Thuering über Friedrich Nietzsche: Werke. Kritische Gesamtausgabe

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Hubert Thüring

Tertium datum: Der >Nachlaß< zwischen
Leben und Werk. Zur Neuausgabe
der handschriftlichen Dokumente
des >späten Nietzsche<

Review article zu
  • Friedrich Nietzsche: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Neunte Abteilung: Der handschriftliche Nachlaß ab Frühjahr 1885 in differenzierter Transkription. Herausgegeben von Marie-Luise Haase und Michael Kohlenbach. Bearbeitet von Marie-Luise Haase / Michael Kohlenbach / Johannes Neininger / Wolfert von Rahden / Thomas Riebe / René Stockmar / Dirk Setton. Berlin u.a.: Walter de Gruyter 2001. Abteilung IX, Band 1–3. EUR (D) 198,-.
    ISBN 3-110-16178-8.


Wie kaum ein Philosoph zuvor hat Friedrich Nietzsche dem Zufall in allem Geschehen, im Handeln, im Denken, in der Geschichte, in seinem eigenen Leben und Schreiben Raum gegeben. Seit der Zufall Gottes Hand entglitten oder entrissen worden war, galt es um so mehr, sich theoretisch und praktisch zu wappnen, um seiner Herr oder wenigstens sein Günstling zu werden. Das (und natürlich vieles andere) sollten von der analytischen Seite her die historischen Diagnosen der Genealogie und von der konstruktiven Seite her die >Lehren< von der "Ewigen Wiederkehr des Gleichen", vom "Übermenschen" oder vom "Willen zur Macht" leisten, an und mit denen der >späte Nietzsche< von 1885 an zeitweise intensiv laborierte und hantierte. Zuletzt, bevor er Anfang 1889 zusammenbrach, meinte er in Ecce homo unter der Fragestellung Wie man wird, was man ist, ein "Schicksal" geworden zu sein, dem alles gerade recht kam, um nicht nur seine Bücher, sondern sich selbst geschaffen zu haben.

Über den praktischen Nutzen seiner Analysen und Lehren zu diesem paradoxen Behuf mögen die Interpretationen streiten. Von unbestreitbarem, wenngleich zu verhandelndem Wert für die Kontingenzbewältigung ist dagegen von alters her die Praktik des Schreibens, aus oder vielmehr in der jene erst hervorgehen sollten. Nietzsche pflegte in allen Lebenslagen Notiz- oder Arbeitshefte und -bücher mitzutragen, um vor allem Einfälle festzuhalten, Gedanken niederzuschreiben und zu entwickeln, Themen und Titel zu Büchern zu erfinden und Inhaltsverzeichnisse zu erstellen, Briefe zu entwerfen. In weiteren Heften sammelte er eher Lektürefrüchte in Form von Exzerpten, Kommentaren und eigenen Anwendungen und Weiterentwicklungen, und wiederum in anderen Heften wählte er aus den Notizheften bereits Geschriebenes für Bücher aus, indem er es übertrug, um-, weiter- und ausformulierte und Neues hinzufügte. Dazwischen, auf den Randseiten der Hefte, aber auch mittendrin auf den Rändern oder auch inmitten anderer Notizen und Exzerpte vermerkte er Adressen von Personen und Hotels oder Mietgelegenheiten, Preise von Zimmern, Menus, Kleidern, Touren für Spaziergänge, Listen von Reisezielen, -etappen und -zeiten, Kostenberechnungen für Reisen, Essen, Kleider, Publikationen, schließlich Selbstanweisungen zu Tageseinteilung, Diät, Verhaltensweisen etc.

"Das Eine bin ich, das Andre sind meine Schriften", 1 statuiert Nietzsche in Ecce homo, nachdem er verkündet hat, warum er so weise und so klug ist, und nun zur Erklärung übergeht, warum er so gute Bücher schreibt, um dabei gleich auch eine dekalogische Werkordnung seiner publizierten Bücher aufzustellen. Wohin gehören demnach die weit über fünfzig Notiz- und ebenfalls über fünfzig Arbeitshefte sowie die unzähligen losen Blätter, die Eifer und Zufall erhalten und überliefert haben und die seit über hundert Jahren mit umstrittenen Interessen und in verschiedener >Gestalt< als sogenannter >Nachlaß< herausgegeben werden – Sie gehören ins Dazwischen, also zwischen die Schriften und das Ich, so würde die in jedem Sinn pragmatische Antwort lauten.

Doch wie sieht dieses Dazwischen aus? Mit welchen historischen Bestimmungen, Techniken und Materialien der Produktion und Rezeption ist es erzeugt, bewahrt und beschrieben worden? Und wie läßt es sich unter heutigen Bedingungen erfassen, beschreiben und lesen? – Diesen Fragen nachzugehen, stiftet die Neuausgabe des >späten Nietzsche< im Rahmen der Kritischen Gesamtausgabe (KGW), herausgegeben und bearbeitet von Marie-Luise Haase und Michael Kohlenbach mit ihrem Team, Johannes Neininger, Wolfert von Rahden, Thomas Riebe, René Stockmar und Dirk Setton, guten Grund. Man möge zunächst einen kleinen Augenschein nehmen (die Qualität sowohl der Faksimiles auf CD wie der Transkription in den Bänden ist unvergleichlich besser als die im folgenden dargebotenen Präparate; die Lesbarkeit kann durch Anklicken der hier dargestellten "thumbnails" in einem eigenen Fenster verbessert werden):

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Abb. 1

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Abb. 2

Wer über das Entziffern der gut leserlichen lateinischen Schrift – ganz im Gegensatz zu Nietzsches üblicher deutscher Schreibschrift – hinaus nicht nur den Inhalt und die Bedeutung, sondern das materielle Dokument selbst befragt, wird entdecken, wie voraussetzungsreich dessen Produktion wie Rezeption ist. Im folgenden sollen ausgehend von sachlich-historischen Perspektivierungen der Produktion zunächst die allgemeinen Bedingungen der Edition von Handschriften, dann die besonderen der herkömmlichen Nietzsche-Edition im Vergleich mit der Neuausgabe des späten Nietzsche betrachtet werden; einigen grundsätzlichen Überlegungen zum Status des Nachlasses und zur Zitier- und zur Interpretierbarkeit folgen zuletzt ein paar Kritikpunkte zur Neuausgabe.

Schreiben: sich selbst oder das Werk

Hinter der dominanten >ökonomischen< Funktion der Sammlung und Ausformulierung von Gedanken zum Zweck der Publikation von Texten und Büchern droht die elementarste Funktion solcher Notizhefte leicht vergessen zu gehen: das Schreiben selbst. Bei den Alten gehörte das Schreiben wie das Nachdenken und die körperliche Übung zu den drei Schritten, mittels deren der freie Mann seinen Alltag und sich selbst gestaltete. Wie Michel Foucault erklärt, erfüllten nebst den Briefen die sogenannten "hypomnemata", persönliche >Gedächtnisbücher<, als "écriture de soi" eine "ethopoietische Funktion".

