Universität Bochum
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Ins Netz gestellt am 09.04.2003
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