Die hypomnemata waren nicht einfach "Gedächtnisstützen", sondern das "materielle Gedächtnis der gelesenen, gehörten oder gedachten Dinge", das die gefundene und ersonnene "Wahrheit in Ethos" verwandeln sollte. Weder galt es, das "Unsagbare aufzuspüren" oder das "Verborgene zu enthüllen" noch ein ganzes Werk und dessen philosophische Lehrmeinung zu studieren. Das "Disparate" mußte selbst erst einmal im eigenen, das Lesen begleitenden Schreiben wahrgenommen werden, damit es weiter verarbeitet werden konnte. So wurde das Erlebte, Gelesene und Gedachte nicht bloß dem Verstand dargeboten, sondern zum fortgesetzten Gebrauch einverleibt. Entscheidend war nicht, was man sich als Besitz aneignete, sondern wie man es zu seinem Selbst werden ließ. 2

"Ich achte die Leser nicht mehr: wie könnte ich für Leser schreiben?... Aber ich notire mich, für mich." 3 Nietzsche mochte allein von der Altphilologie her diese wie andere antike Selbstpraktiken oder Existenzkünste kennen; doch rücken mit der Fröhlichen Wissenschaft überhaupt all jene Praktiken zunehmend in sein Interesse, die alltäglich den Körper durchwirken und ihn merklich oder unmerklich samt Seele und Geist formen. In dieser Perspektive würde der Zweck der Selbstgestaltung sich nicht vom Schreiben selbst ablösen und der Schreibprozeß selbst im Blick bleiben.

Nietzsches trotzige Abwendung von der Leserschaft könnte jedoch andeuten, daß er nicht unangefochten blieb von den äußeren Zwecken der Ökonomie, des Verdienstes und des Erfolgs (anstelle von Ruhm und Ehre), die der moderne Buchmarkt seit Mitte des 18. Jahrhunderts verbreitete und unter deren Zwang sich der moderne Gelehrte seitdem (bis heute) mit dem protestantisch umgemünzten nulla dies sine linea beeifert. Denn anders als etwa Lichtenberg in seinen Sudelbüchern und Leopardi in seinem Zibaldone di pensieri (Gedanken-Sammelsurium) scheint Nietzsche auf den ersten Blick seinen Notaten unablässig Buchprojekte abgewinnen zu wollen, indem er sie bündelt, laufend Titelblätter und Inhaltsverzeichnisse entwirft, manche nur einmal, manche mehrfach über längere Zeit mit kleineren und größeren Veränderungen, manche, aus denen tatsächlich Bücher werden, manche, die bald oder auch erst nach vielen Umformungen fallen gelassen werden. In dieser Perspektive stünden Nietzsches Notiz- und Arbeitshefte von der Intention her letztlich im Zeichen einer Finalität oder gar Teleologie des Textes, des Buches und des Werks.

Poiesis oder Praxis

In einer dritten Perspektive, die den editorischen Umgang mit Handschriften zum Fluchtpunkt nimmt, scheinen sich die Praktik der >Selbsterschreibung< und die Finalität des Werks zu überschneiden: 4 Die Geburt des Autors aus dem Geist des Genies, der Technik der Buchproduktion und -distribution und aus dem Buchstaben des Rechts ab Mitte des 18. Jahrhunderts weckte auch die psychologische Neugierde an jener Instanz, die nun gottgleich aus sich heraus schöpfte und schuf. Schon die Stürmer und Dränger feierten das unausgesetzte Schaffen, und bald befragte die neue Hermeneutik im Text das Rätsel der Kreativität des menschlichen Schöpfers, um ideale Maßgaben zu gewinnen.

Doch Sinn und Zweck des dichterischen Tuns sollte das ganze 19. Jahrhundert hindurch das vollendete Werk bleiben. Produktion und Rezeption betrachteten dichterisches Schaffen solidarisch als Poiesis, als einen schöpferischen Akt der Hervorbringung, bei dem sich das Produkt vom Produktionsprozeß und vom Produzenten ablöst und, beschirmt von der Souveränität des Autors und genährt von seiner Biographie, eine relative Autonomie erlangt. Die Praxis des Schreibens und ihre materiellen Zeugnisse und Umstände, Manuskripte, Schreibwerkzeuge, Schreibräume, Schreibzeiten, interessierten lediglich im Hinblick auf einen daraus entstehenden abgeschlossenen Text. Sie blieben als Reste zurück, die allenfalls zum besseren Verständnis von Text und Autor verwertet werden konnten.

Erst im zwanzigsten Jahrhundert beginnen Schriftstellerinnen und Schriftsteller vermehrt, die Schreibpraxis selbst zu thematisieren, zu reflektieren und zu kommentieren. Je mehr (wohl in dem Maß, wie die Schriftsteller zu einer eigenen sozialen Kategorie wurden) das Schreiben für sie selbst zur subjektiven Daseinsform wurde, desto weniger konnte das Buch oder Werk sich noch als endgültiges, abgeschlossenes Produkt von jenem Produktionsprozeß ablösen, in dem das Subjekt permanent steckte. Mag für viele Autorinnen und Autoren des zwanzigsten Jahrhunderts das Werk als Ziel und Zweck literarischer Tätigkeit hinter die Beobachtung und die Reflexion des Schreibens und seiner >Begleitumstände< zurücktreten, so bleibt wohl die Mehrheit der Leserinnen und Leser der Gegenwart am marktgängigen Buch orientiert, dessen Wertschätzung allerdings mehr von der generellen Psychologisierbarkeit des Autors als >besonderer Mensch< abhängt. Dazu sind allerdings auch eher die Einblicke in den autobiographischen Hintergrund als in die konkreten Schreibpraktiken von Belang; letztere dienen dem Leser dann allenfalls dazu, identifikatorisches Maß zu nehmen für die eigenen >kreativen Potentiale<.

Teleologie des Textes

Von Lachmann bis heute ist der Großteil der deutschsprachigen Editionsphilologie, wie Klaus Hurlebusch darlegt, der Teleologie des Werks mehr oder weniger treu geblieben; Ziel ihres Wirkens ist die Herstellung eines eindimensional lesbaren Textes. Handschriften haben darin keinen eigenen "Ausdruckswert", sondern nur einen mittelbaren "Indizienwert": 5 Lassen sie sich in eine inhaltliche und zeitliche Beziehung zu einem druckfertigen oder gedruckten Text bringen, werden sie (eventuell neben anderen, weniger relevanten Drucken) im Rückblick auf die >Textgeschichte< und die >Textgenese< als >Textzeugen< als verschiedene >Vorstufen< klassifiziert, von der einsilbigen >Notiz< über die >Skizze<, den >Entwurf<, die >Reinschrift< bis zum >Druckmanuskript<; die >Abweichungen< zum Referenztext werden im >Apparat< mittels >Lemmatisierung< und >diakritischen Zeichen< in kürzeren oder längeren >Varianten< dargestellt. Innerhalb der Handschrift unterscheidet man aufgrund der Korrekturen, Überschreibungen, Streichungen und Einfügungen verschiedene zeitliche >Schichten<. Gibt es keinen gedruckten oder vom Autor zum Druck oder sonstwie bezeichneten Referenztext, so wird aus der letzten Schicht der Handschrift ein >Lesetext< konstruiert.

Man muß sich diese Apparatur wenigstens in ihrer Begrifflichkeit so ungefähr vor Augen führen, um zunächst einige der fundamentalen Voraussetzungen erkennen zu können, auf denen diese Behandlungsart von Handschriften beruht und deren Konsequenzen für die Wahrnehmung, die Lektüre und die Interpretation größtenteils auch dann noch wirksam bleiben, wenn die Voraussetzungen explizit gemacht und die einzelnen Konsequenzen im Kommentar aufgefangen werden. Sodann kann man wenigstens in einigen Punkten ermessen, was die Neuausgabe des fast ausschließlich handschriftlichen >Nachlasses<, der sogenannten >Nachgelassenen Fragmente<, des >späten Nietzsche< aus der Zeit von Frühjahr 1885 bis Anfang 1889 in differenzierter Umschrift mit Faksimiles auf CD leistet.

Die editionsphilologische Voraussetzung der Finalität des Werks oder zumindest des fertigen Textes beruht selbst auf einer Reihe von teils miteinander verketteten oder verknüpften und jeweils mehr oder weniger stark wirksamen normierenden Voraussetzungen: Die Linien und Punkte mit von Hand geführtem Schreibwerkzeug auf dem Trägermaterial sind bedeutungstragende Schriftzeichen und ergeben einen Sinn. Die Schriftzeichen können typographisch in eine lineare Ordnung transkribiert werden, die textuellen Charakter hat, und in kleinere oder größere Einheiten unterteilt beziehungsweise zu solchen zusammengesetzt werden. Die Texteinheiten mit Anfang und Ende lassen sich zueinander und zu einem tatsächlichen oder angenommenen Ganzen in Beziehung setzen. Diese Konstruktion impliziert die Annahme einer bewußten Absicht oder eines unbewußten Willens zur Äußerung und Mitteilung, was seinerseits eine autorhafte Person impliziert. Aufgrund der expliziten oder impliziten Datierung oder dann aufgrund der buchstäblichen oder sinnhaften Nähe oder Ferne eines >Textstückes< zum Ganzen resultiert eine Chronologie. Diese läßt sich in Schichten und Stufen fragmentarischer Texte von der ersten Äußerung bis zum vollendeten Werk darstellen, sei es durch Abdruck der jeweils ganzen neuen Schicht oder Stufe oder durch diakritische Rekonstruktion der Bearbeitungen.

Von den Konsequenzen der dabei implizit getroffenen Unterscheidungen können hier vorerst – aber bereits im Hinblick auf die konkrete Anschauung bei Nietzsche – nur einige angedeutet werden: Die Fokussierung auf die Handschrift vernachlässigt den Träger mit seinen spezifischen Qualitäten und den möglichen Korrespondenzen und Kommunikationen zwischen Hand und Träger. Die Annahme des transkribierbaren Sinns beschränkt die Ausdrucksmöglichkeit des >Verursachers<; gerade die lebendige personale Instanz, der man eine Textabsicht unterstellt, wird ausgeschaltet. Nicht semantisierbare Linien, Punkte, Striche, Kreuze oder sonstige Markierungen, aber auch >kontextlose< Zahlen, Silben, Wörter bis zu Gelegenheitsnotizen von mehreren Wörtern werden aus der Kontiguität herausgelöst und separat mitgeteilt.

In allen möglichen begründenden Unterscheidungen wie Bild / Schrift, Sinn / Unsinn, Leben / Werk kommt auch eine Wertung zum Zug. Schon die Eliminierung von nicht Textualisierbarem, aber vor allem die typologische Klassifizierung von aufeinanderfolgenden Stücken in verschiedene >Textsorten< (Skizze, Entwurf etc.) und die Entscheidung für die Chronologie als Darstellungsmodus der Textgenese lösen den gestalteten Raum des Dokuments in eine Folge von Schritten auf. Hier wird nicht nur die sinnliche Kontiguität, sondern, wenn sich auf engerem Raum textuelle Einheiten verschiedenen Inhalts befinden, auch die Vielfalt möglicher Sinnkorrespondenz zugunsten einer finalistischen Textgenese zerstört.

Der Wille zur Nietzsche-Edition

Wolfram Groddeck und Michael Kohlenbach, beide erfahrene Herausgeber der KGW in der Nachfolge des 1986 verstorbenen Begründers Mazzino Montinari, haben bereits Anfang der neunziger Jahre in ihren "Zwischenüberlegungen zur Edition von Nietzsches Nachlaß" auf die spezifischen Schwierigkeiten aufmerksam gemacht, 6 die solche in der Editionsphilologie eingefleischten Grundannahmen auch in der Nietzsche-Ausgabe gezeitigt haben, und die Möglichkeiten einer "Manuskript-Edition" des späten Nachlasses aufgezeigt. 7 Zusammen mit Giorgio Colli hatte Montinari 1962 die Arbeit an einer "philologisch gesicherten deutschen Vorlage" zunächst für eine italienische (Adelphi) und französische (Gallimard) Nietzsche-Ausgabe aufgenommen; ein deutscher Verleger fand sich, wohl auch wegen der nazistischen Beanspruchung Nietzsches, erst 1965 mit Walter de Gruyter. 8

Grund für die Initiative war die Feststellung, daß die von Nietzsches Schwester Elisabeth Förster Nietzsche betriebenen Fälschungen, die bei der Kompilation eines nachgelassenen, angeblich bloß unvollendeten "philosophischen Hauptprosawerks" mit dem Titel "Der Wille zur Macht" besonders sinnfällig wurden, zwar mehrfach moniert, der Nachlaß aber seither in keiner Ausgabe zuverlässig abgedruckt worden war. Neben den chronologisch und thematisch zu den verschiedenen veröffentlichten Bücher ausgewählten >Fragmenten< aus dem Nachlaß brachte die erste, vom Nietzsche-Archiv 9 unter der ehrgeizigen Fuchtel der Schwester veranstaltete Werkausgabe (Großoktav-Ausgabe) mit unzähligen formalen und inhaltlichen Eingriffen 1901 zunächst 483 und dann 1906 beziehungsweise 1911 schließlich 1067 nachgelassene >Aphorismen< aus der Zeit von 1885 bis 1888 zu besagtem Buch heraus.

Tatsächlich hatte Nietzsche ein solches Werk, meist als >Umwertung aller Werte< mehrbändig mit wechselnden Buchtiteln phasenweise beharrlich projektiert, schließlich aber nicht oder ganz anders realisiert; jedenfalls sah er mit der Götzen-Dämmerung und Der Antichrist die >Umwertung< vollzogen. 10 Auch die Ausgabe von Karl Schlechta, der vielfach die >Aufdeckung< der Fälschungen zugesprochen wurde, druckte im dritten Band unter dem Titel Aus dem Nachlaß der achtziger Jahre dasselbe Material lediglich in einer einigermaßen chronologischen Ordnung ab.

Chronologie der Entstehung

Montinari hatte allen Grund zur "Verpflichtung", den "handschriftlichen Nachlaß Nietzsches in seiner authentischen Gestalt" bekannt machen zu wollen. 11 Nach den damaligen editorischen Kenntnissen und Ansprüchen, nicht zuletzt aber auch nach den technischen Möglichkeiten der Verarbeitung, Darstellung und Reproduktion bemessen, ist eine historisch-kritische Textausgabe zustande gekommen, die man heute noch ohne große wissenschaftliche Bedenken lesen und zitieren kann. Paradoxerweise wurde die enorme persönliche Leistung Montinaris und seiner wenigen, aber langjährigen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, allen voran Marie-Luise Haases, in dem Maß sichtbar wie mit dem Fortschreiten der Kritischen Gesamtausgabe auch die aufgrund von editorischen Vorentscheidungen auftretenden Schwierigkeiten, vor allem für den Nachlaß wuchsen.

Schon das eigentlich >schwache< Kriterium der chronologischen Ordnung konnte sich als problematisch erweisen, weil Nietzsche die Hefte sowohl von vorn nach hinten, aber auch umgekehrt beschrieb und innerhalb des Heftes und zwischen den Heften sprang, ältere Notizen korrigierte und / oder in andere Hefte umformulierend übertrug. Auch die textuellen Einheiten des Gedruckten schienen nicht nach einem einheitlichen Kriterium, sondern einmal thematisch, einmal graphematisch gebildet worden zu sein. 12

In mehrerer Hinsicht geradezu fatal wirkte sich die Unterteilung der nachgelassenen Notizen in >Fragmente< und >Vorstufen< aus. Beide Begriffe unterstellen eine Absicht im Rückblick von einem fertigen Text aus – im ersteren eine nicht verwirklichte, im zweiten eine verwirklichte –, die Nietzsche im Moment des Schreibens genauso gut nicht oder ganz anders gehabt haben kann; zudem werden sie, im selben Hinblick, selbst zu quasifertigen Texten. Kohlenbach und Groddeck machen zu Recht auf die Schwierigkeiten des Textbegriffs aufmerksam und zeigen, daß er eigentlich für jeden editorischen Korpus im jeweiligen Spannungsfeld von veröffentlichten Texten und handschriftlichen Dokumenten individuell zu bestimmen wäre. 13

Während die Fragmente in den Bänden der Nachgelassenen Fragmente gedruckt sind, wurden die Vorstufen aufgrund ihrer thematischen Nähe zu einem später von Nietzsche publizierten Text, zu einem späteren Fragment oder zu einer anderen Vorstufe (mithin als Vorstufe einer Vorstufe!) aus dem räumlichen Zusammenhang ihrer Niederschrift ausgesondert und erst in den Nachberichten zu den einzelnen, nach chronologischen Werkphasen gegliederten Abteilungen (insgesamt acht) veröffentlicht. Als philologische und quellenkritische Apparate mit Manuskriptbeschreibungen, Ergänzungen, Nachträgen, Berichtigungen und Chronik sind sie erst nach jahrelanger Fleißarbeit in dicken Bänden (oder Teilbänden) erschienen, zwei davon, zur vierten (1969) und zur siebten Abteilung (1984 / 1986), noch von Montinari, einer von Marie-Luise Haase und Montinari zum ersten Band der sechsten Abteilung (1991) und einer zur dritten Abteilung von Michael Kohlenbach (1997).

Entgegen der verbreiteten Annahme, daß längst sämtliche Aufzeichnungen des philosophischen Nachlasses aus der Zeit von Ende 1869 bis Anfang 1889 (dritte bis achte Abteilung) zu lesen sind (auch der Kommentarband der Kritischen Studienausgabe [KSA] enthält nur eine Auswahl der Vorstufen), fehlen also immer noch die Vorstufen von Abteilung fünf, sechs (teilweise) und acht, die text- und werkgenetisch wohl nicht weniger aufschlußreich sind als die bekannten Fragmente. Ebenfalls ausgesondert wurden die in manchen Heften zahlreichen Briefentwürfe und -dispositionen und die sogenannten "Gelegenheitsnotizen", 14 die beide in der Kritischen Gesamtausgabe des Briefwechsels (1975ff.) erscheinen sollten, die ersteren in den Nachberichten, letztere in jeweils separaten Bänden der entsprechenden drei Briefabteilungen. Jenseits der editionspraktischen Gründe tragen diese Ausgliederungen eine von den veröffentlichten Schriften und abgeschickten Briefen ausgehende Unterscheidung von Werk einerseits und Leben andererseits in den Nachlaß hinein, welche die materielle Kontiguität mit >philosophischen< Notaten und die möglichen Sinnverbindungen wie Sinngrenzen negiert.

Topologie eines Geschehens

Während die fehlenden Nachberichte zu diesen und den ersten beiden Abteilungen (inklusiv Jugend- und philologische Schriften) noch in der von Montinari geplanten Form herauskommen sollen, haben sich die Herausgeber des späten Nietzsche, Marie-Luise Haase und Michael Kohlenbach, ausgehend von den oben zitierten "Zwischenüberlegungen", dazu entschlossen, anstelle des Nachberichts der achten, die Zeit von Frühjahr 1885 bis 1889 umfassenden Abteilung, den in den KGW-Bänden VII 3 und VIII 1–3 bereits gedruckten Nachlaß – das sind die Notiz-, Arbeitshefte und in Mappen versammelten losen Blätter von Frühjahr 1885 bis Anfang 1889 – in einer neunten Abteilung noch einmal integral herauszugeben: Dem topologischen und topographischen (statt chronologischen) Prinzip folgend wird jede Seite oder Doppelseite originalgroß, leicht eingefärbt auf der unterlegten Buchseite wiedergegeben.

Sämtliche Schriftzeichen, die Schriftverteilung (Ränder, Einzüge, Zeilenabstände etc.), die Schreibrichtung und sonstige graphischen Elemente von Nietzsches und von anderer Hand werden differenziert transkribiert beziehungsweise in (so wenig als möglich) stilisierter Form graphisch dargestellt. Die verschiedenen Schriftarten (deutsch, lateinisch), Schreibmittel (Tinten-, Blei-, Farbstifte) sowie die einzelnen Schreib- und Korrekturvorgänge erscheinen in verschiedenen Schrifttypen, -farben und -größen. Die Fußnotenkolonnen links und rechts verweisen zum einen auf die Druckorte in KGW, zum anderen lemmatisieren sie die problematischen Entzifferungen. Was da im Druckbild ausgebreitet wird, kann auf den Faksimiles, welche die mitgelieferte CD enthält, Punkt für Punkt nachvollzogen werden (sofern es der Blickweg erlaubt: mehr dazu weiter unten). Ebenfalls auf der CD findet sich ein provisorischer Nachbericht mit Manuskriptbeschreibungen, textuellen Querverweisen, Erläuterungen (Quellen), Konkordanz früherer Druckorte, Namensindex. Die Datierung folgt noch den Angaben Montinaris, eine ausführliche Entstehungschronologie wird erst nach der Transkription aller Hefte der abschließend gedruckte Nachbericht bieten können.

Die editorischen Paratexte erläutern all das und weiteres detailliert, aber knapp und klar. Haase und Kohlenbach, die im Unterschied zu vielen solchen Unternehmen selbst vollberuflich an der Edition arbeiten, warnen vor übertriebenen Authentizitätserwartungen an die Transkription, weil Nietzsches Handschrift insbesondere der späten Jahre im umfassendsten Sinn stark situativ geprägt ist und ihre Gestalt entsprechend stark variiert:

So sind Zeichen für Flüchtigkeit oder Insistenz, Binnen- und Endverschleifungen, private Abkürzungen und Kürzel, Sonder- und Privatzeichen zwar in Nietzsches Manuskripten, nicht aber im Setzkasten für den Buchdruck vorhanden. Sie erschweren der Transkription, Befund, Deutung und Darstellung in Einklang zu bringen. Die Forderung nach der authentischen Umschrift klingt wie ein unerfüllbarer Imperativ, wenn, auch nach Jahren der Entzifferungspraxis, kein schlüssiges Kriterium dafür gefunden werden kann, ob ein graphematisch keinesfalls korrumpierter Schriftzug nun durch >unseren<, >unsern< oder >unsren< wiedergegeben werden soll. Es ließen sich gewichtigere Beispiele zuhauf nennen. (KGW IX 1, S. XVf.)

Wer hier allenfalls noch ein verhaltenes Leistungspathos heraushören will, das doch auch diesem nüchternen und daher undankbaren Genre oft nicht fehlt, dem wird der erste Augenschein schon allein der Transkription die Ohren umstimmen. Hält man dann erst die Faksimiles daneben und erkennt, wie – bekanntermaßen – schwierig die Handschrift zu entziffern ist und welche technischen Probleme die Gestaltung der Seite aufgibt, vergeht einem erst einmal auch das Sehen.

Man entkommt diesem Schwinden der Sinne rasch, indem man zu den vertrauten Drucktexten greift und jeweils einen Blick in die danebenliegende Transkription und auf die Faksimiles wirft, um mal zu sehen, >wie es eigentlich ist<. Ob man es dabei beläßt oder ob man zur differenzierten Transkription zurückfindet, sie zu lesen lernt, um dann den Schritt zur Handschrift zu vollziehen, ist gewiß eine Frage der Muße, aber auch der ideologischen Vorentscheidung, die tief in unsere Lese- und Interpretationskultur hineingreift.

Wo weiterhin unendliche Interpretationen von Nietzsches Nachlaß abgeschöpft werden sollen, wird man bei den Lesetexten der Nachgelassenen Fragmente bleiben; denn jede Interpretation setzt einen zitierbaren Text voraus, den sie in Anführungszeichen setzt, um zu sagen, >was er eigentlich sagt<. Die handschriftlichen Dokumente – und nicht einfach Hand-Schriften, weshalb die Herausgeber das Ergebnis ihrer Arbeit eine "Dokumentation" nennen (S. XII) –, als die der Nachlaß nun vorliegt, sind jedoch, bevor sie gelesen werden können, ein Geschehen, das gesehen und beschrieben werden muß. Die Konstitution von lesbarer Bedeutung bleibt in dieses Geschehen involviert, ohne daß je ein Sinn davon abgelöst, fixiert und interpretiert werden könnte. Jede Genese von Text steht, ob auf seiten der Produktion oder der Rezeption, im Dienst der Herstellung von Zitierbarkeit.

Die Macht des Zitats

Diese Grundkonstellation findet sich in jedem Umgang mit einem für kulturrelevant gehaltenen Dokumentenkorpus eines Autors jeweils eigentümlich verdoppelt. Im Fall Nietzsches führte die Behandlung des Nachlasses durch das Nietzsche-Archiv unter anderem dazu, daß Martin Heidegger, wie metaphysisch oder metaphorisch auch immer, meinen mochte: "Was Nietzsche Zeit seines Schaffens veröffentlicht hat, ist immer Vordergrund [...], die eigentliche Philosophie bleibt als >Nachlaß< zurück". 15 Auf diese Weise wird den im Druck erschienenen Texten ein Grund untergeschoben, der – in einem unendlichen Kreislauf – nur durch die Verwandlung in zitierbaren Text interpretierbar und nur durch die (vorausgeschickte) Interpretation zitierbar wird, weil nämlich das Eigentliche (die handschriftlichen Dokumente) nicht veröffentlicht werden kann.

Diese Haltung war schon die Voraussetzung der Kompilation des "Willens zur Macht", aber sie war und ist auch die Voraussetzung der unendlich betriebenen Aufdeckung des >Machwerks< mit Blick auf eine >authentische Gestalt<, die sich nie zeigen wird. Von daher erstaunt es nicht, daß für die von Karl Pestalozzi vertretene Oberherausgeberschaft die Neukonzeption einmal mehr "vor allem deshalb gerechtfertigt" sei, weil dadurch das "verhängnisvolle, dennoch bis heute immer wieder aufgelegte Machwerk >Der Wille zur Macht< ein für allemal als solches erkennbar und durchschaubar gemacht werden konnte" ("Vorwort", S. VI). Aus der >hohen< Sicht der Interpretation war dies, je nach Absicht, ehedem klar oder unklar: Entweder man zitierte und interpretierte den "Willen zur Macht" in der Absicht, seinen vermeintlichen Inhalt zu affirmieren, oder man zitierte ihn in kritischer Absicht, um die kompilierte Form zu negieren und auch gleich den Inhalt zu ignorieren. Die Frage, ob und was das Skandalon des "Willens zur Macht" mit dem möglichen Inhalt zu tun hat, mußte (mit Ausnahmen) 16 gar nicht gestellt werden, weil der eigentliche Text immer noch nicht herausgegeben war – und als Text auch nie herauskommen würde.

Mit all dem würde die durch diese Ausgabe gebotene Möglichkeit, den "editorischen Zirkel" zu schließen, 17 in der Tat Schluß machen. Ein Blick zurück auf die ersten zwei Abbildungen: Die Manuskriptseite, der nicht zuletzt deswegen besondere Bedeutung zukommen kann, weil darauf die Formel "Der Wille zur Macht" vermutlich erstmals als Buchprojekt in Form einer Titelseite erscheint, findet sich in der KGW oder KSA – nicht anders als das in anderen historisch-kritischen Ausgaben bei solchen Befunden geschah und geschieht – auf drei Druckorte verteilt: Die Titelseite, neben anderen Notaten mit violetter Tinte und wie die ganze Seite in lateinischer (also problemlos lesbarer) Schrift, eröffnet als Fragment 39 [1] 18 eine neue Fragmentgruppe; sie steht auf der letzten Seite des Notizheftes, mit der Nietzsche, so die Vermutung hinter der Druckordnung, auch das Heft, wie öfter von hinten beginnend, eröffnet hat. Weitere Notate dieser Seite, nämlich die ersten vier Zeilen, sind als Fragment 39 [21] abgedruckt; der Nachbericht schlüsselt sie als bibliographische Angaben auf. 19 Der Rest steht schließlich in einer Fußnote der Manuskriptbeschreibung des Nachberichts. 20 Auch wenn letztlich die Seite über den Nachbericht rekonstruiert werden kann, ist die chronologische – oder wie auch immer sonst noch interpretatorisch gestützte – Rangordnung unübersehbar.

In Zukunft aber wird man die erste Titelseite von "Der Wille zur Macht" nicht mehr ohne die "Zahnbürste: Backhaus", die sie durchquert, betrachten können. Wo Zitierbarkeit und Interpretierbarkeit noch ununterschieden sind, müssen sie bei jedem diskursivierenden Schritt – im Hinblick auf diese oder jene, syntagmatische oder paradigmatische Genese von Aufzeichnungen ebenso wie angesichts der Materialität, Singularität, Kontingenz und Pragmatik einer Notiz – erst unterschieden werden.

Praktische Proben

Doch auch ganz abgesehen von solchen >fundamentalen< oder >radikalen< Erwägungen macht die differenzierte Transkription >Text< >lesbar<, wie das die herkömmliche Instrumentierung mit diakritischen Zeichen mit aller guten Absicht nicht vermocht hätte, auch nicht in jenem Sinn der >Lesbarkeit<, wie sie die Textfinalität eigentlich vorschriebe, und schon gar nicht als Raum-Zeit eines sich gestaltenden Geschehens.

Es genügen ein paar Blicke auf die Seite 75 des Notizheftes N VII 1 (Abb. 3), das in die Überschneidung mit dem noch von Montinari besorgten Nachbericht fällt, sowie die differenzierte Transkription (Abb. 4) 21 zum einen und das gedruckte Fragment 34 [176] 22 sowie die dazugehörige Apparatierung im Nachbericht 23 zum anderen, damit auch die praktischen Grenzen finalistisch-textgenetischer Edition sichtbar werden: angefangen bei der graphischen Geste mit der radikalsten Semantik, der häufigen Durchstreichung von Abschnitten oder ganzen Seiten, die im Apparat zwar vermerkt wird, aber von der (freilich nötigen) Erläuterung des Grundes oder Zwecks – sie erfolgte zumeist nach der >Umarbeitung< in einem späteren Heft – gleichsam wieder durchgestrichen wird; bis zur Darstellung der – vielleicht typischen – "Verdeutlichungskorrekturen" (Vk). Sichtbar wird aber auch, gerade in diesem Rückblick durch die neue Folie, der enorme Anspruch und die enorme Leistung Montinaris.

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Abb. 3

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Abb. 4

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Abb. 5

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Abb. 6

Wie sehr die Edition immer schon in die Geschäfte der akademischen Deutungsmacht verstrickt ist, zeigen nicht zuletzt die Polemiken, die in den letzten Jahren immer wieder um jene Ausgaben entbrannt sind, die mit Faksimiles ausgestattet sind und sich auf die dokumentarischen und buchstäblichen Belange der Philologie konzentrieren. Von jenen, die immer schon wissen, was Autor XY geschrieben haben wird, auch wenn dieser es selbst noch nicht wußte, hat die Neuausgabe keinen Zuspruch und die Nietzsche-Forschung keine neue Erkenntnis zu erwarten. Doch die besagten Ausgaben (Hölderlin, Kleist, Keller, Kafka), 24 die Entdeckung und Erschließung von Robert Walsers "Bleistiftgebiet", 25 die zunehmende Wahrnehmung der französischen critique génétique 26 sowie Forschungsprojekte zum Schreiben 27 zeugen von einem erwachenden Interesse für die Schreibprozesse auch dies- und jenseits der semantischen Finalität von Schrift, Text, Buch und Werk.

Zu Nietzsches Schreibmaterialen, die er auch mehrfach, mitunter pointiert, kommentierte, thematisierte und reflektierte, und zu den Konsequenzen für seine Rhetorik, Poetik und Philosophie gibt es erst ein paar Ansätze, 28 vor allem im Zusammenhang mit seinem Schreibmaschinen-Experiment, dessen Dokumente nun auch erstmals vollständig in einer separaten Edition vorliegen. 29 Die Neuausgabe aber öffnet das Feld der Erforschung von Schreibmaterialien, Schreibraum, Schreibzeit, Schreibfrequenz, Schreibbewegung (Fluß, Intensität), Schriftart, Schriftqualität, Korrektur-, Überarbeitungsart, -zeit und -intensität etc.

Auf solchen Wegen wird man vielleicht noch einmal andere Nietzsches als jene Reihe von immer schon zitierten >Der Philosoph der / des... (Wiederkunft, Willens zur Macht, Sprache, Lebens etc.)< kennen lernen können. Nietzsche selbst befürchtete, wie er im Notizheft N VII 1, S. 82, vermutlich zwischen April und Juni 1885 notierte (Abb. 7 und 8), daß seine "Philosophie" – das heißt die Philosophie von jemanden, der "so viel mit sich allein war, wie ich", die "nicht mehr mittheilbar ist", weil sie "zuletzt jedem Begriff u jedem Worte einen eigenen engeren Geruch" gibt –, "wenn sie selbst mit einer Löwenklaue geschrieben wäre, doch zuletzt wie eine Philosophie der >Gänsefüßchen< aussehen" "würde".

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Abb. 7

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Abb. 8

Just dieses Notat hat bislang noch keinen Druckort gefunden, 30 während der zweite Teil der Seite als Fragment 34 [165] 31 zu lesen ist - allem Anschein nach der Entwurf eines Buchtitels, der gleichsam die Gegenbewegung zum vorangehenden Rückzugsgedanken vollzieht und den fehlenden Vordersatz zur obigen Hypothese liefert (>meine Philosophie wäre eine Philosophie der Gänsefüßchen, würde ich nicht solche Bücher wie dieses veröffentlichen<). In gewissem Sinn hat sich Nietzsches Befürchtung allein schon dadurch bewahrheitet, daß sein Nachlaß überhaupt veröffentlicht worden ist: Ob als Löwenklaue oder als Lammpfote interpretiert, so könnte der Umkehrschluß vom Fehlen dieses Notats auf den ganzen Nachlaß lauten, ist bis dato eigentlich der gesamte Nachlaß in Anführungszeichen erschienen.

Bleibende Unruhe

Man möchte fast meinen, in Nietzsches autobiographischem Dekret: "Das Eine bin ich, das Andre sind meine Schriften" stecke auch ein Bewußtsein für das Prekäre jenes Materials, das weder zum einen noch zum anderen zu schlagen ist. Während sich das Ich und die Schriften, Leben und Werk, von einander abgrenzen, indem sie sich wechselweise umrahmen, und sich auf diese Weise gegenseitig erfüllen und begrenzen, bewegt sich der Nachlaß in einem unbestimmten Gebiet zwischen Schrift und Ich, zwischen Leben und Werk, letztlich auch zwischen Leben und Tod. Was sich im Leben nie vom Autor losgelöst hat, bleibt auch unauflösbar an den Toten gebunden; es bleibt belebt, jedoch von einem Leben, das nicht >existenzfähig< war und ist. Der Nachlaß wäre das nur allzu materielle Gespenst, halblebendig oder untot, welches das Werk und die Existenz samt ihrer Interpreten verfolgt. Das ist beunruhigend – und davon zeugt gerade die Geschichte von Nietzsches Nachlaß –, aber diese Unruhe, kennt keinen anderen Umgang, als ihr Raum zu geben.

Diesen Zwischen-Raum von Leben und Werk von den fundamentalen bis zu den eingangs aufgeworfenen praktischen Fragestellungen neu zu erkunden und zu bedenken, bietet gerade diese erste Lieferung (von sieben geplanten) des späten Nietzsche besondere Gelegenheit, da es sich um die Notizhefte oder -bücher im eigentlichen Sinn handelt, die Nietzsche – im Unterschied zu den Arbeitsheften, in denen er dann das Aufgezeichnete, mitunter auch diktierend, sortierte und kombinierte, umschrieb und weiterentwickelte – stets bei sich trug und in allen Lebenslagen benutzte. Erst aufgrund der topologischen Über- und Zusammensicht kann man sich der Dramatik des In-, Neben- und Gegeneinander von Leben und Schrift im Schreiben nähern.

So etwa, wenn im Heft N VII 3, das Nietzsche zwischen Sommer 1886 und Herbst 1887 in Gebrauch hatte, zwischen erkenntniskritischen Überlegungen und Gedanken über die Verdüsterung der starken Geister, unvermittelt eine ohnehin erschütternde Zwischenbilanz zur "Antinomie meiner Existenz" ausgerechnet auf dem Kopf stehend erscheint. 32 Oder wenn im letzten Notizheft, einem kleineren Duodezformat aus der Turiner Zeit im Herbst 1888, das mit abreißenden Abschnitten und Sätzen in verschiedenen Richtungen, nicht sehr dicht, aber zum Teil schwer leserlich beschrieben ist, das Selbstverhältnis des Subjekts, welches die Notizbücher verkörpern, mit der lakonischen Selbstreferenz des Notizbuchs in einer Selbstanweisung zusammenfällt:

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Abb. 9 33

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Abb. 10


Kritikpunkte

Die Neuausgabe des Nachlasses des späten Nietzsche ist insgesamt – gerade auch im Vergleich mit den genannten neueren Faksimilie-Editionen anderer Autoren – das sichtbare Argument, daß es keinen generellen editorischen Umgang mit handschriftlichen Dokumenten gibt, sondern nur individuelle Lösungen aufgrund einer möglichst voraussetzungslosen, sorgfältig reflektierten dokumentarischen Auslegeordnung. 34

Gleichwohl gibt es natürlich kritische Punkte zu vermerken: Konzeptionell problematisch, wenn auch unvermeidlich, erscheint die Übernahme einer archivalischen Ordnung der Hefte, wie sie Hans Joachim Mette im "Sachlichen Vorbericht" der 1933 begonnenen, aber bald abgebrochenen Historisch-kritischen Gesamtausgabe zugrunde gelegt hat. Wenn es ebenso unvermeidlich ist, daß sich in der Unterteilung in >eigentliche< Notizhefte und Arbeitshefte unterschiedliche Kriterien vermischen, so sollte doch die Entscheidung, die Neuausgabe nun mit den vier Notizheften, die sich über dreieinhalb Jahre verteilen, beginnen zu lassen, zumindest explizit mitgeteilt und so weit reflektiert werden, wie daß ohne abschließenden Nachbericht möglich ist.

Erheblicher sind die Einwände gegen die verlegerische Realisation: Zunächst die Verbannung der Faksimiles auf die CD, so daß die Schließung des editorischen Zirkels mittels eines Blicksprungs zwischen Heft und Bildschirm bewältigt werden muß (aber eigentlich nicht kann). Sodann der Umstand, daß die einzelnen Hefte nicht auch in der äußeren Gestalt als Hefte vorliegen, sondern (zwar mit Einfärbung im Format der Originalseitengröße) in normierten Bänden, im Fall von N VII 3 und 4 sogar in einem Band abgedruckt sind. Konzeptionell konsequent – und erst recht bei dem Preis, den die drei Bände kosten – wäre allein eine doppelte Ausführung jedes Heftes im Originalformat, einmal mit den Faksimiles, einmal mit der Transkription gewesen. Angesichts des enormen Einsatzes an Intelligenz, Fertigkeit und Technik, den das Arbeitsteam geleistet hat, ist es einfach nicht zu glauben, daß so etwas, selbst mit bibliothekstauglicher Aufbewahrung in geeigneten Schubern, nicht realisierbar sein soll.

Abgesehen davon ist es sehr gut vorstellbar, daß eine Heft-Edition neben Bibliophilen auch für Lesende, Forschende und Schaffende aus anderen Disziplinen, etwa Kunstwissenschaft, Geschichte, Medienwissenschaft, Grafik und bildende Kunst überhaupt, attraktiv gewesen wäre (so viel nebenbei zum zu erwartenden Argument gegen solche Ausgaben überhaupt, sie seien nur für Philologen). Freundlicherweise dürfte auch der nur elektronisch verfügbare provisorische Kommentar bei der nächsten Lieferung in geeigneter >Wegwerfform< mitgegeben werden. Daß eine begleitende CD durch papierene Faksimiles keineswegs überflüssig würde, sondern durch Kopplung von Handschrift und Transkription mit entsprechenden Such-, Markier- und Sammelmöglichkeiten ein nützliches Arbeitsinstrument an die Hand gäbe, zeigt die neue Keller-Edition. Wenn der Oberherausgeber von "langwierigen Diskussionen" spricht und das Resultat als "befriedigende Lösung" präsentiert (S. VI), so mag man heraushören, daß dies nicht die "Lösung" der tatsächlich Arbeitenden war.


Dr. Hubert Thüring
Universität Basel
Deutsches Seminar
Engelhof, Nadelberg 4
CH-4051 Basel

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Anmerkungen

1 Friedrich Nietzsche: Ecce homo. Wie man wird, was man ist (1889 / 1908) Warum ich so gute Bücher schreibe 1. In: F. N.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe (KSA). 15 Bde. Herausgegeben von Giorgio Colli / Mazzino Montinari. München ua.a.: Deutscher Taschenbuchverlag / Walter de Gruyter 1980, Bd. 6, S. 255–374, S. 298.   zurück

2 Michel Foucault: L'écriture de soi. (1983) In: M. F.: Dits et écrits 1954–1988 (vier Bände). Edition établie sous la direction de Daniel Defert et François Ewald avec la collaboration de Jacques Lagrange. Paris: Gallimard 1994, Bd. IV, S. 415–430, S. 415–423.   zurück

3 Nachgelassene Fragmente, Herbst 1887 bis März 1888, KSA 12, S. 450: 9 [188].   zurück

4 Im folgenden beziehe ich mich verschiedentlich bereits implizit, weiter unten dann explizit auf die historisch-systematische Studie von Klaus Hurlebusch: Den Autor besser verstehen: aus seiner Arbeitsweise. Prologomenon zu einer Hermeneutik textgenetischen Schreibens. In: Hans Zeller / Gunter Martens (Hg.): Textgenetische Edition (Beihefte zu editio 10) Tübingen: Niemeyer 1998, S. 7–51, der sich kritisch mit der traditionellen, an der werkteleologischen "Textgenese des Lesers" orientierten Editionsphilologie auseinandersetzt und ausgehend von der französischen >critique génétique< die Möglichkeiten einer am Schreibprozeß orientierten "Textgenese des Autors" entwickelt.   zurück

5 Klaus Hurlebusch (Anm. 4), S. 22.   zurück

6 Wolfram Groddeck: >Vorstufe< und >Fragment<. Zur Problematik einer traditionellen textkritischen Unterscheidung in der Nietzsche-Philologie. In: Martin Stern (Hg.): Textkonstitution bei mündlicher und bei schriftlicher Überlieferung. Basler Editoren-Kolloquium 19.–22. März 1990, autor- und werkbezogene Referate. Tübingen: Niemeyer 1991, S. 165–175.   zurück

7 Michael Kohlenbach / Wolfram Groddeck: Zwischenüberlegungen zur Edition von Nietzsches Nachlaß. In: Text. Kritische Beiträge 1 (1995), S. 21–39, S. 35.   zurück

8 Mazzino Montinari: Die neue kritische Gesamtausgabe von Nietzsches Werke. (1980) In: M. M.: Nietzsche lesen. Berlin u.a.: de Gruyter 1982, S. 10–21, S. 20; vgl. auch KSA 14 (Kommentar zu den Bänden 1–13), S. 7–17.   zurück

9 Vgl. David Marc Hoffmann: Zur Geschichte des Nietzsche-Archivs. Elisabeth Förster-Nietzsche / Fritz Koegel / Gustav Naumann / Josef Hofmiller. Chronik, Studien, Dokumente (Supplementa Nietzscheana 2) Berlin u.a.: Walter de Gruyter 1991 .   zurück

10 Vgl. Mazzino Montinari: Nietzsches Nachlaß von 1885 bis 1888 oder Textkritik und Wille zur Macht. In: M. M. (Anm. 8), S. 92–119.   zurück

11 Mazzino Montinari (Anm. 10), S. 118.   zurück

12 Vgl. Michal Kohlenbach / Wolfram Groddeck (Anm. 7), S. 29.   zurück

13 Vgl. Michal Kohlenbach / Wolfram Groddeck (Anm. 7), S. 34.   zurück

14 Mazzino Montinari: Nietzsches Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe. In: Nietzsche-Studien 4 (1975), S. 374–431, S. 377.   zurück

15 Martin Heidegger: Nietzsche. Zwei Bände. Pfullingen: Günther Neske Verlag 1961, Bd. I, S. 17.   zurück

16 Vgl. Wolfgang Müller-Lauter: Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht. In: Nietzsche-Studien 3 (1974), S. 1–60.   zurück

17 Klaus Hurlebusch (Anm. 4), S. 48f.   zurück

18 Nachgelassene Fragmente, August bis September 1885, KSA 11, S. 618.   zurück

19 KGW VII 4 / 2, S. 484.   zurück

20 KGW VII 4 / 2, S. 641, Anm. 195 (irrtümlich mit Anm. 196 vertauscht).   zurück

21 KGW IX 1.   zurück

22 Nachgelassene Fragmente, April bis Juni 1885, KSA 11, S. 478–480.   zurück

23 KGW VII 4 / 2, S. 358.   zurück

24 Hauptsächliches Medium der Debatten wie der Forschungen ist die Zeitschrift Text. Kritische Beiträge.   zurück

25 Vgl. Bernhard Echte: "Ich verdanke dem Bleistiftsystem wahre Qualen". Zur Edition von Robert Walsers Mikrogrammen. In: Text. Kritische Beiträge 3 (1997): Entzifferung 1   zurück

26 Vgl. insbes. die Zeitschrift Genesis und die Arbeit von Almuth Grésillon, Louis Hay und Jean-Louis Lebrave.   zurück

27 Vgl. das mit der Förderungsprofessur des Schweizerischen Nationalfonds von Martin Stingelin verbundene Projekt "Schreiben", das am Deutschen Seminar der Universität Basel angesiedelt ist; das jüngst in diesem Rahmen abgehaltene erste von drei im Jahresrhythmus geplanten Symposien, >Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum<. Schreiben von der frühen Neuzeit bis 1850 (die beiden weiteren sollen chronologisch daran anschließen) vom 10.–12. April 2003 in Basel, soll im Wilhelm Fink Verlag dokumentiert werden.   zurück

28 Vgl. Martin Stingelin: Nietzsches Wortspiel als Reflexion auf poet(olog)ische Verfahren. In: Nietzsche-Studien 17 (1988), S. 336–349, und M. S.: "UNSER SCHREIBZEUG ARBEITET MIT AN UNSEREN GEDANKEN". Die poetologische Reflexion der Schreibwerkzeuge bei Georg Christoph Lichtenberg und Friedrich Nietzsche. In: Lichtenberg-Jahrbuch 1999, S. 81–98.   zurück

29 Vgl. Friedrich Nietzsche: Schreibmaschinentexte. Vollständige Edition, Faksimiles und kritischer Kommentar. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Stephan Günzel und Rüdiger Schmidt-Grépály. Weimar: Bauhaus-Universität Weimar / Universitätsverlag 2002; zu den medientechnischen Bedingungen und poetologischen Konsequenzen von Nietzsches Schreibmaschinen-Schreiben vgl. Friedrich Kittler: Nietzsche, der mechanisierte Philosoph. In: kultuRRevolution 9, S. 25–29, und Martin Stingelin: Kugeläußerungen. Nietzsches Spiel auf der Schreibmaschine. In: Hans Ulrich Gumbrecht / K. Ludwig Pfeiffer (Hg.): Materialität der Kommunikation. Frankfurt / M.: Suhrkamp 1988, S. 326–341.   zurück

30 Es findet sich auch nicht im Nachbericht (KGW VII 4 / 2, S. 428f.) als mögliche Vorstufe zu Fragment 37 [5] (Nachgelassene Fragmente, April bis Juni 1885, KSA 11, S. 579f.), in dem dieses und andere Notate umgearbeitet erscheinen.   zurück

31 Nachgelassene Fragmente, April bis Juni 1885, KSA 11, S. 476.   zurück

32 N VII 3, S. 158, KGW IX 3; vgl. Nachgelassene Fragmente, Sommer 1886 bis Herbst 1887, KSA 12, S. 197f.: 5 [38]: "Die Antinomie meiner Existenz liegt darin, daß alles das, was ich als radikaler Philosoph radicaliter nöthig habe – Freiheit von Beruf, Weib, Kind, Freunden, Gesellschaft, Vaterland, Heimat, Glauben, Freiheit fast von Liebe und Haß – ich als ebenso viel Entbehrungen empfinde, insofern ich glücklicher Weise ein lebendiges Wesen und kein bloßer Abstraktions-Apparat bin. Ich muß hinzufügen, daß mir in jedem Falle die solide Gesundheit fehlt – und daß ich nur in Momenten der Gesundheit die Last jener Entbehrungen weniger hart fühle. Auch weiß ich immer noch nicht die fünf Bedingungen zusammen zu bringen, auf denen eine erträgliche mittlere meiner labilen Gesundheit sich basiren ließe. Trotzdem wäre es ein verhängnißvoller Fehler, wenn ich, um mir die 5 Bedingungen zu schaffen, mich jener 8 Freiheiten beraubte: Das ist eine objektive Ansicht meiner Lage. – / Die Sache complicirt sich, insofern ich außerdem Dichter bin, wie billig, mit den Bedürfnissen aller Dichter: wozu Sympathie, glänzender Haushalt, Ruhm und dergleichen gehören (in Bezug auf welche Bedürfnisse ich für mein Leben keine andere Bezeichnung habe als Hundestall-Existenz). Die Sache complicirt sich noch einmal, insofern ich außerdem Musiker bin: so daß mir eigentlich nichts im Leben – – –"   zurück

33 N VII 4, S. 6, KGW IX 3; vgl. Nachgelassene Fragmente, Herbst 1888, KSA 13, S. 580.   zurück

34 Vgl. Hubert Thüring: Des Vaters Ernst, des Sohnes Literatur. Der neue Büchner-Briefwechsel: eine buchstäbliche Lektüre für eine dokumentarische Anmerkung. In: Text. Kritische Beiträge 3 (1997): Entzifferung 1, S. 143–152.   zurück